Hadwig Müller
Wo das Wort zur Lebensquelle wird
Gottesdienste örtlicher Gemeinden in Brasilien und in Frankreich

Sie haben mich eingeladen, von den Gottesdiensten örtlicher Gemeinden in Brasilien und in Frankreich zu sprechen. Erstaunt und dankbar habe ich Ihre Einladung angenommen. Ich bin ja keine Spezialistin in Fragen der Liturgie. Auf der anderen Seite gibt mir Ihre Einladung Anlass, über meine Erfahrungen in Brasilien und Frankreich nachzudenken. Dieses Nachdenken hat immer auch subjektiven Charakter. Was ich von den Gemeinden und ihren Gottesdiensten in den genannten Ländern sagen kann, entspricht der Perspektive meiner Wahrnehmung, die von bestimmten Gemeinde- und Gottesdiensterfahrungen geprägt ist. Zu dieser Perspektive werde ich also zuerst etwas sagen. Eine kurze Bemerkung dazu, was „das Wort als Lebensquelle“ meint bzw. nicht meint, schließt sich an. Dann geht es um die Gottesdienste örtlicher Gemeinden selber – konkret gesprochen handelt es sich dabei meistens um Gemeinden ohne eigenen Priester.

Gemeinde- und Gottesdiensterfahrungen, die mich geprägt haben

Prägend bis heute sind für mich die Hochschulgemeinde in Freiburg in den 70er Jahren und Stadtrandgemeinden in São Paulo in den 80er Jahren.
In der Freiburger Hochschulgemeinde entdeckte ich zunächst, wie viel mein Theologiestudium mit meinem Leben, mit Erfahrungen, die wir miteinander austauschten, und mit der Gemeinschaft zu tun hatte, die sich unter uns bildete.

In diesem Zusammenhang bekamen Gottesdienste für mich einen Stellenwert, wie sie ihn vorher nicht – und nachher eigentlich nur in Brasilien hatten. Gemeinsam gestaltete Gottesdienste im Alltag, in denen unser Bedürfnis nach Stille und nach Solidarität Raum bekam, konnten wir aus der Hochschulgemeinde nicht mehr wegdenken. Vorbereitungen besonderer Gottesdienste wie die Osternacht ließen uns entdecken, welche Möglichkeiten sich hier eröffnen, um in den uralten Feiern unsere Sehnsucht wiederzufinden.

In diesem Zusammenhang muss Huub Oosterhuis genannt werden. Seine Texte und Lieder trugen dazu bei, dass Gottesdienste für uns zu Orten der Vertiefung und der Freiheit wurden: zu Orten des wechselseitig empfangenen und geschenkten Vertrauens und des Entdeckens, sowohl der Schönheit der Theologie als auch der Schätze, die in uns selber verborgen waren. Das Wort wurde zu einer unerschöpflichen Lebensquelle.

In den (Basis)-Gemeinden in Brasilien entdeckte ich Akzente der Frömmigkeit, denen ich vorher nicht begegnet war, und lernte, dass christliche Frömmigkeit je nach Geschichte und Kultur eines Volkes eine besondere Gestalt annimmt. Und ich entdeckte, dass die Optionen einer Ortskirche gestaltende Kraft haben.

Es waren vor allem zwei Akzente brasilianischer Frömmigkeit, die ich entdeckte: die Bedeutung der Heiligen und die Ehrfurcht vor dem Göttlichen („o divino“), dem der Welt und den Menschen innewohnenden heiligen Geist.

Ich begegnete einer Heiligenverehrung, die mir Stadtkind aus dem Ruhrgebiet in dieser Weise nicht vertraut war. Damit verband sich in Brasilien eine ausgesprochene Laien-Frömmigkeit, die besonders auf dem Land zu einer Vielzahl von Bruderschaften zu Ehren einer / eines Heiligen geführt hatte und die heute noch in einer je nach Heiligenfest spezifischen Tradition von Andachten und Wallfahrten lebendig ist.
Das andere Element brasilianischer Frömmigkeit begegnete mir keineswegs nur an religiösen Orten, sondern im Alltag der Beziehungen, besonders zwischen Eltern und Kindern: Mehr mit der Geste ihrer bittend ausgestreckten Hand als mit dem Wort „bênção“ bitten Jüngere die Älteren um Segen, den diese ihnen geben, indem sie ihnen Gutes wünschen. Es geht darum, Anteil zu geben an einem Segen, der sich allen schenkt, denen, die ihn erbitten, nicht mehr als denen, die ihn zusprechen. Die den Segen geben sind dadurch auch diejenigen, die ihn empfangen. Dieses Segensbewusstsein und das noch heute auf dem Land geläufige Segensritual haben mit dem in Brasilien tief verankerten Glauben an die Präsenz des Geistes in den Menschen zu tun. Der Geist, „o divino“, der allem innewohnt, was lebt, befähigt sie dazu, seine Güte auf Dinge und Menschen, Orte und Zeiten herabzurufen und sie zu segnen.

Zu diesen Elementen traditioneller Frömmigkeit kamen in den 80er Jahren Akzente hinzu, die mit der befreiungstheologischen Option der Ortskirche von São Paulo und unserem pastoralen Handeln zu tun hatte. Ich meine besonders die Bedeutung der Taufe und das Vertrauen zum eigenen Sprechen, und zwar in Verbindung mit schon vertrauten Gesten.

In den 80er Jahren war die Situation der Bevölkerung am Stadtrand von São Paulo von Abhängigkeit, von der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und einer Rechtlosigkeit gekennzeichnet, die umso unerträglicher war, als die Menschen sie als die ihnen zukommende Realität hinnahmen. Das grundlegende Unrecht, so schrieb 1992 die Konferenz der Ordensleute in Brasilien, ist das den Armen „geraubte Bewusstsein“. Ihnen wurde ein Bewusstsein der Unterlegenheit eingeimpft. Und das Schlimme an diesem Raub ist, dass er sich nicht erstatten lässt.

Unser kirchliches Handeln galt damals diesem Bemühen: bei der Bevölkerung das Bewusstsein zu wecken, dass sie Menschen und Bürger mit Rechten sind, zu deren Einforderung wir sie vorbereiteten. Ein solches Bürgerbewusstsein konnten wir nicht stärken, ohne zugleich das Christenbewusstein der damals noch fast ausschließlich katholischen Bevölkerung dafür zu stärken, welche Würde und welche Berufung und Verpflichtung ihre Taufe mit sich brachte.

Das erwachende Selbstbewusstsein als Bürger und als Christen offenbarte sich darin, dass Frauen und Männer in der Öffentlichkeit einer Behörde und einer Gemeinde zu sprechen begannen. Fasziniert entdeckte ich bei der Vorbereitung unserer Gottesdienste, dass biblische Texte die Menschen, vor allem Frauen, zum Sprechen brachten und sich so als sprechendes Wort erwiesen.

Dabei kam uns die Kraft der Gesten zu Hilfe. Zusammen mit einer brasilianischen Ordensfrau lernte ich, an der Geste des Segens anzuknüpfen, um den Glauben an den allen Menschen innewohnenden göttlichen Geist in Erinnerung zu rufen. In dem Maß, in dem ich in den Familien Gastfreundschaft erfuhr, lernte ich, dass das Miteinander-Teilen in ihrem Alltag zentrale Bedeutung hatte. Durch das Teilen, so das uralte Wissen der Leute, wurde das Wenige, dass sie hatten, nicht weniger, sondern mehr. Miteinander-Teilen und Segnen bzw. Segen-Erfahren gehörten als Wirklichkeiten zusammen. Als Gesten waren sie verbunden im Segnen und Teilen des Brotes. So wurde diese Geste auch bald zu einer vertrauten Weise, in unseren Wortgottesdiensten des Todes und der Auferstehung Jesu Christi zu gedenken.

Diese mich prägenden Erfahrungen mit Gottesdiensten erklären, in welchem Sinn ich die Betonung des Wortes als Lebensquelle verstehe bzw. nicht verstehe.

„Wort als Lebensquelle“

Das Wort, das im Zentrum unserer Gottesdienste in Brasilien stand, war nicht zu trennen von Gesten, die auch aus dem Alltag der Familien nicht wegzudenken waren. Gesten machten anschaulich, wie sehr das Wort der Bibel im Zentrum der Gottesdienste stand. So gehörte zur Verkündigung des Evangeliums eine Prozession, bei der die in Richtung der Bibel ausgestreckten Hände der versammelten Gemeinde das Wort segneten und von ihm Segen empfingen. Zugleich war das Wort der Bibel wiederum nicht zu trennen von dem vielfach gesprochenen und gesungenen Wort der zum Gottesdienst versammelten Frauen, Männer und Kinder.

Dieser doppelte Zusammenhang des Wortes der alten Schriften – mit den Gesten und dem Sprechen heutiger Menschen bedeutet, dass es ein Missverständnis wäre, bei der Hervorhebung des Wortes als Lebensquelle nur an das biblische Wort zu denken oder nur an das gesprochene Wort im Gegensatz zum sichtbaren Zeichen.

„Das Wort“ ist nicht im Unterschied zum sichtbaren Zeichen zu verstehen.
„Wortfeier“ impliziert, dass es sich nicht um die Eucharistiefeier handelt. Entsprechend denken wir bei „Wortgottesdiensten“ an Gottesdienste, die auf Zeichenhandlungen oder Gesten verzichten, weil die Mahlfeier und damit verbunden etwa eine Gabenprozession keinen Raum haben. Die Gottesdienste in den Basisgemeinden in Brasilien – und wir werden es auch von einer französischen Ortskirche hören – stellen das Wort in die Mitte, verbinden es aber mit Gesten, die entscheidend dazu beitragen, dass es zur Lebensquelle wird.

„Das Wort“ meint nicht Gottes Wort im Unterschied zum Menschenwort.
Die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes, die durch Gesten wie den Einzug mit der Bibel ausgedrückt wird, bedeutet nicht, dass es von der Gemeinde nur im schweigenden Hören aufgenommen werden darf, erklärt durch eine theologisch ausgebildete Person, die dem Wortgottesdienst vorsteht. Wir glauben zwar, dass das Schriftwort seine belebende Kraft auch dann entfaltet, wenn die, die es hören, nicht mit eigenen Worten darauf antworten können. Aber erst, wenn sie ihr Wort in der Versammlung der Gemeinde dazu sagen können, wird das Wort Gottes zu einer Kraft, die die Beziehungen der versammelten Christen und ihre Gemeinschaft belebt. Wo wir dem Wort der Menschen nur ein wenig von dem Vertrauen schenken, mit dem sich der Gott, den wir bekennen, Menschen anvertraut, wird das alte Wort der Schriften zum heute sprechenden Wort.

Wo das Wort zur Lebensquelle wird: Gottesdienste in Brasilien
Zuerst muss ich daran erinnern, dass ich nicht von der Gegenwart und nicht von Brasilien allgemein spreche. Vielmehr geht es um Gottesdienste am Stadtrand von São Paulo in den 80er Jahren.

Eine Anekdote zur Konkretisierung: Im São Paulo der 80er Jahre war Dom Paulo Evaristo Arns Erzbischof des ganzen Ballungszentrums von damals etwa 12 Millionen. Als wir Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Studienreise der Katholischen Akademie des Erzbistums Freiburg 1981 ein erstes Mal nach São Paulo kamen und in einer Begegnung mit Dom Paulo darum baten, Basisgemeinden kennenzulernen, sagte dieser uns, dass wir an einen der wuchernden Ränder der Riesenstadt gehen und dort ein Menschenrechtszentrum besuchen sollten. Ich erinnere mich, wie ratlos uns sein Hinweis machte. Verständnislos fragten wir nach. Wir waren ja im Zentrum der Stadt, wir hatten nicht viel Zeit zur Verfügung, und wir wollten Basisgemeinden kennenlernen, nicht unbedingt Menschenrechtszentren. Daraufhin erklärte uns Dom Paulo, dass die Ränder der Stadt kirchlich weit interessanter seien als das Zentrum, dass an den Stadträndern aber die Rechte der Bewohner mit Füßen getreten werden, dass die Kirche daher am Stadtrand Menschenrechtszentren gegründet habe und diese nun zu Orten geworden seien, an denen sich Basisgemeinden versammeln.

Bewusstseinsbildung in Bezug auf die Menschenrechte, Einforderung der Grundrechte als Bürger in den Randvierteln der wuchernden Stadt: das war die Option der Ortskirche von São Paulo. Diese Option begünstigte die Bildung der ersten Basisgemeinden. Sie legte bei denen, die sich in der Pastoral engagierten, kreative Kräfte frei, die in die Organisation der Leute investiert wurden, genauso wie in ihre theologische Begleitung und ihre Befähigung dazu, Versammlungen zu leiten und ihren Gottesdiensten Gestalt zu geben.

In dieses bei allem Elend und allen Kämpfen im Grunde optimistische Klima kam ich hinein, an den Ostrand von São Paulo in eine Pfarrei mit rund 100.000 Katholiken. In dieser Pfarrei waren wir vier Schwestern, ein junger brasilianischer Diözesanpriester und ich, die zusammenarbeiteten. Wir machten Besuche in den Straßen und Häusern und ermutigten die Frauen – sie waren es, die wir in erster Linie antrafen –,Nachbarinnen anzusprechen und sich, zunächst in den Zeiten, in denen Andachten zur Vorbereitung größerer Feste schon Tradition waren, reihum in ihren Häusern zu treffen. Anfangs kamen wir zu diesen Treffen hinzu, um die Scheu davor zu nehmen, zu bestimmten Themen Bibel und Lebensalltag zusammenzubringen. Wo später mehrere Gruppen den Wunsch hatten, sich unter den Schutz eines oder einer Heiligen zu stellen, ermutigten wir sie dazu, eine Gemeinde zu bilden. Nach und nach entstanden sieben recht unterschiedliche Gemeinden.

Meistens waren es Frauen, die sich, immer in Verbindung mit einem Gemeinderat, ermutigen ließen, die Leitung (animação!) zu übernehmen und darauf zu achten, dass Nächstendienst, Verkündigung und Gebet in der Gemeinde wahrgenommen wurden. Ich begleitete besonders eine Gemeinde am unteren Rand unseres Viertels und erlebte einen wirklichen Austausch. Was die Klugheit ihrer Kommunikation und die Sensibilität anging, mit der die Frauen auf die Bedürfnisse der benachbarten Familien achteten, einander in der Not beistanden und genauso freudige Anlässe gemeinsam feierten, war ich die Empfangende. Was Verkündigung und Gebet anging, war ich diejenige, die sie beharrlich ermutigte. Am meisten lernten wir miteinander bei der Vorbereitung der sonntäglichen Gottesdienste, die normalerweise dreimal im Monat ohne den Pfarrer und damit als Wortgottesdienste stattfanden.

Zwischen der Begrüßung der Gottesdienstversammlung und dem Segen am Schluss war Raum für Lieder und Gebet, für das Hören und Nachklingenlassen des Bibelwortes, für das Gedenken besonderer Nöte, aber auch „Gnaden“, für das Segnen und Teilen des Brotes und für die Ankündigung der einen oder anderen gemeinsamen Vorhaben. Wir lernten, dass die Gottesdienste, zu denen der Pfarrer nicht dazukam, umso eher eine Gestalt bekommen konnten, die von den feiernden Frauen, Jugendlichen, Kindern und Männern geprägt wurde. Viele konnten und sollten das Wort ergreifen, je nach ihrer besonderen Begabung.
Eine Person hatte das Ganze des Gottesdienstes im Blick. Sie stand dem Gottesdienst vor, lud die Gemeinde zum Beten ein und rief die Einzelnen, die verschiedene Aufgaben übernommen hatten. Eine andere Person hatte die Gabe, denen, die sich zum Gottesdienst einfanden, das Bewusstsein zu vermitteln, freudig erwartete Gäste zu sein. Eine dritte Person beherrschte die Kunst, die Lieder anzustimmen, so dass die Versammelten von ihrem Gesang selber mitgetragen wurden. Kinder und Jugendliche wurden in das Hören des Wortes einbezogen, indem sie die Bibel in einer Prozession vor die Gemeinde trugen und die für diesen Sonntag vorgesehenen Texte lasen. Eine Frau hatte die Gabe, die Hörerinnen und Hörer des Wortes so anzusprechen, dass diese Mut fanden, die Resonanz, die das Wort bei ihnen gefunden hatte, den anderen mitzuteilen. Wieder eine andere Frau war besonders begabt dazu, das in der vergangenen Woche Erlebte in Bitten und Dank vor Gott zu tragen.

Die Frau, die dem Gottesdienst vorstand, erinnerte daran, dass wir am Sonntag des Todes und der Auferstehung Jesu Christi gedenken. Sie bat alle in der Gemeinde um die Segensgeste über ein kleines Brot – das Kinder zuvor in einer Prozession nach vorn gebracht hatten – und lud alle ein, mit ihr dafür zu beten, dass es in keiner Familie an Brot fehlen möge. Sie brach das gesegnete Brot in kleine Stückchen und zwei Frauen teilten es an alle aus. Wer von einem Nachbarn, einer Nachbarin wusste, dass sie krank waren oder aus anderen Gründen am Gottesdienst nicht teilnehmen konnten, nahm für sie ein Stückchen von dem gesegneten Brot mit. Wer Dank und Bitte jetzt vor den anderen aussprechen wollte, konnte es tun. Ein Mitglied aus dem Gemeinderat übernahm es, an Dienste und Arbeiten zu erinnern, in denen die Gemeinde sich engagieren wollte. Die Person, die dem Gottesdienst vorstand, lud schließlich dazu ein, gemeinsam den Segen Gottes für diesen Tag und die neue Woche zu erbitten.

Dieser Gottesdienst, auf brasilianisch einfach „celebração“/ Feier genannt, war wirklich die Feier des im Leben mit all seinen Höhen und Tiefen geheimnisvoll anwesenden Gottes. Die Feier des Vertrauens in diesen Gott war von der Vielfalt derer geprägt, die hier ihr Vertrauen aussprachen und erneuerten. Ihre Vielstimmigkeit war das sichtbare Zeichen dafür, dass in den feiernden Basisgemeinden das Wort zur Lebensquelle wurde. Diese Vielfalt war möglich, weil wir uns auch auf Regeln geeinigt hatten. Negativ legten wir von Anfang an zwei Dinge fest: Kein Gottesdienst ohne Vorbereitung! Kein Gottesdienst, in dem eine Person alles allein tat! Positiv hieß das: In unserer Feier sollte das Wort, das gesungene, gebetete, das einander zugesprochene und gehörte Wort zwischen vielen zirkulieren. In dem Maß, in dem unsere Gottesdienste feste Gestalt annahmen, wurde es auch die Regel, dass die Gesten des Segnens und des Brot-Teilens hier ihren festen Platz hatten und dass ihnen diejenigen vorstanden, die alltäglich das Brot in ihrer Familie teilen: die Frauen.

Wo das Wort zur Lebensquelle wird: Gottesdienste in Frankreich

Hier stütze ich mich jetzt weniger auf meine eigene Beteiligung an Gottesdiensten als auf Zeugnisse aus zwei Bistümern: Poitiers und Belfort-Montbéliard. Im Erzbistum Poitiers bringe ich Erfahrungen von Menschen aus den für das Leben ihrer örtlichen Gemeinden verantwortlichen Equipen zusammen mit den Empfehlungen der Synoden und des 2011 emeritierten Erzbischofs Albert Rouet. Im Bistum Belfort-Montbéliard lernte ich 2006 den Diözesanpriester Louis Groslambert kennen, der Mitglied der Liturgiekommission der französischen Bischofskonferenz ist und in seinem Bistum seit Jahren die „acteurs de la parole“ ausbildet und begleitet – die „für das Wort Verantwortlichen“ in Katechese und Gottesdiensten. Er verfasste für das Bistum eine theologische Vorlage zu den Wortgottesdiensten („Célébrations de la parole“), die im Januar 2007 auf der Homepage des Bistums zugänglich war.

Poitiers

Eine Einschränkung voraus. Die Erfahrungen und Texte, auf die ich mich beziehe, stammen aus den Jahren 2004-2010. Es ist die Zeit eines Bischofs, der von sich bekennt, dass er staunt über die schöpferischen Fähigkeiten, die zu Tage treten, wenn man Menschen vertraut: Albert Rouet. Ein Satz von ihm am Ende seiner Amtszeit: „Ihr habt aus mir einen glücklichen Bischof gemacht“ gab den Titel des Buchs ab, das zu seinem Abschied erschien.

Die Erfahrungen in Poitiers, die von ihm inspiriert sind, faszinieren mich, weil sie sich nicht so sehr dem Druck einer Krise oder Ergebnissen der Marktforschung verdanken, sondern theologischen Prioritäten: dass Personen vor Funktionen kommen, dass Nähe bei den Menschen wichtiger ist als eigene Projekte, dass die Empfänglichkeit für den in Menschen wirkenden Geist allem anderen vorausgeht. Wo in vielen auch französischen Bistümern gefragt wird, wie die Kirche sich den veränderten Gegebenheiten so anpasst, dass die Gestalt, die sie über Jahrhunderte hin angenommen hat, erhalten bleibt, stellt Rouet die Frage anders: Was braucht die Kirche um zu leben? Das ist in erster Linie weder Geld noch Personal; vielmehr lebt Kirche da, wo Menschen das Evangelium Jesu Christi entdecken und weitersagen, wo sie einander und Fremden in Not und Ängsten beistehen und wo sie miteinander ihr Leben in Bitte und Dank vor Gott bringen.

Diese Konzentration auf das, was wirklich zentral ist, bestimmte die Vision von örtlichen Gemeinden, die Rouet mit Hilfe der Räte seines Bistums ab 1995 konkretisierte. Beispiele solcher Gemeinden waren Rouet in einem Amazonasbistum in Brasilien und in Kinshasa / DR Kongo begegnet. Überall dort, wo Christinnen und Christen für Verkündigung, Nächstendienst und Gebet Verantwortung übernehmen, wurden von Rouet und werden auch vom jetzigen Bischof Pascal Wintzer örtliche Gemeinden errichtet. Wo ein Team diese Sendung gemeinsam und für eine begrenzte Zeit annimmt (drei Jahre, nur einmal erneuerbar) und zugleich die Sendung zur Verbindung und zum Austausch mit anderen örtlichen Gemeinden sowie mit der größeren pastoralen Einheit, Sektor, Region und Bistum, geht der Bischof hin und instituiert bzw. erneuert eine schon instituierte örtliche Gemeinde in einer eigens dafür entwickelten Liturgie.

Die mit der Sorge für das Leben ihrer Gemeinde Beauftragten haben keine Weihe und kein Amt. Albert Rouet sagt in seinen Texten immer wieder, wie sehr er eine wirkliche Erneuerung von Kirche und Gemeinden wünscht, und dass diese nicht in erster Linie von einer Veränderung der Strukturen herkommt, sondern vom Geist, konkret gesprochen, von den Christinnen und Christen, deren Taufe die Anerkennung bekundet, dass sie vom Geist bewohnte und vielfältig begabte Menschen sind. Sie sind fähig, das Evangelium als Lebensquelle zu entdecken und zu verkünden, sie sind fähig zur Nähe bei denen, die sich schwer tun im Leben, und sie sind fähig dazu, die Kirche zu öffnen, um miteinander zu beten. Wenn sie es nicht tun, so darf der Priestermangel nicht als Entschuldigung dienen.

In den Dokumenten der Synoden (1993 und 2003) bis hin zu den Arbeitsunterlagen für die örtlichen Gemeinden von 2009 geht es immer wieder um „offene Kirchen“ und „sonntägliche Versammlungen“ als Zeichen für das Leben der Kirche.

Daraus hier nun die wichtigsten Punkte.
Eine geschlossen bleibende Kirche ist Hinweis darauf, dass sie tot ist. Die Kirche sollte auch nicht nur für die Stunde eines Gottesdienstes geöffnet werden, erst recht nicht nur an den wenigen Sonntagen, an denen ein Priester kommt, um die Eucharistie zu feiern. Vielmehr zeigen Christinnen und Christen der örtlichen Gemeinden, dass die Kirche lebt, wenn sie sich am Sonntag im Namen des dreieinen Gottes versammeln und in seinem Geist die den Menschen anvertraute Schöpfung und den Auferstandenen feiern. Wichtig ist nicht, wie viele sich versammeln (vgl. Mt 18,20), sondern dass sie bezeugen, dass die Kirche an ihrem Ort lebt und dass Christus sie ruft, um ihren Glauben inmitten anderer Menschen zu leben. Diese entdecken, dass ihre Existenz, ihre Freuden und Nöte von den zum Gottesdienst Versammelten mitgetragen werden.

Zu vermeiden ist die Idee, man gehe zur Messe in Fahrgemeinschaften wie zum Einkaufen im Zentrum. Damit würde man den Ort der eigenen Wurzeln und des Zeugnisses verraten. Zu vermeiden ist auch die Idee, dass Christinnen und Christen sich sonntäglich zum gemeinsamen Gebet versammeln und dabei die Eucharistiefeier imitieren unter Auslassung der Konsekration. Die sonntäglichen Versammlungen sind vielmehr Gelegenheiten, Neues auszuprobieren, eigene Gesten und Symbole ... Auf diese Weise können auch andere, Fremde, eingeladen werden; und es kommt vor, dass Menschen die Chance des eigenen Mitgestaltens von Gottesdiensten ergreifen, die sich von der Kirche abgewandt haben, weil sie zwischen dem, was dort geschieht, und ihrem Leben keinen Zusammenhang mehr herstellen können.

Bei dem sonntäglichen Gemeindegebet sollen die Tageslesungen im Zentrum stehen. Es braucht Zeit, sie zu meditieren und auch das eigene Leben in ihrem Licht anzuschauen. Die Gottesdienste der örtlichen Gemeinden stehen in Verbindung mit der Eucharistiefeier in der größeren Pastoraleinheit; und diese Verbindung findet öffentlichen Ausdruck beispielsweise in einer Fürbitte. Das Wichtigste für das gemeinsame Gebet ist aber, dass sich die Betenden gemeinsam dem Verlangen Gottes unterstellen, in der Bereitschaft, seinen Willen zu tun und sich an seiner Liebe zu den Menschen zu freuen.(Vgl. Guide de travail à l’intention des secteurs pastoraux paroisses et des communautés locales, Décembre 2010, 56-57)

Belfort-Montbéliard

Hier möchte ich vor allem das Dokument des Bistums „Quelques réflexions pour fonder la démarche diocésaine: Les célébrations de la Parole“ zur Sprache bringen – „Überlegungen für den Weg der Diözese mit Feiern des Wortes“. An diesem Dokument überzeugen mich die Klarheit der Ausrichtung und die deutlichen theologischen Grundaussagen. In aller Kürze hier ein Einblick.

Das Wort steht am Ursprung der Kirche. Das ist der Grund für die Überzeugung, dass die Kirche existiert, um den Menschen das Wort zur Nahrung zu geben. „Die Kirche lehrt und spricht, indem sie zum Herzen spricht und zum Wunsch zu leben.“

Beim Zweiten Vatikanischen Konzil hatte die katholische Kirche diese Bedeutung des Wortes neu ans Licht geholt. Unabhängig von der – heute abnehmenden Zahl von Priestern – muss also dem Wort Gottes größere Aufmerksamkeit gegeben werden. So fordern die französischen Bischöfe, in der Neuorientierung der Katechese in Frankreich (2006), dass zum Glauben eine stärkere Kultur des Austauschs von Erfahrungen im Hoffen und Glauben gehört. Im Bistum Belfort beauftragt der Bischof „Verantwortliche für das Wort“ („acteurs de la parole“) und schreibt: „Die Vielfalt der Orte und Verantwortlichen ermöglicht uns die Vision von einer Kirche, die auf das Wort hört und um das Wort versammelt ist.“ Ziel der Überlegungen ist es, die Veränderung zu erklären, die der Übergang zu einer Vielfalt von Gottesdienstformen bedeutet, und den Reichtum eines Wortgottesdienstes zu erschließen.

Zuerst geht es um den unauflöslichen Zusammenhang von drei Realitäten, die alle drei unverzichtbar sind: Eucharistie – Gemeindeversammlung – Bedeutung des Sonntags. Wie können die drei Elemente garantiert werden, wenn den Gemeinden nicht mehr an jedem Sonntag ein Priester zur Verfügung steht? Der Verzicht auf die Eucharistie, wenn kein Priester da ist, sie zu feiern, ist genauso unmöglich wie die absolute Privilegierung der Eucharistiefeier, die dazu führt, dass sie in einer von der Gemeinde manchmal weit entfernten Kirche oder an einem anderen Tag als dem Sonntag gefeiert wird. Dann verliert die Gemeinde ihre Sichtbarkeit, und die Bedeutung des Sonntags geht verloren. Genauso wenig kann gegenüber der Gemeindeversammlung und der Bedeutung des Sonntags die Eucharistie vernachlässigt werden.
Eucharistie, Gemeindeversammlung und Bedeutung des Sonntags müssen zusammengehalten werden. Im Wechsel mit der Messe sollen daher überall, wo es möglich ist, Gemeindeversammlungen stattfinden, die darauf hinweisen, dass die Kirche ihren Herrn feiert und dass sie jeden Sonntag das Gedächtnis des Paschamysteriums wachhält. Von den Priestern wird erwartet, dass sie an jedem Sonntag die Eucharistie feiern, abwechselnd in jeder der Kirchen, für die sie zuständig sind, damit so in allen Gemeinden die „eucharistische Orientierung“ aufrechterhalten werden kann.

Dies ist entscheidend: Es geht um Versammlungen, die der „eucharistischen Orientierung“ eines jeden Lebens Ausdruck geben. Jedes Menschenleben, das in Verbindung mit der Gabe gelebt wird, als die Christus sich selber hingibt, bis zum Tod und zur Auferstehung, hat eucharistischen Charakter. Das Ostergeheimnis, das wir in der Eucharistie verkünden, steht im Zentrum eines jeden christlichen Lebens. Wortgottesdienste sollen den versammelten Gläubigen entdecken helfen, dass der Übergang vom Tod zum Leben sich auf vielfache Weise in ihren eigenen Leben ereignet. Das Ostergedächtnis mit seiner eucharistischen Dimension kann und muss am Sonntag auch durch andere Gottesdienste als die Eucharistiefeier wachgerufen werden. Und auf diese sonntägliche Versammlung kann eine Gemeinde nicht verzichten, will sie Kirche sein. Ihre Versammlung ist „ein prophetisches Zeichen für Einheit und Frieden“.

Bei den Wortgottesdiensten geht es eben darum, dass das Wort zur Lebensquelle wird. Das Wort schenkt Leben, wenn die, die es hören, sich zu Eigen machen, dass Gott ihnen Vertrauen schenkt; dann weitet sich ihr Leben. Katholiken waren Jahrhunderte lang darum besorgt, die Gegenwart Christi im Sakrament von Brot und Wein zu betonen. Damit geriet seine wirkliche Gegenwart im Wort in Vergessenheit. Als Zeichen für Christus, der sein Volk heiligt, hat das Wort alle Merkmale eines Sakraments. Wenn sich in Zukunft die Gemeinden am Sonntag um das Wort versammeln, werden sie darin das Sakrament Christi finden. Sie werden sich in die Gegenwart des Auferstandenen hineinversetzen. Die Herzen werden ihnen brennen, wenn jede und jeder sagt, wie das Wort ihr / ihm geholfen hat beim Übergang vom Tod zum Leben. Allerdings muss an dem Bewusstsein der Gegenwart Christi in seinem Wort gearbeitet werden, z.B. durch Gesten und Symbole, die die Ehrfurcht vor dem Wort als Sakrament sinnlich erfahrbar machen. (Beispiel: der Einzug mit der Bibel unter Zurufen der Gemeinde – „Sophia!“– bei den Orthodoxen) Die wirkliche Gegenwart Christi in seinem Wort bedeutet, dass die Feier dieses Wortes schon Kommunion ist. Deswegen wird auf eine Kommunionfeier mit konsekrierten Hostien verzichtet.

Bei den Wortgottesdiensten geht es konkret darum, den Versammelten das Wort zu geben. Wenn Gott im Gespräch mit den Menschen ist, so muss dieses Gespräch auch zu einer Realität für jeden Einzelnen der versammelten Gläubigen werden. Das Wort Gottes geht den Menschen voraus und lässt sie frei. Sie suchen sich das Wort nicht aus, haben aber das Recht, nichts hören zu wollen, Nein zu sagen, Fragen und Einwände vorzubringen oder auch Ja zu antworten. Auch das Wort, das die Gläubigen an einem Sonntag hören, werden sie sich nicht aussuchen. Aber wer die Tageslesungen hört, kann Fragen, Bestürzung, Erstaunen, Dank oder Ablehnung aussprechen. Die Taufe schafft ein Volk aus Propheten. Wenn das zutrifft, hat jede / jeder etwas zu sagen von seinem / ihrer Weise, Christus zu hören und zu verstehen. Keine Angst, dass das Gespräch theologisch abgleitet! Die Menschen mögen sich schwer tun, ihre Gedanken auszudrücken und ihre Sätze zu ordnen, aber wer mit dem Heiligen Geist spricht, kann nichts Falsches sagen. (Thomas von Aquin: Was durch die Taufe allen gemeinsam ist, hat mehr Wert als was einigen Geweihten vorbehalten ist.) Wenn wir das Wort nicht nur hören, sondern zulassen, dass es uns von innen prägt, kann das Wort zum persönlichen Wachstum und zum Wachsen der Gemeinschaft beitragen. Dann bringt es die, die es hören, zum Sprechen und ist wirklich lebendiges, nämlich sprechendes Wort.

Vortrag beim Symposion „Versammelt im Namen des Herrn“, 8.-9.10.2012, Salzburg

Zur Person der Autorin:
Studium der Philosophie und katholischen Theologie in Münster und Freiburg (Diplom 1971), Studium der Psychologie in Freiburg (Diplom 1975), von 1997 - 2012 Referentin des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V. Aachen


© imprimatur März 2013
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