Werner Post
Der neue Mensch

1. Alter oder neuer Adam

„Als aber der Herr sah, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und er sprach: Ich will die Menschen, die ich gemacht habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel, denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn.“ (1 Mos 6,5 ff)

Noah, laut Bibel im für Patriarchen-Verhältnisse eher zarten Alter von 600 Jahren, baute dann die allseits bekannte Arche und reüssierte damit zum zweiten Stammvater der Menschheit und der Schöpfung, nachdem dem Weltenschöpfer der erste Anlauf so gründlich missraten war.

Licet Bovi quod licet Iovi. Wenn nun selbst Gott dem Herrn trotz Allmacht der erste Wurf daneben gegangen war und er den alten Adam durch einen neuen zu ersetzen für nötig hielt, so sollten wir es jenen Sterblichen nicht verübeln, die in bescheideneren Versuchen die Idee eines Neuen Menschen wahrzumachen hofften.
Die frühen Christen legen durch Bekenntnis und Taufe den alten Adam ab, der neue Adam bedeutet einen neuen Seinszustand der Erlösung. Paulus ermahnt die Epheser „den alten Menschen, wie er eurem früheren Wesen entsprach, abzulegen…den neuen Menschen anzuziehen, der nach Gott geschaffen ist“ (Eph 3,22 u. 24) und spielt dabei anscheinend einmal auf den römischen homo novus an, versteht ihn aber nicht als Neureichen, sondern theologisch. Der neue Adam hat in der christlichen Literatur seit den Kirchenvätern eine kaum noch überschaubare Karriere gemacht. Als ziemlich folgenreich erwies sich auch die oströmisch-griechische Deutung: der neue Mensch ist hier nicht nur der durch Taufe und Bekenntnis gerechtfertigte, sondern gnadenhafter Teilhaber der göttlichen Natur; diese Θεοσισ meint Vergöttlichung des Menschen, nicht bloß Restauration des paradiesischen Adams, sondern eine neue Verwandlung hin in Gott.- Von gewissen politischen Implikationen der Θεοσισ noch später.

Mit einer gewissen Nonchalance könnte man als Zentrum aller großen Religionen den Glauben an eine Verwandlung des Lebens oder der Welt in einen besseren oder vollkommenen Zustand bestimmen, die Erlösung von allem Übel. Der solchermaßen neue Himmel und die neue Erde reichen vom Paradies bis zum Nirwana, vom Messias bis zum Reich Gottes. Gemeinsam ist ihnen ihre Transzendenz: sie erfüllen sich erst nach dem Tod oder am Ende aller Zeiten und sie verdanken sich dem Wirken übernatürlicher Macht.

Ich möchte mich im weiteren Verlauf aber nicht diesen religiösen oder metaphysischen Perspektiven näher widmen, sondern einigen diesseitigen Projekten des Neuen Menschen. Ganz los werden kann man aber auch bei ihnen religiöse Herkunftsmotive nicht.

Von den zahllosen profanen Projekten beschränke ich mich auf zwei Basis-Modelle: das eine erhofft sich von gesellschaftlichen Veränderungen auch eine qualitative Transformation des menschlichen Subjekts; das zweite Modell figuriert als anthropologische Forschung und hofft, das biologische Mängelwesen Mensch zu optimieren.

2. Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse

Dass die Welt im Argen liege und einer grundlegenden Verbesserung bedürfe, haben wahrscheinlich schon die Sammler und Jäger im Paläolithikum geahnt. Und an die Stelle religiöser Heilsgeschichte rückten in der Folge immer wieder geschichtsphilosophische Spekulationen, Fortschrittsglaube oder Entwürfe zur Erziehung des Menschengeschlechts.

Mit nur geringer Vereinfachung lässt sich so auch die Epoche der Aufklärung in ihrer bisweilen penetranten Schulmeisterei als pädagogisches Projekt der Menschenverbesserung darstellen.

Während sich die Bemühungen in Antike und Mittelalter meist um die Domestizierung der Leidenschaften zentrierten, richtet die frühe Moderne ihre Hoffnungen auf Vernunft und Bildung des Individuums. Vor allem im französischen 18. Jhdt. beginnt aber der Blick sich über jenes Individuum hinaus auszuweiten. Rousseaus zivilisationskritische Ideen gehören dazu, aber auch die gegenläufigen Anfänge der materialistischen „Milieu-Theorie“. Milieu ist das Medium, das einen Körper umgibt: zunächst zoo-biologisch-evolutionär (Lamarck) als Balance von M. extérieur und M. intérieur, dann aber auch als soziokulturelle Umwelt, die das individuelle Bewusstsein nicht nur prägt, sondern sogar determiniert (H. Taine).

Anders als die vulgärmaterialistischen Thesen vom Schlag „der Mensch ist, was er isst“, hat bekanntlich der junge Marx die Sache differenzierter gesehen: „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. (These 6)

Diesem historisch-dialektischen Feinschliff wurden seine selbsternannten Erben kaum gerecht. Wie vielen Köpfen des 19. Jhdts erschien auch Marx die Ära des idealisierten bürgerlichen Subjekts als eine anachronistische Herrschaft; aber dieses bürgerliche Individuum sollte aufgehoben, nicht platt negiert werden.

Auch ging es Marx nicht eigentlich um den Entwurf eines neuen Menschen, sondern um die Herstellung einer gesellschaftlichen Praxis, in der die Individuen ihre Entstellungen, bedingt durch eine lange Geschichte von Unterdrückung und Gewalt, endlich überwinden könnten. Also nichts mit Paradies und neuem Adam; die unvermeidlichen Sinn- und Kontingenzprobleme bleiben als Einschuss des Reichs der Notwendigkeit in die befreite Praxis; ähnlich hat Freud sich gegen die Verweltanschaulichung der Psychoanalyse gewehrt: diese könne neurotisches Elend in normales Elend überführen, nicht aber normales Elend heilen.

Das betrifft auch den neuen Menschen-Typ des (Real-)Sozialismus: es ist der Arbeiter. Er wird zum Idol und mannigfach, oft miserabel, („Prolekult“, „sozialistischer Realismus“) ästhetisiert. Vergessen, dass kapitalistische Lohnarbeit mit Ausbeutung zu tun hat, ein Mangelzustand also, der doch erst überwunden werden soll; Armut ist kein Wert an sich. Die fast religiöse Moralisierung von Arbeit und Mühe bildete ein elementares Versatzstück gerade des frühbürgerlichen Tugendkatalogs. Der „Werktätige“, das sozialistische Arbeiter-Idol darf sich freilich insofern auf den Stammvater Marx berufen, als dieser als Sohn des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts auch dem Produktionsparadigma frönte, der Verengung gesellschaftlicher Praxis auf Produktionsverhältnisse.

3. Revolutionäres

Die russische Revolution von 1917 war freilich nur eine unter etlichen anderen in einer insgesamt revolutionär gestimmten Epoche. Ihre Avantgarden proklamierten besonders ästhetische Konzepte des Neuen Menschen, gerade auch im vor- und nachrevolutionär gärenden Russland. Die Programmatik des „Suprematismus der reinen Empfindung“ verwarf alles Gegenständliche und Subjektive; Kunst-Berühmtheiten wie Malewitsch oder El Lissitzky fanden damit allerdings weniger Gehör bei Lenin, der seine sehr eigenen Ideen vom neuen Menschen bevorzugte, als bei Denkern wie Solowjew oder Berdjajew. Deren neuer Mensch befand sich auf dem Weg zur Gottwerdung der Menschheit, zu einem „Übermenschen“ der auch von Nietzsche, aber mehr noch von der traditionalen ostkirchlichen Mystik der ?????? inspiriert war. - Fortsetzungen bei Alexander Solschenizyn.

Lenins Konzept: Kommunismus = Sowjets + Elektrifizierung, wurde von einem Mitstreiter noch technizistischer übersetzt: „Die Seelen der Arbeiter sollen mit dem Metall und den Maschinen verschmelzen“ (Alexej Gastow). Darin hallt auch der Einfluss des Futurismus nach, dem 1912 in St. Petersburg eine große Ausstellung gewidmet worden war („Kubofuturismus“). Über dessen Neuen Menschen hieß es im „Manifest der futuristischen Bewegung“ u.a.: „Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit“(1); „Wir wollen den Krieg verherrlichen, diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes“ (9). Es fehlt auch nicht an Hoffnungen auf genetische Verbesserungen: als Schöpfer seiner selbst solle der Mensch die zufällige Produktion von Menschen ablösen zugunsten planvoller Auslese wertvolleren Nachwuchses.
Es mischt sich also der großartige Expressionismus der „Menschheitsdämmerung“ mit bisweilen verheerenden Ideen, und ebenso anarchistische wie technokratische Perspektiven verbinden sich zum Bild des neuen kommunistischen Menschen.

Während etwa der frühe Ernst Bloch alldem noch eine expressionistische Utopie abgewinnt, erwächst der marxistisch-leninistischen Orthodoxie ein Problem, das als „subjektiver Faktor“ figuriert. Der „wissenschaftliche Sozialismus“ rühmt sich, das Entwicklungsgesetz von Geschichte und Gesellschaft zu kennen; seinem objektiven Prozess bleiben alle subjektiven Motive und Mucken untergeordnet. Allerdings gelang es nicht dauerhaft, diese Mucken als Reste bürgerlichen Geistes niederzuhalten, vor allem in den Künsten („Formalismus“) funktionierte das einfach nicht.

Aber auch aus Philosophie (Existenzialismus) und Psychoanalyse kam Einspruch. Ich erwähne als einen avancierten Autor, der dieses Problem auf angemessenem Niveau erörtert hat, nur Herbert Marcuse. Er schert sich wenig um realsozialistische Verblödungen, sondern beschreibt Eindimensionalität als Merkmal des westlichen Neuen Menschen: also Anpassung an ideologische Strukturen einer konsumistisch-repressiven Gesellschaft. Sie hat längst die menschliche Psyche formiert („Triebstruktur und Gesellschaft“).

Das verläuft sich nur noch in einer interessante Paradoxie: Man muss einerseits diese Gesellschaft erst so verändern, dass die Individuen sich frei entfalten können; das geht aber nur, wenn zuvor bereits die psychische Struktur der Individuen so befreit ist, dass sie eine gesellschaftliche Veränderung wollen können. Das ist der neue Mensch in seinem Widerspruch.

4. Individualisierungsfallen

Wenn wir heute, 40 Jahre später, von Therapie-Gesellschaft reden, scheint das an jene Zeiten anzuknüpfen. Bei Licht besehen handelt es sich aber eher um das Gegenteil: im Widerstreit von Eros and Civilisation agiert die Therapieszene nun als Integrationsagentur. Nach Durchlauf aller west-östlichen Prozeduren von Gesprächstherapie bis hin zu Ayurveda, Atemtechnik, Wellness und Entspannungsübungen verlässt der anfangs bedrückte Patient am Ende die Kur mit einem so entrückten Lächeln, dass noch der Dalai Lama als Trauerkloß erschiene.

Und man funktioniert wieder, sollte es jedenfalls. – Das hat natürlich eine Vorgeschichte. Spätestens ab 1989 galten ja alle wie auch immer irgendwie marxistisch inspirierten und auf Veränderung zielenden Gesellschaftstheorien als toter Hund. Der neue Neue Mensch sollte positiv denken und kollektive Identitäten zugunsten flexibler individueller Freiheit hinter sich lassen. Er verhält sich kongenial zur neuen ökonomischen Leitkultur, dem Neoliberalismus. Der beschränkt sich keineswegs auf das Wirtschaftshandeln, sondern dringt tief in die psychische Struktur ein, etwa als kalkulierende Zweckmittel-Rationalität.
Aber auch noch weiter. Das neoliberale Individuum kann nicht nur frei sein, sondern muss es. Jeder ist seines Glückes Schmied, jeder seine eigene Ich-AG, organisiert nach Unternehmens-Vorbild. Wer dieses Ideal für bare Münze nimmt und sich abrackert, erfreut sich bester Chancen, mit einem Burnout in der erwähnten Therapieszene zu landen. Das „erschöpfte Selbst“ (Ehrenberg) hat sich in der Individualisierungsfalle verfangen.

Traditionale Gesellschaften erzeugten dank autoritärem Über-Ich und verbindlichem Sinn/Wert im besten Fall individuelle Ich-Stärke, häufiger aber noch entsprechende Neurosen. Gegenwärtige (westlich-liberale) Gesellschaften erzeugen eher (narzisstische) Selbstwertprobleme und ein heilloses Übermaß an Sinn-Angeboten („Ratgeber“).

Nicht, dass der Fortfall traditionaler Autoritäten unbedingt zu bedauern wäre: aber im Radikal-Individualismus schlägt der großartige Freiheits-Impuls der Moderne in Überlastung um, in eine Münchhausiade; und das lässt sich auch erklären: der liberale Freiheitsbegriff operiert mit der Fiktion eines atomistischen Individuums, dem a-sozialen, isolierten Einzelnen - oder dem neuen Menschen nach dem Modell des rationalen Marktteilnehmers und Single-Konsumenten.

5. Natur als Kultur

Man muss nicht erst anthropologische Erkenntnisse bemühen, um vom animal sociale sprechen zu können. Aber die Anthropologie hat zum Thema „Neuer Mensch“ natürlich auch einiges im Repertoire. Ich wähle zwei Momente aus: zunächst ein paar sozialanthropologische Überlegungen; dann Aspekte zur Verbesserung der menschlichen Bio-Natur.

Zum ersten: Anders als in den meisten anderen Sprachen bezeichnet Anthropologie im Deutschen nicht nur Kulturanthropologie / Ethnologie, sondern auch ein Agglomerat aus Philosophie, Soziologie und Psychologie. Zu deren renommierten Vertretern gehörte z.B. Arnold Gehlen, dessen Thesen hier in unserm Zusammenhang interessieren können.

Auch Gehlen konstatiert eine labile Befindlichkeit des neuen Menschen und erklärt das aus zunächst nicht unähnlichen Ursachen. Der Mensch ist als biologisches Mängelwesen von Haus aus auf kulturelle Ordnungen angewiesen (davon gleich noch mehr). In modernen komplexen Gesellschaften gefährdet ihn seine weltoffene Subjektivität, z. B. durch Antriebsüberschuss und Reizüberflutung. Dagegen hilft ein altes Mittel: der Halt durch Institutionen. Die haben eine Entlastungsfunktion, insofern sie uns geregelte Lebensformen zu bilden erlauben, auf dass wir nicht im Chaos einer permanenten Spontaneität von ad-hoc- Entscheidungen ertrinken. Das betrifft auch intellektuelle Organisation: Dauerreflexion ist nicht institutionalisierbar.

Leider hat sich Gehlen schon früh der Tradition einer pessimistischen Anthropologie angeschlossen und die Vorzüge seiner Institutionenlehre so überdehnt, dass für individuelle Freiheit eigentlich kein Platz mehr bleibt und nur noch asketischer Autoritarismus und der starke Staat geeignet erscheinen, um den subjektiven Flausen des Neuen Menschen beizukommen.

6. Der Prothesengott

Seinem verhaltenszoologischen Kollegen Konrad Lorenz widersprach Gehlen übrigens in einem Punkt energisch: er glaubte nicht, dass uns die Graugänse mores lehren könnten und Wölfe eigentlich die besseren Menschen seien: anthropologisch ist der Mensch von Natur aus Kulturwesen. Es gibt dafür auch ein paar gut bekannte handfeste Argumente: biologisch sind wir Tieren im Funktionskreis ihres Handels gnadenlos unterlegen. Wir können nichts besonders gut, dafür aber unspezifisch sehr viel mehr: das ist unsere Weltoffenheit; wir haben unsere Mängel durch kulturelle Organisation und die Erfindung von Werkzeugen zu kompensieren gelernt. Freud hat darob den Menschen zum „Prothesengott“ ernannt.

Soweit sich das auf Maschinen und alle möglichen Hilfsgeräte bezieht, haben wir uns damit ziemlich erfolgreich eingerichtet; und wenn wir z.B. die durchschnittliche Lebenszeit der heutigen Menschen hierzulande mit der vor hundert Jahren vergleichen, braucht man nicht lange über Sinn und Nutzen medizinischen „Werkzeuggebrauchs“ zu räsonieren.

Aber die biomedizinische Menschenverbesserung hat inzwischen freilich auch riskante Möglichkeiten entwickelt; eine breite Diskussion beschäftigt sich seit geraumer Zeit beispielsweise mit dem weiten Feld der Gentechnik, schwankend zwischen Homunculus-Hybriden-Horror und fortschrittsoptimistischen Therapie-Hoffnungen. Anscheinend sind die Grenzen zwischen einer Heilung als Reparatur des natürlichen Organismus und der künstlichen Ergänzung etwa durch Prothetik fließend geworden. Im Hintergrund figuriert dabei das Problem, ob überhaupt oder wie „menschliche Natur“ als normativer Sollzustand zu bestimmen sein soll.
Mit dem Begriff „Selbstoptimierung“ versucht man nun, das Konzept des Heilens mit der Anthropotechnik zu vermitteln; Organisches soll durch Technisches ersetzt bzw. ergänzt werden (Parolympics, Pistorius). Vielleicht sollte uns hellhörig machen, dass offenbar in US-Labors bereits an der Herstellung von Exo-Skeletten gearbeitet wird, Stützstrukturen für Organismen und Soldaten.

7. Selbstoptimierung

Zu Beginn des kommenden Jahres wird uns Google abermals mit einer Neuigkeit überraschen: dem „Google Glass“. Das ist eine Brille, die das menschliche Auge direkt mit dem Internet verbindet. Oben am Rand der Brille befindet sich ein winziger Monitor, der, solange das Auge normal geradeaus blickt, nicht aktiviert wird, wohl aber, wenn das Auge leicht nach oben schaut, durch spezielle Effekte auf das Format eines 25-Zoll-Bildschirms, Text und Bild, gebracht: freier Weg ins WWW.

Solche Perspektiven beflügeln die Phantasie einer neuen Avantgarde: die Transhumanisten. Sie verstehen sich durchaus als Vollender der Aufklärung, Vernunft und Freiheit, und glauben die Hinfälligkeit des Fleisches nun endlich besiegen zu können, zugleich aber universale Freiheit in Kommunikation und Zugriff auf Wissen.
Einige Autoren träumen schon länger davon, den menschlichen Geist restlos auf der Festplatte eines Computers simulieren zu können (M.Minsky, H. Moravec, Ray Kurzweil et al.). Vollendet wäre dieser Traum auch darin, dass die reale Wirklichkeit und die technisch-mediale, virtuelle Welt unterschiedslos ineinander übergehen – und dass die gesellschaftlichen Akteure dies nicht als Zwang empfinden, sondern „ganz viel Spaß“ dabei haben.

Wenn wir uns erinnern, was für einen apokalyptischen Schauder die ersten Fahrten der Eisenbahn vor knapp 200 Jahren auslösten und wie sich solche Apokalyptik bei fast jeder technisch-wissenschaftlichen Revolution wiederholte, dann empfiehlt sich jetzt im Fall des Transhumanismus, nicht gleich wieder in Panik zu geraten. Vor 40 Jahren war KI der letzte Schrei („Expertensysteme“) und löste den typischen Lärm aus zwischen SF und Kulturpessimismus; inzwischen erfreuen wir uns alltäglich der Vorteile der Computerei.

Auf der anderen Seite bleiben allerdings auch den Anthropotechnikern, IT-Enthusiasten und „Nerds“ Desillusionierungen nicht erspart. Eine der besonders viel versprechenden Hoffnungen der Netz-Kommunikation bezog sich auf Demokratisierungs-Effekte: jeder kann mit jedem in einer nichtregulierten Form Kontakt aufnehmen, und das in kürzester Zeit und mit einer ungeheuren Datenmenge in Text und Bild; längst natürlich auch mobil ohne Bindung an den heimischen Desktop mithilfe von Smart-Phone, Tablets, I-Phone usw.

Das einschlägig progressive Zauberwort hieß, z.B. bei den „Piraten“, Transparenz. In der Tat, die gibt es, allerdings in einer unerwarteten Richtung. Zwei Hinweise genügen: NSA und Snowden, und GG Art.2, 10 und 13: die Unverletzlichkeit der Privatsphäre und des Brief-Fernmelde-Geheimnisses. Jene Transparenz verwandelt das arglose soziale Leben und Agieren in ein Panoptikum, wie es sich Controller der Privatwirtschaft und die Freunde des Überwachungsstaates bisher kaum zu erhoffen wagten; Handys und Smart-Phones mutieren nolens volens zu elektronischen Fußfesseln.

Beunruhigend daran sind nicht einmal nur diese technische Möglichkeit, sondern die Naivität der (technisch oft sehr versierten) IT-User, die kaum zu hemmende Expansion der Anbieter und die ziemlich schläfrige politische Auseinandersetzung.
Nein, es droht auch diesmal wohl nicht der Weltuntergang, aber das ganz große Glück des neuen Menschen lässt anscheinend immer noch auf sich warten: kaum ist es ausgerufen, schimmert schon wieder der alte Adam durch.


© imprimatur Januar 2014
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