Norbert Scholl
Erzbischof Müller, der Wille Gottes und die wiederverheirateten Geschiedenen

Der derzeitige, von Benedikt XVI. kurz vor seinem Amtsverzicht berufene, von Papst Franziskus in seinem Amt noch nicht endgültig bestätigte Leiter der Römischen Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, sieht keine Möglichkeit, geschiedene Katholiken nach erneuter Heirat zur Kommunion zuzulassen. Weil es sich dabei um eine „göttliche Norm" handle, könne die Kirche darüber nicht verfügen. Müller scheint sehr genau über den Willen Gottes Bescheid zu wissen. Denn die Praxis der Orthodoxen Kirchen, Zweit- und Drittehen unter ihren Mitgliedern zuzulassen und zu segnen, ist „mit dem Willen Gottes nicht zu vereinbaren". Auch eine Berufung auf die „göttliche Barmherzigkeit“ ist unzulässig. Wenn der Erzbischof sich etwas genauer im Neuen Testament und in der Kirchengeschichte informiert hätte, würde er vielleicht mit seinem Verdikt etwas vorsichtiger sein mit seiner kategorischen Ablehnung und der Berufung auf den Willen Gottes.

Denn nach dem Zeugnis einiger Kirchenväter wurde in einzelnen Situationen die Wiederheirat geduldet, wenn auch zögernd und nach Ableistung einer öffentlichen Buße. Ein anschauliches Zeugnis dieser Praxis gibt Origenes († 254): „Schon haben auch einige Vorsteher der Kirche gegen das, was geschrieben steht, gestattet, dass eine Frau zu Lebzeiten des Mannes heiraten kann. Sie handeln damit gegen das Wort der Schrift (1 Kor 7,39 und Röm 7,3 werden angeführt, N.S.), freilich nicht gänzlich unvernünftig. Man darf nämlich annehmen, dass sie dieses Vorgehen im Widerspruch zu dem von Anfang an Gesetzten und Geschriebenen zur Vermeidung von Schlimmerem zugestanden haben.“[1] Das Konzil von Trient (1545-1563) begründet die Unauflöslichkeit der Ehe in einer auffällig weitschweifigen Formulierung: „Wer sagt, die Kirche irre, wenn sie lehrte und lehrt, gemäß der Lehre des Evangeliums und der Apostel [beachte: nicht Jesu! N.S.] (vgl. Mt 5,32; 19,9; Mk 10,11f.; Lk 16,18; 1 Kor 7,11) könne das Band der Ehe wegen Ehebruchs eines der beiden Gatten nicht aufgelöst werden, und keiner von beiden, nicht einmal der Unschuldige, der keinen Anlass zum Ehebruch gegeben hat, könne, solange der andere Gatte lebt, eine andere Ehe schließen, und derjenige, der eine Ehebrecherin entlässt und eine andere heiratet, und diejenige, die einen Ehebrecher entlässt und einen anderen heiratet, begingen Ehebruch: der sei mit dem Anathem belegt.“[2] In der neueren dogmengeschichtlichen Forschung wird daher die Ansicht vertreten: „Man kann nicht behaupten, dass das Konzil von Trient die Absicht gehabt habe, die Unauflöslichkeit der Ehe feierlich als Glaubenssatz zu definieren.“[3] Auch Pius XI. bezeichnete 1930 die Lehre von Trient über die Ehescheidung zwar als „sicher“, nicht aber als „unfehlbar“ oder „endgültig“.[4]

Im Matthäusevangelium gibt es ein Jesuswort, wonach der Mann seine Frau durchaus verlassen kann - im Fall von „Unzucht“ (Mt 5,32; 19,9). Diese Einschränkung fehlt in der Lukasparallele des Textes (Lk 16,18). Auch das Markusevangelium kennt keine Einschränkung (vgl. Mk 10,11-12). Das legt den Verdacht nahe, dass der einschränkende Einschub bei Matthäus von diesem selbst oder aus der vor-matthäischen Tradition stammt und nicht direkt auf Jesus zurückgeht. Auffällig ist, dass bei Matthäus und auch bei Lukas nur Männer als Adressaten genannt sind. Männern war es nach alttestamentlicher Gesetzgebung erlaubt, der Frau einen Scheidebrief auszustellen, um sich von ihr zu trennen. Diese Scheidungspraxis wurde in der Zeit Jesu recht großzügig gehandhabt. Gegen diese geltende Ehescheidungspraxis wendet sich Jesus: „Ihr könnt euch zwar formal auf das Recht berufen, aber in Wirklichkeit versteckt ihr dahinter ein schreiendes Unrecht. Ihr verbiegt den Willen Gottes. Gott will die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Er hat nur den einen Menschen geschaffen – und den als männlich und als weiblich.“ Jesus will mit seinem generellen Ehescheidungsverbot die Frau in Schutz nehmen vor der Willkür des Mannes und vor seinem Besitzanspruch. Zwar wurde in der Zeit Jesu auch der Frau das Recht eingeräumt, die Auflösung der Ehe zu fordern, falls eine Krankheit oder ein unehrbarer Beruf des Mannes ihr die Ehe nicht mehr zumutbar erscheinen ließen. Doch die Klagepunkte der Frau gegenüber denen des Mannes waren wesentlich stärker eingeschränkt. Die Frau blieb eindeutig im Nachteil. Jesus wendet sich generell gegen jegliche Ehescheidung. Er möchte die scheinbare Gesetzlichkeit seiner Zeitgenossen entlarven und ad absurdum führen. Diese Absicht prägt den Gesamtduktus der Bergpredigt – das zeigen die anderen Worte zum Zürnen (Mt 5,21-22), zum sechsten Gebot (Mt 5,27-30) und zum Schwören (Mt 5,33-37). So hat wohl auch Matthäus das Wort zur Ehescheidung verstanden – nicht als eine unumstößliche Gesetzesvorschrift, sondern als Provokation, als Entlarvung heuchlerisch-legaler Praxis. Darum fühlte er sich berechtigt, die so genannte „Unzuchtsklausel“ in den tradierten Text einzufügen.

Noch ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Nach der Tora ist „jede Unzucht ein Gräuel, der das Land Israel entweiht“ (vgl. Lev 19,29; Dtn 24,4; Hos 4,2f.; Jer 3,1-3.9). Durch Ehebruch ist die Ehe bereits zerstört. Der Gräuel, der das Land Israel entweiht, ist bereits eingetreten. Wer diesen Gräuel duldet, macht sich mitschuldig. Eine durch Ehebruch zerstörte Ehe, so konnte er argumentieren, muss darum geschieden werden. Für jüdisches Denken ist es aus dieser Perspektive geradezu heilige Pflicht, die Ehebrecherin zu entlassen. Ehescheidung ist zwar generell nicht erlaubt, bei Ehebruch aber ist sie geradezu geboten. Dann muss die Scheidung erfolgen, weil sonst die Sünde geduldet wird.[5] Matthäus konnte damit auch den Mitgliedern der jüdischen Muttergemeinde, die den Anhängern der Jesusbewegung zunehmend feindlich gegenüber standen, zeigen, dass er und seine Glaubensgenossen das mosaische Gesetz keineswegs missachteten.

Dieses Anliegen bringt Matthäus unmissverständlich zum Ausdruck in der Einleitung zu den Antithesen, in der Jesus die Jünger über sein Verhältnis zur Tora und zum Gesetz aufklärt: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17). In diesen Sätzen liegt geradezu ein Schlüssel für die richtige Interpretation der folgenden Antithesen. Matthäus möchte seinen Gegnern aus dem Judentum deutlich machen, dass Jesus sich keineswegs gegen die Tora wendet, sondern dass er sie viel mehr radikal, das heißt: von der Wurzel her, Ernst nimmt. „Was Jesus mit der Bergpredigt will, übersteigt jede Gesetzlichkeit. Was er will, ist die Lauterkeit des Herzens, die innere Wahrhaftigkeit […]. In all dem ist der Mensch, lange bevor er mit einem Gesetz in Konflikt geraten kann, vom Willen Gottes beansprucht und gefordert“ (G. Lohfink[6] ).

In einer bedenkenswerten Monographie versuchen Thomas und Heidi Ruster, die „Unzuchtsklausel“ unter heutigen Bedingungen zu deuten und daraus Folgerungen zu ziehen[7]. Unter Unzucht verstehen sie nicht nur das persönliche Versagen der Eheleute (z.B. Ehebruch), sondern in einem weiteren Sinne auch das Scheitern aufgrund äußerer gesellschaftlicher und ökonomischer Umstände. Sie geben zu bedenken, ob die Ehe von getauften, aber der Kirche fernstehenden Menschen automatisch als Sakrament verstanden werden soll. Ein Sakrament setzt Glauben voraus. Deshalb treten die Autoren dafür ein, die Untrennbarkeit von Ehevertrag und Sakrament in der katholischen Kirche aufzugeben. Wenn Sakrament und Vertrag unterschieden werden, könnte es in der katholischen Kirche auch nicht-sakramentale Ehen geben. Daraus könnte eine andere Haltung zu wiederverheirateten Geschiedenen möglich werden. Dann wären vor dem Standesamt geschlossene Ehen von Christen als Verträge für die Kirche gültig, aber nicht Sakrament. Erst wenn ein Paar das Sakrament der Ehe erbittet, ist die Kirche als Kirche auf den Plan gerufen. Das Auseinanderhalten von Vertrag und Sakrament hätte zur Folge, dass eine von Katholiken allein vor dem Standesamt geschlossene Zweitehe rechtlich gültig ist, auch wenn eine erneute Spendung des Ehesakramentes nicht stattfindet. Das Eheband zur ersten Ehe besteht weiter, aufgelöst ist nur der Vertrag zur ersten Ehe. Heidi Ruster macht aus ihrer Erfahrung als Leiterin einer katholischen Eheberatungsstelle geltend, dass ohnehin eine frühere Verbindung sich nicht einfach auflöst, sondern in die neue Beziehung emotional stark hineinspielt. Ob sich diese Sicht in der römisch-katholischen Kirche durchsetzen wird, bleibt freilich zu bezweifeln.

Auch bei bester Absicht beider Partner ist nicht immer abzusehen, wie sich der eine oder andere von ihnen oder beide zusammen im Lauf der Jahre entwickeln werden, welche Probleme und Schwierigkeiten von außen hinzukommen, ob vielleicht Situationen eintreten können, die zu einem Zerbrechen der Ehe führen. Auf Dauer wird die katholische Kirche nicht umhin kommen, der Tatsache des Scheiterns vieler
Ehen und der Wiederverheiratung anders zu begegnen als bisher. Niemand verlangt, dass sie eine Scheidung offiziell anerkennt oder gutheißt. Sie erkennt auch die Sünde nicht an; aber sie vergibt die Sünde. Sie heißt die Schuld gegenüber Gott und den Menschen nicht gut; aber sie übt Barmherzigkeit gegenüber den schuldig Gewordenen. Einige Grundsätze, die für eine mögliche (Wieder-)Zulassung zu den Sakramenten der Versöhnung und der Eucharistie gelten könnten, hat schon vor 40 Jahren Kardinal Lehmann vorgelegt (bei dem Müller promoviert wurde)[8]. Eine derartige Praxis der Barmherzigkeit und Vergebung, sollte sie in der katholischen Kirche Einzug halten, wird nicht zu einem „Dammbruch“ führen. Es geht nicht um eine Freigabe der Wiederverheiratung Geschiedener in der Kirche, sondern um eine Möglichkeit, unter den heutigen gesellschaftlichen und pastoralen Umständen eine glaubwürdige Form zu finden, die barmherzige Praxis Jesu auf betroffene Menschen hin auszuweiten und konkret werden zu lassen.

Ein beinhartes „Njet“ unter fragwürdiger (wenn nicht blasphemischer) Berufung auf den Willen Gottes, wie es Erzbischof Müller praktiziert, wird auf Dauer nicht zu halten sein.


© imprimatur Oktober 2013
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[1]In Matth. 14,23: PG 13,1245; zit. nach: Die Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz, Zur seelsorglichen Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen, Geschiedenen und Wiederverheirateten Geschiedenen, in: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg Nr. 24 [25.8.1993], S.158. Dort werden auch noch weitere Zeugnisse aus der frühen Kirche zitiert.
[2]DH 1807.
[3]Internationale Theologenkommission, in: Gregorianum 59 (1978), 461; zit. nach: A. Ebneter, Muss die Ehelehre die Kirchen trennen?, in: Orientierung 1980, 70.
[4]Pius XI., Enzyklika „Casti connubii“ 1930; AAS 1930, 574; zit. nach: A. Ebneter, Muss die Ehelehre die Kirchen trennen?, in: Orientierung 1980, 71.
[5]Vgl. dazu U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/1), Zürich/Neukirchen 31992, 275.
[6]G. Lohfink, Jetzt verstehe ich die Bibel, Stuttgart 21974, 142.
[7]Th. Ruster / H. Ruster, „...bis dass der Tod euch scheidet?", München 2013.
[8]Einige Grundsätze, die für eine mögliche (Wieder-)Zulassung zu den Sakramenten der Versöhnung und der Eucharistie gelten könnten, hat K. Lehmann vorgelegt: K. Lehmann, Gegenwart des Glaubens, Mainz 1974, 292 f.