Die Ergebnisse der Sinus-Studie zeichnen ein dramatisches Bild der Lage der katholischen Kirche in Deutschland. Doch ist das wirklich so? Im Interview erläutert Religionssoziologe Michael N. Ebertz, der beratend an der Studie mitgearbeitet hat, die Aussagekraft der Erhebung und die Konsequenzen daraus für die Kirche.
Frage: Herr Ebertz, den Ergebnissen der Sinus-Studie zufolge erscheint 
  die Lage der katholischen Kirche in Deutschland dramatisch. Hat die Kirche hierzulande 
  überhaupt noch eine Zukunft?
  Ebertz: Zum ersten Mal wird in einer Studie massiv die Möglichkeit zum 
  Ausdruck gebracht, dass die katholische Kirche in Deutschland kollabieren könnte 
  - weniger durch massive Kirchenaustritte, als durch wachsende Irrelevanz und 
  Selbstbeschädigung. Selbst in solchen Milieus, die noch eine vergleichsweise 
  hohe Bindungskraft aufweisen, macht sich diese Vermutung breit. Die jüngsten 
  Skandale rund um sexuelle Gewalt in der Kirche haben offensichtlich zu dieser 
  pessimistischen Überlebenseinschätzung beigetragen, quer durch alle 
  Milieus. Zweifellos hat die Kirche einen erheblichen Statusverlust erlitten, 
  und das Ansehen ihres Führungspersonals hat erheblich gelitten. Eine entscheidende 
  Quelle der Zukunftshoffnung scheinen viele Milieus insbesondere in der Caritas 
  und in anderen - auch rituellen - Dienstleistungen der Kirche zu sehen. Sie 
  sind die beiden Legitimationsbeine, ohne die die Kirche in Deutschland schon 
  jetzt nicht mehr gehen könnte.
 Frage: Wie aussagekräftig sind denn die Ergebnisse der Erhebung?
  Ebertz: Sie bestätigen weitgehend die Befunde, die auch schon in anderen 
  Untersuchungen herausgekommen sind, allerdings in milieuspezifischen Varianten.
 Frage: Nun ist die Tatsache, dass Religiosität und kirchlich 
  gebundener Glaube in der Bevölkerung abnehmen, keine wirkliche Neuigkeit. 
  Was ist das Überraschende an den Ergebnissen der Studie?
  Ebertz: Neu ist die massive Kritik an den kirchlichen Strukturreformen sowie 
  die Vehemenz, mit der Kirchenmitglieder den Einsatz von Laien in der Seelsorge 
  einfordern. Und neu ist auch die erhebliche Verunsicherung bei den Milieus, 
  die bislang von der Kirche erreicht wurden, also den traditionellen Milieus 
  und insbesondere dem familienorientierten Milieu der "Bürgerlichen 
  Mitte". Das jüngere familienorientierte Milieu der "Adaptiv-Pragmatischen" 
  steht in erheblicher Kirchendistanz und bestätigt damit den Traditionsabbruch 
  in der Generationenfolge. Frappierend sind weniger die Ergebnisse als die Tatsache, 
  wie wenig kreativ die Verantwortlichen in der Kirche mit ihrer "desolaten 
  Verfassung" umgehen. Daniel Deckers von der "Frankfurter Allgemeinen 
  Zeitung" spricht von einer beängstigenden Kombination von Selbstüberschätzung 
  und Dilettantismus in einigen führenden Kirchenkreisen. Ich fürchte, 
  er hat Recht, zumindest in den Augen derjenigen Milieus, die selbst auf Professionalität 
  Wert legen. Diese Kombination ist Teil eines organisationspathologischen Syndroms 
  unserer Kirche, wozu auch die Tatsache gehört, dass derzeit keine Heilung 
  in Sicht ist. Die Kirche weiß nicht mehr, wer sie ist und wofür sie 
  da ist.
 Frage: Kann der von den Bischöfen im Jahr 2011 ausgerufene Dialogprozess 
  der richtige Weg für eine Neuausrichtung der Kirche sein?
  Ebertz: Was heißt hier "von den Bischöfen"? Es gibt Bistümer, 
  in denen der Dialogprozess nicht stattfindet. Diesem Prozess fehlt es an Transparenz 
  im Verfahren, einer kürzeren Zeitperspektive und vor allem an Verbindlichkeit, 
  auch in kirchenrechtlicher Hinsicht. Er wird zu einigen marginalen Verbesserungen 
  führen, aber nicht zu institutionellen Reformen, deren Fehlen die meisten 
  Milieus beklagen. 
 Frage: Welche Konsequenzen muss die Kirche ihrer Ansicht nach aus 
  der Studie ziehen?
  Ebertz: Derzeit laufen zahlreiche pastorale Modellversuche. Diese Versuche gilt 
  es, aufmerksam zu begleiten und zu vermehren. Hierbei werden Erfahrungen gemacht, 
  die für eine Kirchenentwicklung hilfreich sein können. Die Milieuperspektive 
  hat Einzug gehalten bei der Planung neuer pastoraler Räume, bei der kirchlichen 
  Gebäudeplanung, bei der Gestaltung von Gottesdiensten, von Bildungsveranstaltungen 
  und beim Fundraising in einigen Diözesen. Es kommt meines Erachtens darauf 
  an, die Milieuperspektive zu einer Maxime in der strategischen Ausrichtung der 
  Kirche zu machen, damit sie wieder auf Wachstumskurs kommt und das Evangelium 
  auch in den künftigen Generationen kommuniziert wird und Bezugspunkt des 
  Handelns sein kann. Ich hoffe, dass die neue Milieustudie zu "fresh expressions" 
  in der seelsorglichen Praxis verhelfen kann. Die neue Milieustudie legt übrigens 
  nicht nahe, dass die Kirche jedem Trend nachläuft und dem Zeitgeist hinterher 
  hechelt. Aber modernisieren sollte sie sich, so sagen alle Milieus, damit sie 
  sich morgen noch in kritischer Zeitgenossenschaft einmischen und als Ort der 
  Sinnstiftung ernst genommen werden kann. 
Das Interview führte Christoph Meurer.
Michael N. Ebertz ist Religions- und Kirchensoziologe an der Katholischen Hochschule Freiburg.
 
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