Horst Hohmann
Mich erbarmt des Volkes

Jedesmal wenn wir in den Nachkriegsjahren nach Frankfurt fuhren und dort den Palmgarten, den Zoo oder den Römerberg besuchten, machte es gewaltigen Eindruck auf mich, dass dort leibhaftige Kaiser gekrönt wurden. Meine Bewunderung für die Stadt am Main war vor allem deshalb so groß, weil sich in meinem kleinen Heimatdorf Kerzell nachweislich nie ein Kaiser oder ein König hatte blicken lassen. Kerzell lag halt schon immer abseits – weit weg von den Zentren der Macht, wo Leibeigene zu Frondiensten eingeteilt und in kurfürstlichen Schlössern zu klassischer Musik getanzt wurde. Weit weg vom Glanz derer, die über das Schicksal ganzer Völker entschieden.

Beiläufig erfuhren wir Kinder später dann im Geschichtsunterricht, dass über den Orthisweg, einer uralten Heeres- und Handelsstraße auf der Höhe oberhalb von Kerzell sehr wohl auch Kaiser vorbei gezogen waren – Karl der Große auf seinem Bekehrungsfeldzug gegen die heidnischen Sachsen und Napoleon mit seinen Truppen auf dem Marsch ins feindliche Russland. Ja, und immer, wenn die Mächtigen an unserem armseligen Dorf vorbeizogen, ließen sie alles mitgehen, was in Kerzell nicht niet- und nagelfest war. Sie schleppten aus den Speichern und Kellern Getreide und Kartoffeln weg, schlachteten Hühner und Schweine der kleinen Hüttner und gossen sich bei der Vergewaltigung der Frauen des Dorfes den für die kältere Jahreszeit destillierten Kräuterschnaps unserer Vorfahren hinter die Binde.

Ich habe oft an dieses kleine unterhalb des Orthisweges gelegene Kerzell denken müssen, wenn ich in Afrika oder Asien auf Reportagereisen unterwegs war und dann zum Beispiel über die Käfigmenschen im chinesischen Kowloon oder über die Kriegs- und Umweltflüchtlinge in Äthiopien, Kenia und Angola schrieb oder wenn ich jetzt hier in Südamerika fast täglich aus allernächster Nähe miterlebe, wie die Mächtigen auf ihre gewohnt kaltschnäuzige Art noch immer vorbeiziehen und plündern – die Kassen der staatlichen Krankenversicherungen, die Kassen ganzer Großgemeinden im unwirtlichen Hinterland Brasiliens, die Kassen von Bau-Genossenschaften mit den Spareinlagen einfacher Arbeiter, die Nahrungsmittel- und Medikamenten-Depots von Hilfsorganisationen. Wenn ich miterlebe, wie sie bündelweise Geld wegstecken, das ihnen nicht gehört: Milliarden von Reais, die für den Bau unterirdischer Zisternen sowie von Bewässerungsanlagen in den Dürregebieten des Nordostens Brasiliens bereit gestellt werden. Unsummen von Steuergeldern, die für die Fertigstellung der seit 26 Jahren (!) im Bau befindlichen Nord-Süd-Eisenbahnlinie eingeplant waren. Wie sie sich ganze Landstriche durch plumpe Fälschung von Besitzurkunden unter den Nagel reißen. Wie sie aus den ärmsten Regionen des Landes Tausende von jungen Menschen ankarren und sie auf ihren Feldern und in ihren Zuckerrohrfabriken unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten lassen.

Jorge Mario Bergoglio, der im März dieses Jahres in Rom zum Papst gewählt wurde, weiß, wovon ich rede. Er weiß wie kaum ein anderer Kirchenmann auf dieser und auch auf der anderen Seite des Atlantiks, was in dem berüchtigten „Todesstreifen“ an der hart umkämpften Front zwischen Arm und Reich abgeht. Er hat als Erzbischof von Buenos Aires den „Schrei des Volkes“ gehört, hat in die von stummer Verzweiflung gezeichneten Gesichter der Elenden reingeschaut, hat die Tränen der alleinerziehenden Mütter gesehen, hat am eigenen Körper erfahren, wie man in den öffentlichen Verkehrsmitteln einer lateinamerikanischen Großstadt fast immer auf maximal 90 Quadratzentimeter Standfläche reduziert wird, und wie man dem lieben Gott dann abends auf den Knien danken muss, wenn man nach einem zehnstündigen Arbeitstag irgendwann um Mitternacht heil und lebendig zu Hause ankommt.

Jorge Mario Bergoglio weiß, wie sich Menschen fühlen, die von zynischen Lokalpolitikern mit Häme und Spott überzogen werden, wenn sie an die Wahlversprechen derselben erinnern, und die ihren Zorn und ihre Empörung runterschlucken müssen, um nicht das Leben und die Gesundheit ihrer Ehepartner und Kinder unnötig aufs Spiel zu setzen.

Eine der bittersten Erfahrungen des Jorge Mario Bergoglio war es vermutlich, dass sich nach 1985 nicht nur ein großer Teil der kirchlichen Hierarchie von den Armen abwandte, sondern dass vor allem auch Lateinamerikas Linkspopulisten, die ja die Solidarität mit den Ausgebeuteten dieses Kontinents auf ihre Banner geschrieben hatten, nur noch leeres Stroh droschen bzw. vielerorts dazu übergegangen waren, sich auf Kosten der Armen zu bereichern und sich beispielsweise auf Kuba schon sehr bald nicht mehr daran störten, wenn sich die Inselbewohner in Ermangelung von Klopapier mit dem billigen philosophischen Standartwerk „Die Gedanken des Fidel Castro“ den Hintern abputzten!

Vierzehn Mal hatte Kardinal Bergoglio vor seiner Wahl zum Papst bei Christina Kirchner, Präsidentin Argentiniens und bekennende Sozialistin, um ein Gespräch im Interesse der Armen seines Heimatlandes nachgesucht. Vergeblich. Christina Kirchner wollte vom „Schrei des Volkes“ nichts wissen – schon gar nicht aus dem Mund des Erzbischofs. Nicht umsonst forderte Jorge Mario Bergoglio in seiner während des Vorkonklaves gehaltenen und später in der Kirchenzeitung von Havana veröffentlichten Rede Kirchenfürsten und Politiker auf, ihre jeweiligen „Bunkerstellungen“ zu verlassen und zurück an den Rand der Gesellschaft zu gehen, um dort endlich wieder ein ehrliches und von Herzen kommendes „Mich erbarmt des Volkes“ über die Lippen zu bringen. Denn schließlich hatte Jesu Auftrag ja nicht gelautet „Schickt die Leute weg!“, sondern „Gebt ihr ihnen zu essen!“

Als Papst Franziskus während seines diesjährigen Brasilienaufenthaltes im Rahmen des Weltjugendtreffens einer Gruppe lateinamerikanischer Bischöfe sagte „Sucht immer die Nähe der Menschen!“ (Niemand hörte ihn sagen: „Macht eure Pfarreien dicht!“), brachte er einmal mehr seine tiefe Überzeugung zum Ausdruck, dass „Seelsorge ein Gesicht haben muss“, d.h. ohne den zeitaufwändigen persönlichen Kontakt des Seelsorgers mit den Gläubigen einer Gemeinde undenkbar ist.

An diesem Grundgesetz kirchlicher Pastoral kann und darf nicht gerüttelt werden. Wer dies dennoch tut und sich dabei auf den Gott der Bibel beruft, lügt und verstößt gegen das zweite der zehn Gebote!

Wenn wir uns natürlich vor Augen führen, dass allein 2012 über 100000 Katholiken in Deutschland die Kirche verlassen haben und sich (ähnlich wie in früheren Zeiten der Kirchengeschichte!) in die innere oder äußere Emigration begaben, weil sie das selbstherrliche Amtsverständnis der „Hohen Geistlichkeit“ unerträglich fanden und darüber hinaus den Eindruck haben mussten, dass man in den Chefetagen des kirchlichen Establishments die „Empfangsgeräte“ ohnehin abgeschaltet hatte (welch ein Affront!), um das ganze „dumme Geschwätz“ und die „wütenden Proteste“ der Laien nicht mehr anhören zu müssen, verschlägt es auch den gemäßigten Optimisten in unseren Reihen erst mal gehörig die Sprache.

Ahnen wir überhaupt, wie weit sich Hierarchie und Kirchenvolk auseinander gelebt haben? Wie viele vorerst noch unüberbrückbar erscheinende Mauern während des Pontifikats der beiden Vorgänger von Papst Franziskus errichtet wurden – mit dem Predigtverbot für Laien? Mit ihrer systematischen Verbannung aus dem Sakramenten-Dienst der Kirche? Mit Bischofsernennungen, die von regelrechter Verachtung für ordentlich gewählte Laiengremien zeugten? Mit der gezielten Einschüchterung von unliebsamen Theologen oder mit Drohungen gegen sonstige Kirchenbediensteten („Sie wollen doch bestimmt nicht auf der Straße landen!“), die sich immer mal wieder mit kritischen Fragen zu Wort melden? Mit einem von Fremdwörtern strotzenden Theologendeutsch, das alle in den „unteren Klassen unserer Glaubensligen“ spielenden Laienchristen vom törichten Versuch abhalten soll, sich an spekulativen Diskussionen über das Ende der Offenbarung zu beteiligen (was gefälligst den zuständigen Autoritäten rund um Joseph Ratzinger, den angeblichen „Mozart der Theologie“, zu überlassen ist)? Mit arroganten und verletzenden Lehrschreiben wie „Dominus Jesus“ sowie mit einem rüden Umgangston in den kurialen und diözesanen Verwaltungszentren, der jeden einfachen Christenmenschen und vor allem die Ärmsten der Armen unter uns derart abschreckt, dass nicht wenige entsetzt fragen, ob sie an einer „Mautstelle des Leibhaftigen“ gelandet sind? Mit Kirchengesetzen, in denen der „Schrei des Volkes“ nicht vorkommt und schon gar nicht der „Amtsmissbrauch“ durch die Autoren dieser Gesetze, wenn sie straffrei die lauten Anklagen und Hilferufe der Entrechteten in den Wind schlagen dürfen?

Ich denke mal, dass uns der argentinische „PApa PAuperum“, dem höfisches Zeremoniell so gründlich zuwider ist, nach all den Beratungen der letzten Wochen vielleicht doch die ein oder andere sehr erfreuliche Personal- und Sach-Entscheidung auf den weihnachtlichen Gabentisch legen wird. Und während Jorge Mario Bergoglio beharrlich und umsichtig an weiteren Reformen fürs Neue Jahr „strickt“, hoffen wir natürlich mit einem kräftigen Schuss Humor und viel Gottvertrauen, dass er bei seinen öffentlichen Audienzen auch künftig immer mal wieder kleine Kinder auf den Papst-Thron steigen lässt, um aller Welt kundzutun, für wen solche „Heiligen Stühle“ in erster Linie bestimmt sind.


© imprimatur Januar 2014
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