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Joseph Ratzinger verabschiedet die historisch-kritische Schriftauslegung!
Aufgeklärte Christliche Sozialethik
Der Koran – kein europäischer Text


Michael Theobald
Joseph Ratzinger verabschiedet die historisch-kritische Schriftauslegung!
Anmerkungen zu seinem Jesus-Buch, dritter Teil, „Jesus von Nazareth, Prolog. Kindheitsgeschichten“. Herder Verlag, Freiburg, 2012, ISBN978-3-451-34999-7

Mit dem vorliegenden Band rundet der Papst seine Jesus-Trilogie ab. Im einleitenden Kapitel behandelt er anhand der Stammbäume Jesu und ausgewählter johanneischer Texte „die Frage nach Jesu Herkunft als Frage nach Sein und Sendung“ Jesu, in den anschließenden Kapiteln legt er die so genannten „Kindheitsgeschichten“ aus: im 2. Kapitel die Ankündigungen der Geburt des Täufers und der Jesu (Lk 1,5-38; Mt 1,18-25), im 3. Kapitel die Erzählung von Jesu Geburt und seiner Darstellung im Tempel (Lk 2,1-40), im 4. Kapitel die von den Weisen aus dem Morgenland und der Flucht nach Ägypten (Mt 2,1-23) und im letzten – unter der Überschrift „Epilog“ – die Erzählung vom Zwölfjährigen im Tempel, die sich gleichsam auf der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein Jesu bewegt (Lk 2,41-52). Merkwürdigerweise übergeht er die Loblieder Benedictus, Magnificat und Nunc dimittis sowie die Szene der Begegnung der beiden werdenden Mütter und der Geburt des Täufers (Lk 1,39-56). Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck.

Einerseits bietet es in gewohnt schöner Sprache tief schürfende Gedanken, die zur Meditation der Texte anregen. Andererseits beharrt es in irritierender Weise immer wieder auf der Historizität des Erzählten. Natürlich soll sich alles im Tempel, in Nazaret, Betlehem und in den judäischen Bergen so oder so ähnlich abgespielt haben, stand der Stern über der Krippe, ließ Herodes die Kleinstkinder umbringen und floh die heilige Familie nach Ägypten usw. Das muss so sein, weil die Texte „wirkliche, geschehene Geschichte, freilich gedeutete und vom Wort Gottes her verstandene Geschichte“ aufgezeichnet hätten, kurz: ein Stück „urchristlicher Geschichtsschreibung“ seien (29f). Alles, was die Exegese im letzten Jahrhundert mit so großer Sorgfalt zu den biblisch und frühjüdisch geprägten Gattungen dieser Texte erarbeitet hat, schiebt Benedikt als angebliche Hyperkritik souverän beiseite.

Dem alttestamentlichen Wort Gottes, das die Geschichte erhellt, gesteht er nur den einen Sinn zu, auf Jesus Christus zu verweisen. „Es gibt eben im Alten Testament Worte“ – erklärt er –, „die sozusagen noch herrenlos bleiben“ – solange ihr „wahre[r] Eigentümer“, das heißt: Christus, „noch auf sich warten“ lässt (29; Kursive von mir). Die Kehrseite dieses gewagten hermeneutischen Satzes wird abgeblendet: die Gefahr einer Ent-Eignung der Juden, die mit der christlichen Besitzergreifung ihrer Bibel einhergeht. Was Not täte, wäre ein Paradigmenwechsel von einer autorbezogenen hin zu einer leserorientierten oder rezeptionsgeschichtlichen Sicht der Schrift, geleitet von der Einsicht, dass diese selbst ambivalent bleibt und auch unterschiedliche „Ausgänge“ hat, einen jüdischen und einen christlichen (E. Zenger).

Nur so ließe sich die christologische Lesart der Schrift mit dem Respekt vor ihrer jüdischen Auslegung verbinden. Die Art und Weise, wie Benedikt mit Jes 7,14 umgeht, mag sein „platonisches“ oder „essentialistisches“ Verständnis der Schrift, das nur die Intention ihres göttlichen Autors als ihren wahren Sinn gelten lässt, verdeutlichen. Gegen alle Regel unterscheidet er bei diesem „großen christologischen Grundtext“ (55) nicht zwischen der griechischen Übersetzung (Septuaginta; Mt 1,23: parthénos = Jungfrau) und dem hebräischen Text (´almah = junge Frau), sondern gibt vor, dessen „ursprünglicher“ Sinn sei der von Matthäus dargebotene. Sodann sucht er durch Aufweis des vermeintlichen Scheiterns aller historischkritischen Erklärungen des Verses die Wahrheit seiner christlichen Deutung zu erweisen, um „nach allem Ringen der kritischen Exegese ganz neu das Erstaunen darüber“ zu äußern, „dass ein unbegreiflich gebliebenes Wort aus dem Jahr 733 v.Chr. in der Stunde der Empfängnis Jesu Christi wahr geworden ist“ (59). Das erinnert fatal an supranaturale Weltdeutungen früherer Zeiten, bei denen für mangelnde physikalische Erklärungen Gott als Lückenbüßer einspringen musste – hier für das angebliche Scheitern aller literarischen Deutungen das Aufscheinen des christologischen Sinnes als des einzig wahren (57: „die Exegese … ist gescheitert“).

Die „Quelle“ für die Nachricht von der jungfräulichen Geburt Jesu sei – so Benedikt weiter – Maria selbst gewesen, denn „nur sie konnte über das Ereignis der Verkündigung berichten, das keine menschlichen Zeugen hatte“ (28 mit Verweis auf Lk 2,19.51). Eine gewagte Hypothese. Angesichts zahlreicher Parallelen in der zeitgenössischen Literatur und der Übernahme des Motivs von der jungfräulichen Geburt eines bedeutenden Menschen auch in jüdisch-hellenistisches Denken (Philo von
Alexandrien setzt es bei den Frauen der Patriarchen als Grundlage seiner Allegorese voraus; vgl. auch Röm 9,7-9) ist es um die Historizität des Motivs schlecht bestellt. Da „Parallelen“ immer Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten umgreifen, ist es ein Leichtes, letztere derart zu betonen, dass eine religionsgeschichtliche Erklärung in Nöte zu kommen scheint. Doch heutiger Exegese geht es nicht um „Ableitung“ des Motivs (wie Benedikt meint), sondern um seine milieubedingte Erklärung auf dem Boden des hellenistischen Judentums, vor allem aber darum, dass dieses Motiv der Überzeugung dienstbar ist, dass Jesus „so fundamental aus dem Geist Gottes (existiert), daß sein Dasein von Anfang an … in ihm begründet ist“[1]. Nicht das „Wie“ dieser Aussage, das uns entzogen bleibt, sondern ihr „Dass“ ist Gegenstand des Glaubens.

Deshalb ist auch die Behauptung des Autors, Jungfrauengeburt und „wirkliche Auferstehung aus dem Grab“ seien von gleichem theologischem Rang, mehr als fragwürdig, erst recht die, dass beides „Prüfsteine des Glaubens“ seien (65). Nach Paulus kommt christlicher Glaube, dessen Grund die Auferweckung des Gekreuzigten ist (übrigens nicht die Annahme eines leeren Grabes), ohne das Theologumenon der jungfräulichen Geburt Jesu aus.

Erstaunlich ist auch Folgendes: Benedikt widmet kein einziges Kapitel seiner Trilogie den Wundern Jesu (kein Exeget zweifelt heute daran, dass Jesus „Machttaten“ wirkte, exorzisierte und Kranke heilte); jetzt – im „Prolog“ oder Abgesang seines Werkes – forciert er aber gegen die Bibelwissenschaft zwei angebliche Wunder am Anfang und Ende des Lebens Jesu, die darin bestünden, dass Gott physisch und materiell in die Welt eingegriffen hätte. Da gerät einiges aus dem Lot. Wenn er gegen Ende seines Buches zugunsten seiner persönlichen Auffassung „kirchlich gesinnte Exegeten“ wie Klaus Berger u.a. (126) zitiert, müssen Fachvertreterinnen und Fachvertreter, die aus guten Gründen anders denken, sich in ein kirchliches Abseits gestellt sehen. Sollte das Buch als Buch des Papstes und nicht als das des Theologen Joseph Ratzinger von bestimmten Kreisen gegen eine angeblich destruktive Exegese instrumentalisiert werden, wäre es besser nicht geschrieben worden. Linientreue Wissenschaft ist keine Wissenschaft mehr.

Prof. Dr. Michael Theobald lehrt Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
Veröffentlicht in: © Bibel und Kirche 1/2013, Katholisches Bibelwerk e.V., Stuttgart

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Rudolf Uertz
Aufgeklärte Christliche Sozialethik
Zur Festschrift für Wilhelm Korff: (Christliche Sozialethik – Architektur einer jungen Disziplin. Akademischer Festakt zum 85. Geburtstag von Wilhelm Korff, hg. von Markus Vogt (LMUniversum, Bd. 12), München 2012, 94 S.)

Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität München hat anlässlich des 85. Geburtstags ihres Emeritus Wilhelm Korff im Dezember 2011 einen akademischen Festakt veranstaltet. Die Dokumentation ist eine Festschrift eigener Art. Konventionell ist die inhaltliche Gliederung: Vorwort des Erzbischofs von München und Freising Reinhard Kardinal Marx; Grußwort des Dekans Knut Backhaus; Einführung und Laudatio des Herausgebers und Korff-Schülers Markus Vogt; Festansprache der Bundesbildungsministerin Annette Schavan und Schlussgedanken des geehrten Jubilars. Unkonventionell ist der vom Autor verfasste Anhang „work in progress“. In ihm stellt der Jubilar konzentriert seine wissenschaftlichen Arbeiten vor, die den Grundlagen der Christlichen Sozialethik gewidmet sind (A). Eine Analyse historisch bedeutsamer Formen angewandter Ethik schließt sich an (B), die mit einer Auflistung von Forschungsthemen versehen ist (Korff, S. 87 ff.), an denen derzeit ein Team von rund 20 Philosophen, Theologen, Historikern und Sozialwissenschaftlern arbeitet. Offenbar gibt es diesbezüglich immer noch einen erheblichen Klärungsbedarf.

Lehre in Tübingen und München

Durch seinen Bonner Lehrer Werner Schöllgen ist Korff seit Studienbeginn 1946 daran gewöhnt, die theologische Ethik nicht mehr wie noch viele seines Jahrgangs in den engen Bahnen päpstlicher Dekrete, kasuistischer Beichtliteratur und neuscholastischer Naturrechtsdoktrin zu betreiben, sondern vielmehr den Blick auf die Grundlagen und Nachbardisziplinen der christlichen Ethik und Theologie zu richten. Nach Jahren als Kaplan und Studentenseelsorger in Düsseldorf und der Habilitation in Bonn lehrt Korff von 1973 bis 1979 an der Universität Tübingen das Fach Theologische Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Gesellschaftslehre und danach bis 1993 an der Universität München. Beim Bayerischen Kultusministerium setzt er die Lehrstuhlbezeichnung Christliche Sozialethik (statt bis dahin Christliche Soziallehre) durch. Einige Fachkollegen wie der Münsteraner Wilhelm Weber sehen mit der Umbenennung „dunkle Wolken am Himmel der [christlichen] Sozialwissenschaften“ aufziehen. Hier zeigt sich bereits die Kampffront, die sich zwischen den Vertretern der autonomen Moral und den der Enzykliken-Interpretation sehr viel enger verhafteten Sozialethiker auftun sollte.

Mit Alfons Auer, Franz Böckle und weiteren Kollegen wächst Korff in den 1970er Jahren in die Rolle moraltheologischer und sozialethischer Aufklärer hinein, die nach dem Ende der neuscholastischen Ära und dem Paradigmenwechsel des Konzils ihr Unterrichtsfach neu fundieren und wieder anschlussfähig machen an die Standards der allgemeinen wie auch der protestantischen Ethik.[1]

Neue Politische Theologie

In das Vakuum, das die Neuorientierung des Konzils geschaffen hatte, war zunächst die Politische Theologie von Johann Baptist Metz getreten. Politische Theologie – so formuliert der Münsteraner Fundamentaltheologe Johannes Baptist Metz – hat die radikal veränderte geistig-kulturelle Situation zur Kenntnis zu nehmen. Metz kritisiert das mangelnde Problembewusstsein der abgedankten klassisch-metaphysischen Theologie, die bezüglich ihrer Einschätzung des Verhältnisses von christlicher Heilsbotschaft und gesellschaftlich-politischer Wirklichkeit in eine radikale Krisis geraten sei, so dass die Voraussetzungen für rein metaphysische Interpretationen der Religion nicht mehr gegeben seien[2]. Dagegen habe die seit den letzten Jahren vorherrschende Theologie „in ihrer transzendentalen, existentialen und personalistischen Orientierung“ die durch „die Aufklärung geschaffene Problemsituation durchaus wahrgenommen“, andere theologische Schulen, so ist zu folgern, jedoch nicht. Metz hat damit die Bewusstseinslage großer Teile der Lehrenden und Studierenden an den Theologischen Fakultäten und Hochschulen treffend markiert.

Mit seiner Neuen Politischen Theologie, wie Metz sein Konzept herausfordernd nannte, war er mit der erste, der das neue Weltverhältnis der Kirche thematisierte und die Imperative der konziliaren Lehre, so die Kenntnisnahme soziologischer Analysen und die stärkere Fundierung des christlichen Sozialdenkens vom biblisch-offenbarungstheologischen Denken her, in ein Konzept gefasst hat (u.a. Kirche als Kontrastgesellschaft, Theologie der Befreiung, kontextuelle Theologien). Der Aktivismus von Metz stieß nicht zuletzt bei den jüngeren Theologen auf beträchtliche Resonanz. Doch speiste sich die Politische Theologie weitgehend aus fundamentaltheologischen Überlegungen. Um stärkeren Anschluss an sozialethische Fragestellungen bemühte man sich dagegen kaum, obwohl man doch gerade das Verhältnis der Kirche zur Welt neu beleben wollte. Diese Verlegenheit bemerkte auch der Nestor der katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning. Denn die Frage, wann und wo politischer und gesellschaftlicher Handlungsbedarf angebracht sei, sei ungeachtet der zu würdigenden biblisch-theologischen Motivation, doch in ihrem Kern eine sozial- und politikethische Frage.

Autonome Moral und christlicher Glaube

Das alles hatte die Vertreter der autonomen Moral weit weniger berührt als die dem Signum der traditionellen katholischen Soziallehre bzw. Sozialwissenschaft verbundenen Kollegen, zumal sich hinsichtlich der personalistischen Fundierung der Politischen Theologie gemeinsame Anknüpfungspunkte mit der autonomen Moral ergaben. Und so ist es kein Zufall, dass etliche sozialethische Dissertationen und Habilitationen von Autoren verfasst wurden, die von der Fundamentaltheologie zur Sozialethik gewechselt waren. Was jedoch die Vertreter der autonomen Moral vor allem tangierte war die Veröffentlichung der Enzyklika Humanae vitae Pauls VI. (1968). Das päpstliche Dekret bedeutete in der Sache nichts weniger als ein Zurück in die alten Positionen von vor dem Konzil, jedenfalls für die Ehe- und Sexualmoral – eine Rückschritt, der durch Johannes Paul II. gar eine Vertiefung erfuhr, so dass schließlich in dem Apostolischen Schreiben Ad tuendam fidem (1998) die entsprechenden Canones des Codex Iuris Canonici ergänzt und mit dem Status unfehlbarer Normen versehen wurden, denen mit „religiösem Gehorsam des Willens und des Verstandes“ anzuhängen sei.

Für Wilhelm Korff blieb angesichts dieser Herausforderung als angemessene Reaktion eigentlich nur die spitze Feder. Was ihn zusätzlich motivierte ist der Umstand, dass die Ambivalenzen christlicher Ethik (das Spannungsverhältnis zwischen Individual- und Sozialethik, autonomer und heteronomer Moral, theologischer und philosophischer Ethik) von Fachkollegen nicht immer genügend wahrgenommen werden, so dass auch in sozialethischen Fragen gelegentlich Positionen bezogen werden, die dem herkömmlichen lehramtlichen Deduktionismus ähneln. Wir haben aber, das ist Korffs Überzeugung, ein solches Wissen, d. h. ein Vorwissen im Sinne unverrückbarer „Supernormen“ nicht, und wo dies behauptet wird, gleich in welchem ethischen Fachgebiet, handelt es sich beim Deduktionismus um Präformierungen auf der Prinzipienebene, die dann für die konkrete Handlungsebene ihren Verpflichtungsgrund haben sollen.

Ungereimtheiten in der kirchlichen Soziallehre

Das führt Korff zu der grundsätzlichen Frage: Was ist christliche Sozialethik? Was heißt Gewissensverantwortung? Um diese Problematik transparent zu machen, ist es angezeigt, die in einer systematischen und ideengeschichtlichen Zusammenschau der wichtigsten Formen und Gliederungsaspekte angewandter Ethik in den Blick zu nehmen.

Drei Wirkfaktoren sind dabei leitend. 1. Was ist eigentlich Sozialethik? Der Begriff stammt von dem evangelischen Theologen Alexander von Oettingen (1867). Sein Verdienst ist es, den Begriff in Auseinandersetzung mit der modernen Soziologie kreiert und ihn systematisch von der empirischen Sozialwissenschaft unterschieden zu haben. 2. Die Entstehung der christlichen Soziallehre als Antwort auf die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts. Korff anerkennt dabei durchaus die Leistungen der katholischen Soziallehre und ihrer Programmatik, die in wichtigen Bereichen für den sozialen und politischen Katholizismus in Deutschland leitend waren. Er verweist aber auch darauf, dass die katholische Soziallehre in jener Phase lediglich die Gebiete Eigentum, Wirtschaft und Arbeit traktierte, andere Bereiche wie die politische, die Rechts- und die Kulturethik jedoch ausklammerte. 3. Der dritte Wirkfaktor betrifft den universellen Anspruch der Menschenrechte und ihre klassische Gliederung in individuelle Freiheitsrechte, politische Mitwirkungsrechte und soziale Teilhaberechte. Dieser Rekurs zeigt zum einen, dass das kirchliche Lehramt nur die sozialen Teilhaberechte zum ursprünglichen Erbgut der Christlichen Soziallehre zählte (Korff, S. 72). Von individuellen Freiheitsrechten und politischen Mitwirkungsrechten als integralen Bestandteilen der katholischen Sozialethik aber kann erst seit Johannes XXIII. und dem II. Vatikanum (Pacem in terris, 1963; Gaudium et spes, Dignitatis humanae, 1965) die Rede sein.

Diese Ungereimtheiten in der kirchenamtlichen Soziallehre sind der Hauptgrund für Korffs Ansinnen, der christlichen Morallehre und Moralpraxis im Kontext der allgemeinen Ethikgeschichte systematisch nachzuspüren. Drei Ethikformen lassen sich als wirkmächtige Maßstäbe ausmachen: die Gebotsethik, die Tugendethik[3] und die Pflichtethik; aus der letzteren hat sich die Verantwortungsethik entwickelt, die sich substanziell nicht von der Pflichtethik unterscheidet, jedoch eine größere Flexibilität und differenziertere Anwendungsmöglichkeiten, wie z.B. Kompromissfähigkeit zulässt (Korff, S. 84 f.)[4]. Als einziger Ethiktypus verbindet sich die Gebotsethik mit offenbarungstheologischen Imperativen. Ihr bedeutendstes Dokument ist der Dekalog. Sein Leitparadigma ist vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Gesetzeskorpora gleichermaßen theologisch und sozial ausgerichtet. Seine besondere Wirkungsgeschichte verdankt er den moralischen Imperativen, die „als eine von Gott selbst her intendierte Sache zur Sprache“ kommen (Korff, S. 80). Die exegetische Analyse jedoch zeigt, dass die im Dekalog enthaltenen sittlichen Normen im Umfeld von Altisrael bekannt sind. Das bedeutet, dass diese Normen zugleich eine säkular-ethische Dimension besitzen, wie dies auch der Römerbrief (das Gesetz und die Heiden; Röm 2,14 f.) zeigt[5]. Und so rechnete auch Thomas von Aquin die sozialen Normen des Dekalogs zum Naturrecht.

Die Tugendethik geht davon aus, dass es bei der menschlichen Sittlichkeit nicht nur auf Einzelentscheidungen ankommt, sondern dass diese aus der durch Gewöhnung und Übung erworbenen Grundhaltung, dem Ethos, fließen. Im Zentrum stehen die vier Kardinaltugenden – Grundhaltungen also, die das Selbstverhältnis des Menschen (Verhältnis von Vernunft zu den emotionalen Seelenteilen), sowie das Verhalten des Menschen zum sozialen Umfeld betreffen: Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit.

Der dritte Ethiktypus ist die Pflichtethik; sie ist, was ihre wesentlichen Eigenschaften betrifft, das Produkt der Neuzeit. Sie basiert auf der Stoa und hat über Cicero auch Eingang in die christliche Sittenlehre gefunden. Ihr entscheidendes Novum aber ist die Subjektwende.

Rationalistisches Naturrecht

Das Naturrecht wird in der Neuzeit individualisiert und profaniert: Die allgemeinen sittlichen Normen müssen Geltung beanspruchen, „auch wenn es Gott nicht gäbe“ (Hugo Grotius). Entscheidend ist dabei der Umstand, dass sich die Gesellschaften infolge der durch die Reformation und der neuzeitlich-kulturellen Entwicklungen geschaffenen Verhältnisse nicht mehr an Rom orientierten, das bis dahin als gottgewollte Deuterin des Naturrechts galt (A. F. Utz). Notgedrungen musste nun jene Instanz in Kraft treten, welche die „naturgemäße“ war, die Einzelvernunft.

Beachtlich ist nun, dass die christliche Ethik sich nicht etwa an der jesuanischen Ethik, die eine Tugendethik ist, orientiert, noch an der Tugendethik des Thomas von Aquin, was „vom Geist des Neuen Testaments her“ nahe gelegen hätte; vielmehr orientiert sich die christliche Ethik in der Praxis vielmehr am Gebotskanon des Dekalogs als zentrales Gliederungsschema, das seit dem IV. Laterankonzil (1215) die Beichtpraxis bestimmte. Und im Beichtdekret des Konzils von Trient (1551) wird dieses Schema noch präziser gefasst und mit den „weit gespannten kasuistischen Anwendungen des Dekalogschemas“ verknüpft (Korff, S. 82).

Die kirchliche Morallehre und Beichtpraxis hat sich aber auch nicht an den bedeutsamen spanischen Spätscholastikern des 16. und 17. Jahrhunderts orientiert (F. Vitoria, F. Suarez u.a.), die die mittelalterliche Morallehre weiterführten. Doch obgleich die Spätscholastiker wesentliche Beiträge zur Weiterentwicklung des scholastischen Naturrechts und zum neuzeitlichen Völkerrecht leisteten, konnten auch sie keinen Einfluss auf die Moralpraxis der Kirche ausüben. Die Poenitentialsummen haben die Summa theologica des Aquinaten übertönt.

Metaphysik der Freiheit versus Befehl und Gehorsam

Auch Franz-Xaver-Kaufmann hat in seiner jüngsten Publikation „Kirche in der ambivalenten Moderne“ (Freiburg i. Br. 2012) den negativen Einfluss speziell der kirchlichen Sexuallehre und der „im Schema von Befehl und Gehorsam verharrende(n) römisch-katholisch(n) Moral“ analysiert. Auch er zeigt dabei auf die Leistungen, mit der die katholische Ethik in der Sozial- und Wirtschaftspolitik Anschluss an die neuzeitlichen Veränderungen zu gewinnen vermochte, doch kann auch Kaufmann nicht ignorieren, dass die Morallehre der Kirche „im Bereich der Sexualethik Rigiditäten, die ihre Glaubwürdigkeit nachhaltig in Frage stellen“, präsentiert – Rigiditäten, die schon das Handbuch für Pastoraltheologie 1966 als pathologisch charakterisierte. [6] Ähnlich wie der Psychotherapeut Albert Görres bemerkt auch der Soziologe Kaufmann zu den sexualethischen Aporien des kirchlichen Lehramtes: „Gerade weil es sich um die Körperlichkeit des Menschen unmittelbar betreffende Sachverhalte handelt, geht die kasuistische Betrachtungsweise am existentiellen Erfahrungshorizont der Menschen vorbei. Dieser ist weit eher anschlussfähig an eine ebenfalls auf christlichem Grund gewachsene Metaphysik der Freiheit, der in der Morallehre das Bemühen um eine an der Personalität des Menschen orientierte Moral entspricht“ (Kaufmann, S. 166). Wilhelm Korff hat in den Schlussgedanken seiner Festschrift in bestechender Form seine an der Ethik des Thomas von Aquin orientierten christlich-personalistische Verantwortungsethik dargelegt (Korff, S. 43). Die Mitglieder der Projektgruppe werden in ihren Detailanalysen der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte angewandter ethischer Gliederungssysteme sicherlich auch die positiven Seiten der christlichen Ethik und ihrer Freiheitselemente zu würdigen wissen.

Rudolf Uertz, 1985–1991 Lehrbeauftragter für Christliche Sozialethik an der Universität Siegen; Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Markus Groß
Der Koran – kein europäischer Text
Eine Rezension zu Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike [1]

Es dürfte nicht leicht sein, einem Buch von insgesamt 859 Seiten, das seine Entstehung der Gewährung eines „Opus-Magnum“-Stipendiums der Fritz-Thyssen- und der Volkswagen-Stiftung 2007 verdankt, nach eigenem Selbstverständnis also bahnbrechend sein sollte, in einer Rezension von wenigen Seiten gerecht zu werden. Dies soll also im Folgenden eher punktuell geschehen, wobei eine detailliertere Behandlung im Rahmen einer größeren Arbeit geplant ist. Zunächst einmal zum Titel, besser gesagt zum Untertitel: „Der Koran als Text der Spätantike“. Dazu steht auf S. 14 folgendes zu lesen:

„Will man ... sein Bild des komplexen Phänomens ,Koran’ auf eine überprüfbare Basis stellen, so hat man vor allem die Frage nach der historischen Verankerung des Koran in Zeit und Raum neu zu stellen.“

Dem ist zuzustimmen, doch hätte man bei einem so voluminösen Werk hier gewünscht, etwas mehr zum historischen Kontext zu erfahren. Abgesehen vom gelegentlichen Erwähnen des byzantinischen Reiches sucht der Leser aber vergeblich historische Bezüge. Auch der Begriff „Spätantike“ wird hier nur als leeres Schlagwort verwendet, auf den nirgendwo im Buch eingegangen wird. Die Spätantike bezeichnet im Allgemeinen die Übergangszeit zwischen Altertum und Mittelalter, wobei diese beiden Epochen je nach Autor ganz verschieden gegeneinander abgegrenzt werden. Trotzdem kann man einige „typisch“ mittelalterliche Besonderheiten ausmachen, z.B.: die Verbindung von lateinisch-griechischer Antike mit dem Christentum, die Integration der Germanenstämme, das Mönchstum, die Ablösung der Sklavenhaltergesellschaft durch das Lehnswesen u.ä. Aus dieser kleinen Zusammenstellung wird aber klar, dass die Grenzziehung zwischen Altertum und Mittelalter weitestgehend eine (west-)europäische Angelegenheit ist und noch nicht einmal das oströmische Reich tangiert. Wenn also der Koran in den Zusammenhang mit der Spätantike gebracht werden soll, so müsste dies begründet werden, z.B. durch Gedankengut von „spätantiken“ Autoren. Solche Parallelen fehlen im Buch allerdings völlig. Es scheint auch gar nicht in erster Linie um die historische Einordnung des Koran zu gehen, sondern eher um seine Verteidigung. So wird er auf S. 42 ff. gegen den Vorwurf der „Epigonalität“ (nochmal S. 502) verteidigt:

„Der zweite Zerrspiegel, die Projektion des Koran als epigonale Reprise der Bibel, wirkt sich nicht weniger entstellend aus.“

Auf S. 78 wird der Begriff „Rehabilitierung“ verwendet.
Noch weitergehender ist der Versuch, ihn als Teil der europäischen Kulturgeschichte zu interpretieren (S. 15):

Sie macht den bisher einzig als islamisches Dokument betrachteten Koran – zugespitzt ausgedrückt – nun auch als europäisches Erbe erkennbar, als eine Stimme in dem Konzert von Traditionen einer Zeit, die wir gewohnt sind als formative Epoche für das spätere Europa zu reklamieren. Der Koran wird so zu einem für Europäer signifikanten Text, einem Text, der nichtmuslimische Europäer und Muslime verbindet.“ (alle Hervorhebungen vom Verf.)

Noch klarer wird dies auf S. 67:

„Aus der einen Perspektive gesehen zeigt sich dann der Gründungstext des Islam, aus der anderen ein am Herausbilden des späteren Europa beteiligter und damit ,orientalisch-europäischer Text‘.“

und später

„...er ist angesichts seines Selbsteintrags in den westlichen Textkanon gleichzeitig auch ein bedeutsames Vermächtnis der Spätantike an Europa“.

Belege für diese gewagte These sind im Buch allerdings keine zu finden. Nun ist unbestritten, dass einige Texte aus anderen Kulturkreisen auch im Abendland kulturgeschichtlich gewirkt haben. Schopenhauer und Hermann Hesse waren stark vom Buddhismus beeinflusst, die Dramen Kalidasas (z.B. Shakuntala) haben Goethe inspiriert und selbstverständlich haben auch Schriften aus dem islamischen Kulturkreis in Europa Spuren hinterlassen. So haben die Philosophen Avicenna (Ibn ?ina) und Averroes (Ibn Rušd) die Scholastiker beeinflusst und die Erzählungen von „1001 Nacht“ sind in Europa populärer als im Orient selbst, wobei auch Averroes von orthodoxen Muslimen als Häretiker betrachtet wird. Der „Koran als Text“ – nicht als Gründungsdokument des in Europa immer stärker werdenden Islam – hatte diese Wirkung allerdings nie. Auch europäische Autoren mit islamischem Hintergrund zeigen kaum jemals einen Bezug zum „Text“ des Koran, was wohl daran liegt, dass der Koran im öffentlichen Leben in islamischen Gesellschaften wohl oft rezitiert, so gut wie nie aber „gelesen“ und interpretiert wird.
Wie nun wird das Buch dem zweiten Untertitel gerecht: „Ein europäischer Zugang“? Zunächst einmal würde man bei einem solchen Zugang erwarten, dass der Text selbst, d.h. seine Überlieferung, einer genauen Untersuchung unterzogen würde: Was sind die ältesten Handschriften, wie sieht es mit Varianten aus, gibt es Paralleltexte etc.? Diese Fragen bleiben zum großen Teil nicht nur unbeantwortet, sie werden noch nicht einmal gestellt.

Eine weitere Frage, die nach dem oder den Autoren, wird ebenfalls elegant umschifft, und dies nicht ohne Grund: Nach muslimischer Auffassung hat der Koran keinen Autor, sondern wurde dem Propheten durch den vermittelnden Engel Gabriel direkt von Gott „herabgesandt“. Wer also von einem oder mehreren Autoren spricht, gerät leicht in den Verdacht, die „religiösen Gefühle“ der Muslime zu verletzen. Interessant ist, wie die Autorin aus dieser Zwickmühle herauskommt (S. 44):

„Nicht ein ,Autor‘ ist hinter dem Koran anzunehmen, sondern [...] ein individuelles Zwiegespräch zwischen Gott und Mensch...“

Und noch kryptischer auf S. 63:

„Setzt man nicht die Person Muhammads als auktorial an, sondern konzediert eine wachsende und wechselnde Gruppe weitere mit dem Verkünder in Diskussion stehender Akteure, so ist es legitim, nach bestimmten einander ablösenden ,Diskursen‘ zu suchen, die Verkünder und Gemeinde sukzessiv beschäftigt haben sollten.“

Unverständlichkeit erweckt Ehrfurcht, trägt aber in diesem Falle wenig zur Wahrheitsfindung bei.

Auch die sich eigentlich sofort ergebende weitere Frage: „gibt es Vorläufertexte?“, wie im Falle des NT das AT, oder im Falle des Lukas-Evangeliums das Markus-Evangelium, wird eher umgangen: Obwohl an vielen Stellen im Koran biblische Erzählung in sehr elliptischer Form einfach nur nacherzählt werden – oft nur in Form von Anspielungen – ist in ihrer Arbeit nicht ein einziges Mal ein Satz zu finden wie: „diese Episode ist übernommen aus/ geht zurück auf ...“.

Stattdessen ist ein Satz auf S. 66: fast schon programmatisch:

„...will dieser Band dazu beitragen, den Koran auf Augenhöhe mit den biblischen Schriften zu stellen“

Das Bild der „Augenhöhe“ kommt im Buch fast leitmotivisch immer wieder vor (z. B. auf S. 767). Womit die über 850 Seiten des Buches gefüllt sind, sind größtenteils literaturwissenschaftliche Behandlungen einzelner Suren, wobei hier auffällt, dass die Auswahl extrem subjektiv ist: Besprochen werden in erster Linie „poetische“ Suren, also vor allem mekkanische. Die langen medinensischen Suren mit ihren oft juristischen Teilen bleiben fast völlig außer acht gelassen, was bedeutet, dass auch alle „bösen“ Stellen des Koran in diesem Buch nicht vorkommen. So wird die Sure 4 („die Frauen“) nur an einer Stelle (s. 666) erwähnt (allerdings nicht in Bezug auf Frauen). Die auch in der deutschen Öffentlichkeit heftig debattierten Stellen fehlen, z. B.: 4:15:

„Und wenn welche von euren Frauen etwas Abscheuliches begehen, so verlangt, dass vier von euch (Männern) gegen sie zeugen! Wenn sie (tatsächlich) zeugen, dann haltet sie im Haus fest, bis der Tod sie abberuft oder Allah ihnen eine Möglichkeit schafft (ins normale Leben zurückzukehren)!“

Oder aus Sure 9 der 5. Vers:

„Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf!“

Oder der ebenfalls nicht sehr nette Satz aus der längsten Sure: 2:223:

„Die Frauen sind euch ein Saatfeld. Geht zu (diesem) eurem Saatfeld, wo immer ihr wollt!“

Dagegen werden die nur fünf Zeilen der praktisch unverständlichen Sure 100 mehrfach behandelt, ohne allerdings neuere Literatur heranzuziehen. So findet sich in einem Artikel von Munther Younes (Arabica 55 (2008) S. 362-386: Charging Steeds or Maidens Doing Good Deeds? A Re-Interpretation of Qur?an 100 (al-?adiyat)) folgender Satz:

„... (of) the twelve words in the ?ve verses under discussion, six are hapax legomena: al-?adiyat, ?ab?a, qad?a, al-mugirat, naq?a, and wasa?na, a disproportionately high number.”

Die Tatsache, dass in 5(!) Zeilen insgesamt 6(!) Wörter nur dort vorkommen und ihre Bedeutung ansonsten praktisch unbekannt ist, wird von ihr noch nicht einmal erwähnt! Ebenso unkritisch behandelt sie die angebliche Erwähnung der heiligen Statt Mekka im Koran (S. 647):

„‘Das erste Haus, das den Menschen errichtet wurde, ist das in Bakka [=Mekka]‘. Mekka ist also ,das erste Gotteshaus‘, d.h. das gegenüber Jerusalem ältere Heiligtum, offenbar weil es bereits auf Abraham zurückgeht.“

Kein Wort zu dem Problem, das hier gar nicht von „Mekka“ die Rede ist, sondern von „Bakka“. Ein Lautwandel „M“ zu „B“ ist im Arabischen unbekannt, abgesehen davon, dass heute kaum noch ein Theologe von der Historizität Abrahams ausgeht. Sollte man zudem nicht erwarten, dass die frühen Muslime den Namen der heiligen Stadt mit etwas mehr Sorgfalt ausgesprochen haben dürften?

Ein weiterer bemerkenswerter Fall ist die Sure 84 (al-inšiqaq- die Spaltung, S. 420). Sie wird aus stilistischen und inhaltlichen Gründen von A. Neuwirth in zwei Hälften geteilt. Gemäß den rund viereinhalb Seiten Kommentar scheint ihr aber nicht aufgefallen zu sein, dass der Gottesname im ersten Teil dreimal „rabb“ ist gegenüber „allah“ im zweiten Teil. Wenn man dazu bedenkt, dass in insgesamt 19 Suren das Wort „Allah“ überhaupt nicht vorkommt und durchweg „rabb“ verwendet wird, und dass sie selbst an anderer Stelle (S. 473) sieben sogenannte „Ra?man-Suren“ erwähnt (mit dem Gottesnamen „ra?man“), so ist dies schon verwunderlich. Wie man heutzutage schon im Religionsunterricht in der Mittelstufe lernt, wird im Pentateuch als Gottesname sowohl „Jahwe“ als auch „Elohim“ verwendet, wobei die Verwendung auch mit anderen Textmerkmalen korreliert, was schon vor über 300 Jahren Theologen dazu veranlasst hat, hier verschiedene Traditionsstränge – nach dem jeweiligen Gottesnamen „Jahwist“ und „Elohist“ genannt (als dritten oft den „Priesterkodex“) – anzunehmen, die später dann zu einem neuen Text zusammengefügt wurden. Es wäre also durchaus nicht abwegig, hier zumindest an die Möglichkeit ähnlicher zeitlicher oder örtlicher Textschichten oder –gruppen zu denken. Man könnte sie auch mit einigem Recht analog „Allah-ist“, „Rabb-ist“ und „Ra?man-ist“ nennen. Ein solcher Gedanke würde dann aber an dem muslimischen Axiom kratzen, dass der Koran portionsweise innerhalb von ca. 20 Jahren nur einem Mann, dem Propheten, übermittelt worden sei.

Wie wir sehen, beziehen sich die Hauptkritikpunkte weniger auf das, was im Buch gesagt wird, sondern auf das, was dort gar nicht oder kaum vorkommt. Ein anderes Beispiel ist die arabische Schrift. Alle älteren Koranmanuskripte sind in Varianten der Schrift geschrieben, die weder Vokalzeichen, noch Diakritika verwenden. Der Schriftzug des Surennamens „al-fil – der Elephant“ könnte dabei auch bei anderer Setzung der bedeutungsunterscheidenden Punkte als „qatala – er tötete“, „qutila – er wurde getötet“, „qatl – Tötung“ oder qablu – vorher“ gelesen werden. Dass sich vergleichbare Varianten auch als belegte Lesarten in späteren, vokalisierten Manuskripten finden, wird von ihr kaum thematisiert. Auf lediglich einer einzigen Seite (S. 762) finden sich in einer Spalte einer Tabelle arabische Schriftzeichen, wobei diese kaum lesbar klein und in einem sehr schlecht gewählten Font geschrieben sind, in dem die Vokalzeichen die Konsonantenschrift durchkreuzen.

Auch die gewählte Umschrift ist nicht die in der Orientalistik übliche, so werden z.B. die Sonderzeichen „?“ durch „kh“ und „š“ durch „sh“ ersetzt, was deshalb unglücklich ist, weil im Arabischen durchaus „k“ und „s“ von einem „h“ gefolgt werden können, die Umschrift ist also nicht eindeutig.
Ein letzter Punkt betrifft ihre völlige Missachtung von Islamwissenschaftlern, die nicht dem Mainstream angehören, hier vor allem Christoph Luxenberg, und dies sogar in einem Fall, in dem dessen Neudeutung koranischer Textteile ihren eigenen Vermutungen sehr entgegenkäme. Die von ihr mehrfach (S. 147, S. 247, S.464) erwähnten „geheimnisvollen Buchstaben“, d.h. Kombinationen von je zwei oder drei unerklärlichen Buchstaben am Anfang mancher Suren, hatte Luxenberg durch Vergleich mit ähnlichen Kombinationen syrischer Buchstaben in Messbüchern als Kürzel zum Vortrag von Psalmen erklärt und auch die einzelnen Kombinationen entschlüsselt. Dass sie sich selbst an mehreren Stellen auf den stärkeren Bezug des Koran zu den Psalmen bezieht, die Theorie Luxenbergs hierzu aber noch nicht einmal erwähnt, scheint darauf hinzudeuten, dass sie diese gar nicht kennt.

Ein abschließendes Urteil kann aus allen oben erwähnten Gründen nicht wirklich positiv ausfallen. Zwar legt Neuwirth von vielen Suren eine literaturwissentlich oft nicht uninteressante Deutung vor, die jedoch wesentliche Punkte philologischer Arbeit, vor allem die Bereiche Textkritik und historischer Kontext, außer acht lässt. Während die Auswahl der behandelten Suren sehr unausgewogen ist, finden sich andererseits massenhaft Redundanzen. Wenn „Opus magnum“ sich nach der Seitenzahl bemisst, ist die Arbeit sicherlich als solches zu bezeichnen, inhaltlich jedoch wird kaum etwas geboten, was nicht vorher schon da gewesen ist, es sei denn, man wertet die Arbeit als Qualitätssiegel für die poetische Schönheit des Koran und damit Grundlage für einen freundlicheren Dialog der Kulturen. Dies wäre dann aber kein „europäischer“ Zugang, sondern eher eine Art „kulturelles Appeasement“.

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© imprimatur März 2013


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[1]Franz Kamphaus, Von der Exegese zur Predigt. Über die Problematik einer schriftgemäßen Verkündigung der Oster-, Wunder- und Kindheitsgeschichten, Mainz 1968, 221.


[1]Vgl. Handbuch der Christlichen Ethik, hg. v. A. Hertz/W. Korff/ T. Rendtorff/H. Ringeling, 3. Bde., Freiburg i. Br. 1978–1982.
[2]J. B. Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz 1973, 100.
[3]Ebenso R. Bruch, Ethik und Naturrecht im Deutschen Katholizismus im 18. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 1 ff., 293 ff.
[4]Zum weiteren Kontext ethischer Verantwortungskreise gehören die sog. Bereichsethiken (Wirtschaftsethik, Bioethik, Technikethik, Umweltethik, Medienethik, Medizinethik u.a.m.), die sich als eigenständige, voneinander unabhängige Bestimmungsgrößen formieren. Der normative Bezugspunkt einer jeden Bereichsethik ist die Ethik (vgl. Korff, S. 86).
[5]Vgl. M. Köckert, Die Zehn Gebote, München 2007.
[6]Vgl. A. Görres, Pathologie des katholischen Christentums, in: Handbuch der Pastoraltheologie II/1, Freiburg 1966, 277 ff.


[1]Angelika Neuwirth. Der Koran als Text der Spätantike – Ein europäischer Zugang. Verlag der WELTRELIGIONEN, Berlin 2010.