Lutz Lemhöfer
Crime Time in Imprimatur: Allein unter Fundamentalisten
Zu Matt Beynon Rees‘ Krimi „Der Tote von Nablus“

Der Autor dieses Romans, der britische Journalist und langjährige Nahost-Korrespondent Matt Beynon Rees, hat das Verdienst, den ersten palästinensischen Ermittler der Krimi-Geschichte eingeführt zu haben: den Lehrer und freiwillig-unfreiwilligen Detektiv Omar Jussuf. Kriminalistisch aktiv wird er nur, wenn irgendwie sein privates Umfeld von einem Verbrechen tangiert ist. Ansonsten unterrichtet er Geschichte in einer von der UNESCO finanzierten Schule im Flüchtlingslager Dehaissa bei Bethlehem. In den klassischen israelischen Krimis etwa von Batya Gur oder Shulamit Lapid taucht der Schauplatz Westjordanland höchstens am Rande mal auf. In den bisher 3 Romanen von Rees steht er nicht nur geographisch im Mittelpunkt: Die Zwänge und Nöte der palästinensischen Gesellschaft, eines merkwürdig semi-staatlichen Gebildes zwar mit eigener Polizei, aber zugleich mit rivalisierenden bewaffneten politischen Bewegungen und immer bedroht von der militärischen Präsenz der Besatzungsmacht Israel, prägen auch die banale Kriminalität und vor allem die Chancen, sie aufzuklären. Es ist kein Zufall, dass nur in zweiter Linie die eigentlich zuständigen Behörden hier Kriminalfälle lösen. In erster Linie sorgt der Außenseiter jenseits der offiziellen und inoffiziellen politischen Konfliktlinien für unabhängige Aufklärung, eben Omar Jussuf. Der ist nun kein strahlender Held, sondern, wie so manche Privatdetektive der Krimi-Geschichte, eine eher angeknackste Persönlichkeit: irgendwo zwischen 55 und 60 Jahre alt, nach politischen wie persönlichen Sturm- und Drangzeiten recht braver Ehemann und Familienvater, zärtlicher Großvater vor allem seiner Lieblingsenkelin, der 13jährigen Nadia; als trockener Alkoholiker und mäßig frommer Moslem sympathisch, aber kein Held zum Vorzeigen. Wohl aber ganz und gar unbeirrbar und unkorrumpierbar in der Suche nach der Gerechtigkeit.

In diesem Roman, dem dritten mit dieser Hauptfigur, ist Omar Jussuf mitsamt seiner Familie (Ehefrau, Söhne, Enkelin) von Bethlehem nach Nablus gekommen. Sie sollen Hochzeitsgäste sein bei der Hochzeit von Sami Dschaffari, einem befreundeten jüngeren Polizisten aus Bethlehem, der seine aus Nablus stammende Braut Meisun heiraten will. Aber Sami, mittlerweile Polizist in Nablus, hat noch einen Fall aufzuklären: den Diebstahl einer kostbaren alten Schriftrolle aus dem Besitz der samaritanischen Gemeinde in Nablus. Denn hier leben noch 600 Samaritaner rund um ihr Heiligtum, den Berg Garizim; dort hat der Überlieferung nach Abraham fast seinen Sohn Isaak geopfert. Die Samaritaner, im Neuen Testament schon als Außenseiter beschrieben, gibt es dort noch als eigene religiöse Gruppe. Omar Jussuf beschreibt sie Sami so: Die Samaritaner? Die sind schon länger hier als wir, Sami. Sie sagen, dass sie von den Israeliten der Bibel abstammen, die hier in dieser Gegend geblieben sind, als ihre Brüder nach Babylon vertrieben wurden. In gewisser Hinsicht sind sie zugleich Palästinenser und Juden und sind keins von beiden. (S.11) Eine Minderheit mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, wie der Priester der Gemeinde, Jibril Ben-Tabia, deutlich macht: „Das jüdische Gesetz ist dem unseren sehr ähnlich, meine Herren“, sagte der alte Mann, „aber ihre Heiligen Schriften enthalten siebentausend Fehler. Die Bücher der Samaritaner sind makellos.“(S.15)

Als Sami und Omar Jussuf, den er wegen seines historischen Interesses an der Schriftrolle mitgenommen hat, den Priester in der Synagoge treffen, hat sich das Problem allerdings scheinbar verflüchtigt: Die Schriftrolle sei ebenso unerwartet wieder aufgetaucht wie sie vorher verschwunden war, anonym bei der Synagoge abgelegt. Wenig später wird freilich ein noch größeres Verbrechen entdeckt. Oben auf dem Berg Garizim, also an der legendären Opferstätte des biblischen Isaak, wird die übel zugerichtete Leiche eines jungen Mannes gefunden, der ausgerechnet auch noch Ishak heißt: der erwachsene Sohn oder genauer: Adoptivsohn des Priesters. Dieser Leichenfund verheißt nicht nur kriminelle, sondern auch politische Verwicklungen. Denn Ishak, ein kluger Finanzfachmann, war in finanziellen Dingen die rechte Hand des bis heute berühmtesten Palästinenserführers Yassir Arafat gewesen – im Buch wird er nur ‚der Alte‘ genannt. Der ist vor gar nicht so langer Zeit in Paris gestorben; Ishak war dabei. Und er, wenn überhaupt jemand, kannte die verwickelten Geschäfte und Finanztransaktionen des Alten. Deshalb wollte ihn auch eine Vertreterin der Weltbank in Nablus treffen, die Amerikanerin Jamie King. Sie hat den Auftrag, den Verbleib von 300 Millionen Dollar verschwundener internationaler Hilfsgelder aufzuklären und dafür zu sorgen, dass dieses Geld die offiziellen Hilfsempfänger erreicht. Findet sie das Geld nicht, droht die Weltbank mit Sperrung aller weiteren Zuwendungen, was eine mittlere Katastrophe für Palästina bedeuten würde. Noch kurz vor seinem Tod hatte Ishak der Amerikanerin versprochen, ihr die Unterlagen dazu auszuhändigen; als sie ihn treffen will, ist er tot, und die Unterlagen bleiben verschwunden. Die Konfliktlage ist kompliziert: Zum einen gehörte der Tote einer religiösen Außenseiter-Gruppe an. Zum anderen war er politisch ein Teil des Establishments in der Fatah-Bewegung, mithin Gegner der mit ihr blutig rivalisierenden Hamas. Und er hatte Einblick in diverse undurchsichtige Finanzgeschäfte, was ebenfalls ein Motiv sein könnte, ihm den Mund zu verschließen. Jedenfalls scheint es mächtige Interessen zu geben, die eine Aufklärung verhindern wollen. Scheich Bader, der bei der Hochzeit Samis als geistliche Autorität fungiert und zugleich Agitator der Hamas ist, warnt Sami, den Fall weiter zu verfolgen; wenig später überfällt ein maskierter Bewaffneter Sami und bricht ihm den Arm: ein letztes Signal, sich aus dem Fall zurückzuziehen – von wem auch immer das Signal kommen mag.

Allerdings: wenn die Aufklärung unterbleibt, drohen auch die Weltbank-Gelder dauerhaft verloren zu gehen, ein unersetzbarer Verlust. Unter anderem deshalb macht sich Omar Jussuf auf die Spur des Verbrechens, begleitet kaum noch von Sami, der Angst hat und seine bevorstehende Hochzeit nicht gefährden will, sondern vom ebenfalls zur Hochzeit geladenen Polizeichef von Bethlehem, Chamis Sejdan. Der ist ein alter Kampfgefährte Omar Jussufs aus früheren revolutionären Jugendjahren. Auch er ist ein gebrochener Held, ehemals gewalttätiger Revolutionär und Attentäter, jetzt verstümmelt mit einer Prothese statt der rechten Hand, Säufer und Diabetiker. Er charakterisiert sich selbst so: Ich habe so viele schmutzige Sachen gemacht, dass ich dafür eigentlich lebenslänglich kriegen müsste. Aber stattdessen bin ich für Recht und Ordnung zuständig. Willkommen in Palästina. (S.179) Die Vergangenheit spielt immer mit in dieser Gegenwart. Bald stellt sich heraus, dass die wundersame Rückkehr der kostbaren Schriftrolle ein Tauschgeschäft war: Der ermordete Ishak hat sie für die Samaritaner zurückbekommen; im Gegenzug musste er den Dieben – von der Hamas, wie sich herausstellt -, ein höchst geheimes Dossier überlassen, in dem belastende und unappetitliche Details über nahezu die gesamte Führungsriege der Fatah gesammelt waren – als internes Droh- und Erpressungspotential. Gesammelt hatte es der selbst zur Fatah gehörende Geschäftsmann Amin Kanaan, der mit Ishak eng zusammengearbeitet hat, wobei lange unklar bleibt, ob er dies nur als väterlicher Freund oder als Liebhaber getan hat. Denn der kinderlos verheiratete Ishak war schwul – auch dies ein Detail, das niemand öffentlich wissen sollte, weder in den macho-muslimischen Bewegungen Fatah und Hamas noch in der prüde-konservativen samaritanischen Gemeinde. Auch hier tut sich ein neues Feld von möglichen Motiven für den Mord auf. Denn Moral ist in Palästina keine Privatsache; sie ist auch eine Waffe im politischen Kampf. Das beweist eine Brandrede von Scheich Bader (Hamas) gegen die im Westjordanland regierende Fatah, in der er das bis heute immer wieder aufflammende Gerücht schürt, Yassir Arafat sei in Paris an Aids gestorben: „O Moslems, wie weit sind unsere Führer vom rechten Weg der Kalifen abgewichen, die die Gefährten des Propheten waren? Allah schenke ihm Frieden und nichts als Frieden! Heute liefere ich euch neue Beweise, dass die Männer einer bestimmten politischen Partei Teufel und Affen sind, die ihr Leben damit zubringen, gegen sämtliche Gesetze des Propheten zu verstoßen (…) Der Mann, der diese gewisse Partei führte, der den Anspruch erhob, das palästinensischen Volk über Jahrzehnte zu führen, der Mann, der die Gründer der Hamas ins Gefängnis werfen ließ – dieser Mann ist an einer schändlichen Krankheit gestorben. (…) Die Hamas hat den Obduktionsbericht erhalten, und wir haben erfahren, dass er in der Tat an der schändlichen Krankheit gestorben ist, deren Namen ihr all kennt und die das Ergebnis von Unmoral und verbotenem Tun ist. (…) Wenn wir jetzt für unsere Gemeinde beten, für die Moslems und für Palästina, dann denkt an diese Männer, deren einziges Credo ihre Unmoral ist. Denkt an die Macht, die sie über unser ehrenhaftes Palästinensisches Volk ausüben, und lasst uns ihnen gemeinsam diese Macht entreißen. Allah ist groß!“ (S.134 f) Wie diese politisch-moralische Gemengelage schließlich aufgelöst wird, wird hier natürlich nicht verraten; dafür sollte man das Buch lesen. Aber nur so viel: Der Täter wird gefunden; ob die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, bleibt offen bei dem Ausgang, der so zwiespältig ist wie die Helden dieser Geschichte.

Warum ist dieses Buch bemerkenswert? Für mich zunächst einmal deshalb, weil es Einsichten in eine für uns oft rätselhafte und doch politisch so wichtige Region vermittelt. Das Buch gibt eine Ahnung, dass hier Unterdrücker und Unterdrückte, Täter und Opfer nicht säuberlich zu scheiden sind. Es lässt einen spüren, wie langjährige Gewalt eine Gesellschaft nicht nur äußerlich bedroht, sondern innerlich zerfrisst. Das Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols führt eben nicht zur wohltätigen
Anarchie der Herrschaftsfreiheit, sondern zur Anomie der Gesetzlosigkeit und Schutzlosigkeit. – Im Gegenzug erscheint der Begriff einer Gesetzesreligion, wie sie Juden und Samaritaner (und eigentlich auch der Islam) kennen, nicht als Beschimpfung, sondern als Verheißung. Wie hatte doch der samaritanische Priester stolz erklärt? Das jüdische Gesetz ist dem unseren sehr ähnlich, aber ihre Heiligen Schriften enthalten siebentausend Fehler. Die Bücher der Samaritaner sind makellos. Ja, das richtig verstandene Gesetz dient nicht dazu, Leute einzuengen und einzuschnüren, sondern lebenswerte Verhältnisse zu gewährleisten. „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“, so ist diese Vision im 85. Psalm formuliert. Und das bleibt als Hoffnung, auch wenn der Ermittler Omar Jussuf leider noch diesseits dieser Vision beschäftigt ist. Seine Rolle ist undankbar und doch wichtig, wie er in einer Art Schlussgespräch mit Sami, dem Polizisten, erklärt. Der fragt ihn: „Ist es denn wirklich die Aufgabe eines Detektivs, Abu Ramis, dafür zu sorgen, dass alle Welt erfährt, wie schlecht es um die Welt steht?“ Omar Jussuf hob den Finger, wie er es beim Unterricht in der Klasse zu tun pflegte: „Detektive sind wie das Tuch, mit dem man angelaufenes Silberbesteck poliert. Das Besteck glänzt dann, wird stolz präsentiert und bewundert. Das Tuch wird in einen Schrank geworfen, verdreckt und unsichtbar, aber mit den Schmutzspuren behaftet, von denen jedermann meint, dass sie für immer entfernt seien.“ (S. 322 f).

Matt Beynon Rees: Der Tote von Nablus. Ein Fall für Omar Jussuf. Heyne-TB 2011. 8,99 €


© imprimatur Juli 2013
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