Rudolf Lill
Johannes XXIII. und seine drei Reden zum 2. Vatikanischen Konzil

(zum 50. Todestag des Papstes: 3. Juni 2013)

Am 11. Oktober 1962 hat das Zweite Vatikanische Konzil begonnen, mit dessen Ankündigung Papst Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 die ganze katholische Welt und ebenso die anderen Konfessionen überrascht hatte[1]. Denn seit dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit (1870) glaubte man in Rom, und auch anderswo, dass es keines solchen Konzils mehr bedürfe.[2]

Aber Johannes XXIII. (Angelo Giuseppe Roncalli, geb. 1881) kannte die ganze Geschichte der Kirche und entnahm daraus den Entschluss zu einem neuen Konzil, welches keine Dogmen verschärfen oder Verurteilungen aussprechen, sondern die alten Wahrheiten in versöhnlicher und verständlicher Weise verkünden, zudem für den Frieden zwischen den Konfessionen und den Völkern wirken sollte: Barmherzigkeit statt Strenge, Dialoge statt Verurteilungen!

In diesem Sinne hat der Papst die Vorbereitung des Konzils[3] und dessen erste Periode freiheitlich gelenkt. Sein kurzes Pontifikat bedeutet die tiefste, zur zeitgemäßen Erneuerung und zum Diskurs mit der Moderne führende Zäsur in der neuen Geschichte der katholischen Kirche. Das war nicht weniger, sondern viel mehr als die eine
oder andere dogmatische Entscheidung! Zwischen dem Ende der wieder durchaus kontrovers verlaufenen letzten Sitzung der zentralen Vorbereitungskommission (12. Juni 1962) und der Eröffnung des Konzils (11. Oktober 1962) hat Johannes XXIII. drei programmatische Reden gehalten, welche die inzwischen reformistisch gesinnte Mehrheit der damaligen Katholiken sehr positiv beeindruckt haben. Im selben Sinne hatte der Papst am 10. Juni in St. Peter unter dem Motto "Eritis mihi testes" gepredigt; auch sorgte er für die möglichst schnelle Information aller Bischöfe über die bis dahin für das Konzil vorbereiteten Texte.[4]

Seine "arbeitsreichen Ferien" (Mitte Juli – Anfang September) verbrachte der inzwischen 81-jährige Papst 1962 wie üblich in Castel Gandolfo. Im kleinen Kreis seiner engen Mitarbeiter arbeitete er dort an den Texten für das Konzil, vor allem an den Reden, die er dazu am 11. September und am 11. Oktober gehalten hat; gelegentlich rezipierte er dazu auch Anregungen auswärtiger Besucher, so des belgischen Kardinals Leo J. Suenens, den er sehr schätzte.[5]

Der seit der Konzilseinladung weltweit "interessant" gewordene Papst gab auch weiterhin Audienzen; schon bei einer besonders stark besuchten plädierte er am 25. Juli in der neuen Offenheit, welche dann das Konzil charakterisiert hat, für eine Kirche, welche "den Menschen als solchen dient, nicht nur, insofern sie katholisch sind". Seine Eintragung ins Tagebuch bezeugt die traditionelle Frömmigkeit, welche der tragende Hintergrund seines Reformismus war: "Dominus omnia benevertat ad gloriam suam et ad aedificationem animarum".

In einer weltweit verbreiteten Radio-Rede betonte Johannes dann am 11. September, dass die Kirche aus allen und besonders aus den Armen bestehe. Sie müsse daher soziales Elend in Erinnerung bringen und beklagen … ihm auch entgegen wirken. Die Rede, welche durch jahrhundertelange Bündnisse des Papsttums mit den Mächtigen und den Reichen verschüttete Wahrheiten aussprach, wirkte aufrüttelnd. Sie hat u.a. den ersten und wohl entscheidenden Anstoß zur Gründung der Gruppe "Kirche der Armen" aus europäischen und lateinamerikanischen Bischöfen gegeben. Der gegen Ende des Konzils am 16. November 1965 geschlossene "Katakombenpakt" (? Befreiungstheologie) war eine direkte Folge[6] . Über erste positive Reaktionen war Johannes XXIII. so froh, dass er am Abend des 11. September ein doppeltes "Deo gratias" in sein Tagebuch schrieb!

Die größte Mühe verwandte der Papst auf die Vorbereitung seiner langen Rede zur Eröffnung des Konzils am 11. Oktober 1962, welche Alberigo (LPP 205) als "das wohl wichtigste Ereignis des Pontifikats" bezeichnet hat. Aus der Vatikanischen Bibliothek hatte Johannes sich dazu sogar aus den klassischen Konzilseditionen (u.a. von Mansi, 18. Jhdt.) die Bände mit den jeweiligen Einleitungsreden nach Castel Gandolfo bringen lassen, aber feststellen müssen, dass die früheren Situationen und Urteilsweisen von den seinigen zu verschieden waren, um ihnen Anregungen zu entnehmen. Wiewohl ihm seine große Rede streckenweise zu einem gelehrten Kompendium der ganzen Geschichte der Konzilien geriet (z.B. mit der kritischen Beurteilung der von Kaisern und Königen beeinflussten Synoden in den angeblichen "Glanzzeiten" der Kirche), konzipierte er darin sein ganz neues, epochales Programm. In den Mittelpunkt stellte er die drei Postulate, welche das Zweite Vatikanum geprägt haben: Die auf biblischer und historischer Reflexion ("Historia vitae magistra") gegründete Forderung nach umfassender Reform der kirchlichen Verkündung, der Wille zur Barmherzigkeit anstatt zu den bisherigen Verurteilungen, im Zusammenhang damit die Absage an die "Unglückspropheten".[7]

Johannes, der im ersten Satz seiner langen Rede das Konzil ausdrücklich unter den Schutz Mariens stellte, betonte sodann einleitend, dass die lange Reihe der Konzilien (also nicht nur die der päpstlichen Enzykliken) die Stärke der katholischen Kirche bezeuge, sie seien geradezu strahlende Lichter in deren Geschichte! Das nunmehrige Konzil solle die Kontinuität des kirchlichen Lehramts bekräftigen, welches er also als kollegial verfasst erklärte. Dieses Lehramt sollte nun ein weiteres Mal die Irrtümer, aber auch die Notwendigkeiten und die Möglichkeiten der Gegenwart erklären. Die Kontinuität der großen Menschheitsprobleme und auch der Feindschaften gegen das Christentum sei dabei stets mit zu bedenken. Aber ihn leitete die Gewissheit, dass Christus die Mitte der Geschichte und des Lebens sei und bleibe!

Im Sinne seiner drei großen Postulate wandte der Papst sich, anders als die früheren Konzilien, nicht gegen Dissidenten oder Gegner. Er benutzte vielmehr gerade diese Rede vor dem größten Publikum der Welt, um die Negation der Moderne durch seine Vorgänger seit dem 19. Jahrhundert hinter sich zu lassen und den positiven Willen zur Mitgestaltung zu bekunden. Daher formulierte er als wichtigste Aufgabe des Konzils, die alten Wahrheiten, stets auf die Evangelien gestützt, in neuer Form zu verkünden, so dass die Menschen sie besser verständen. Und weil der Mensch aus Seele und Leib bestehe, so sei dessen irdische Lebenswelt mitzubedenken: die Kirche habe auch eine direkte Kompetenz für die sozialen Verhältnisse und für den Frieden, die sie mutig wahrnehmen müsse. Den "Unglückpropheten", die dem Konzil und dessen Öffnungen weiterhin mit allen Mitteln widerstrebten, attestierte er zwar großen Eifer, verwarf aber die Maßlosigkeit, mit der sie in der Gegenwart nur Zerstörungen und Verschlechterung beklagten, von denen die Kirche sich weiterhin deutlich absetzen müsse. Der Papst betonte dagegen, dass es auch positive, gewiss auf die göttliche Vorsehung zurückgehende neue Initiativen und Bewegungen gebe: in der Jugend und in der Politik, für soziale Reformen und für den Frieden. Es gebe auch mehr religiöse Freiheit als früher! Seinen Gegnern warf er vor, dass sie nicht die ganze Geschichte in den Blick nähmen, sondern nur deren letzte Periode, d.h. die der autoritär-defensiven Pius-Päpste. Das war eine antizipierte, aber ganz richtige Antwort auf die "Pius-Brüder", die einige Jahre später gegen das Konzil aufgestanden sind und längst nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der katholischen Kirche aktiv sind, letzteres dank der indirekten Förderung durch Benedikt XVI. und dessen bischöfliche Vasallen.[8]

"Grazie al Signore non siamo alla fine del mondo" (Gott sei Dank sind wir nicht am Ende der Welt): dieser Satz charakterisiert den Optimismus, welcher die ganze lange Rede des Papstes durchzogen hat. Von seinem Konzil, welches "die Zeichen der Zeit lesen" sollte, erhoffte er einen "balzo innanzi" (Sprung nach vorn) für die Verchristlichung und die Vermenschlichung der Welt. Und gegen Ende sprach er auch die Einheit der Christen an, und darüberhinaus die von ihm ebenfalls bereits gewünschte Gemeinsamkeit aller religiösen Bekenntnisse.[9]

Johannes XXIII. hoffte, mit seinen Reden seinem Konzil den rechten Weg gewiesen zu haben. Dem erst gut vierzig Jahre alten Jesuiten Roberto Tucci, den er im Sinne seines Programms mit der Redaktion der bis dahin eher dem Ottaviani-Kurs verbundenen "Civilta Cattolica" betraut hatte, sagte er in einem langen Gespräch am 9. Februar 1963, dass aufgrund seiner Reden vom 11. September und vom 11. Oktober das Konzil voll in seine Arbeit eingetreten sei; und bei anderer Gelegenheit meinte er, dass dadurch auch seine Gegner seine Absichten endlich verstanden hätten[10]. Aber überzeugt hat er sie nicht. Die Ottaviani-Partei blieb dabei, dass Verurteilungen besser seien als Dialoge, und als zweiter Nachfolger Ottavianis (seit 1981, nun als Präfekt der Glaubenskongregation) ist Kardinal Ratzinger ganz zum alten Rigorismus zurückgekehrt. Erst Papst Franziskus hat 50 Jahre nach dem Tod Johannes XXIII. dessen Stil christlicher Freiheit und pastoraler Menschennähe wieder in den Vatikan zurückgebracht.


© imprimatur Oktober 2013
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[1]Erforschung und Dokumention des Pontifikats Johannes XXIII. und des 2. Vatikanischen Konzils sind größtenteils das (von deutschen Autoren zu wenig beachtete) Werk der Bologneser Historikerschule um Giuseppe Alberigo (1926-2007) und dessen Nachfolger Alberto Melloni: Istituto (inzwischen fondazione) per le Scienze Religiose. Die Anfänge des Instituts waren sehr gefördert worden durch Kardinal Giacomo Lercaro (Bologna), der Papst Johannes persönlich verbunden war. Der Papst und dessen Sekretär Loris F. Capovilla haben ihre Akten nicht dem Vatikanischen Archiv, sondern dem Bologneser Institut übergeben. Capovilla hat sich an deren Bearbeitung und Edition lange beteiligt.
Wichtigste neuere Veröffentlichungen:
Die Tagebücher Johannes XXIII. 1958-1963: Pater amabilis. Agende del pontificato, 2007, 567 S.
A. Melloni, Papa Giovanni. Un cristiano e il suo concilio. Torino 2009.

In deutscher Sprache: Hubert Jedin, Kleine Konziliengeschichte 1959 u.ö.
Otto Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil…, 2001, Topos plus TB.
Rudolf Lill, Die Macht der Päpste, 2011, Kap. VI.

S. zur ersten Information auch Alberigos Artikel: Johannes XXIII.: Lexikon der Päpste und des Papsttums, 2001, 203-206; – und Zweites Vatikanisches Konzil: Lexikon der Kirchengeschichte, Bd. 2 (2001), 1711-1723.
[2]Durchaus kein Konzil im vollen Sinne hatten jene konservativen Prälaten wie Alfredo Ottaviani, (s. Anm. 3) angestrebt, welche Pius XII. um 1950 eine Vollversammlung der Bischöfe zwecks Akklamation zu päpstlichen Lehrentscheidungen vorschlugen Melloni, Papa Giovanni, 200.
[3]Sie wurde dadurch kompliziert, dass eine starke Gruppe im Vatikan, besonders das damals noch übermächtige "Hl. Offizium" unter seinem Sekretär Kardinal Ottaviani, am absolutistisch-dogmatischen Regierungsstil Pius' XII. unbedingt festhalten wollte und darum heftigen Widerstand gegen die Pläne des Papstes geleistet hat. Johannes bezeichnete diese Gegner als "Unglückspropheten", weil sie in der Moderne vorwiegend das Werk zerstörerischer Kräfte sahen. S. über Ottaviani Josef Gelmi: LThK3 Bd. 7, 1218.
Gute und ausführliche Schilderung der Diskussionen in den vorbereitenden Kommissionen: Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings…, Bd. 2 2005, Kap. IV. (S. 210-299).
Kardinal Frings war nicht nur ein bedeutender Mitgestalter des 2. Vatikanischen Konzils, er hat auch dessen Erforschung und Dokumentation tatkräftig gefördert. Deren Promotor Alberigo (Anm. 1) war Frings durch den Bonner Kirchenhistoriker Hubert Jedin vorgestellt worden, der große italienische Erfahrungen hatte und den Kölner Kardinal in den Jahren des Konzils in historischen Fragen beriet. Hubert Jedin, Lebensbericht 1984, 198, 205 f.
[4]Die Aktivitäten Johannes' XXIII. in den vier letzten Monaten vor dem Konzil: Agende del pontificato, 394-442.
[5]Neben Suenens und Frings waren es die folgenden Kardinäle, welche Johannes beim Konzil engagiert unterstützt haben: Alfrink (Utrecht); Bea (Rom); Döpfner (München, bald vom Papst so hoch geschätzt wie Suenens: "due belle e forti colonne della S, Chiesa"); König (Wien); Léger (Montréal); Lercaro (Bologna); Liénart (Lille); Ritter (St. Louis).
[6]Norbert Arntz, Für eine dienende und arme Kirche. Der Katakombenpakt: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 86 (2011), 297 ff. – Italienischerseits wirkte der schon erwähnte Kardinal Lercaro intensiv mit.
[7]Analyse der Rede und Synopse der verschiedenen Fassungen (2ital., 1 lat.); Melloni, Papa Giovanni 258-335.
[8]Vgl. meinen Exkurs: …Kardinal Ratzinger und die Pius-Brüder, in: Die Macht der Päpste, 2011, 239-242, 300. S.a. Erhard Bertel / R.L. imprimatur 2 u. 3,2009.
Kardinal Ratzinger, der Johannes' XXIII. großen Entwurf als früherer Mitarbeiter des Kardinals Frings beim Konzil kennen musste, hat z.B. 1998 erklärt: "Das Konzil selbst (hat) kein Dogma definiert und sich auch bewusst in einem niedrigeren Rang als reines 'Pastoralkonzil' ausgedrückt." Das war kaum die halbe Wahrheit, Vgl. zu Ratzingers seit 1968 ff. immer kritischer gewordenen Beurteilung des Konzils seine Erinnerungen: Aus meinem Leben … 1998, 134-139, 150 ff.
[9]Einige Partien in den päpstlichen Reden vom 11. September und 11. Oktober 1962 verweisen deutlich auf die vermächtnisartige Enzyklika "Pacem in terris" (Verurteilung jeden Krieges, Anerkennung menschlicher Freiheit und Einsatz für Menschenrechte), welche Johannes XXIII., inzwischen unheilbar krank, am 14. April 1963 veröffentlicht hat. Zu den Konsequenzen aus den Reden gehörte auch, dass er bis zuletzt für die Kontinuität des Konzils sorgte. Briefe an die Bischöfe 6. Januar, 20. Mai 1963.
[10]Agende del Pontificato, 497. Tucci und Capovilla (Anm. 1), inzwischen weit über 90-jährig, bezeugen immer noch die historische Größe Johannes' XXIII.
Zur großen Wirkung des Eröffnungsgottesdienstes in St. Peter und besonders der Rede des Papstes vor 2540 Bischöfen und 85 Regierungsdelegationen s. a. Pesch, Konzil (Anm. 1), 75 ff.: "Die Eröffnung – Die Stunde Johannes XXIII."