Warnung vor einer Entwarnung

Die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche warnt in einer Presseerklärung eindringlich davor, die am 7. Dezember 2012 in Trier vom Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Stefan Ackermann, vorgestellten Ergebnisse der von Prof. Dr. Norbert Leygraf geleiteten Studie als Entwarnung für die Kirche zu intrerpretieren.

Der inhaltlich sehr eingeschränkte Ansatz dieser Meta-Studie konzentriert sich lediglich auf die Täter und ignoriert völlig die psychischen Auswirkungen auf die viel zahlreicheren Opfer. Vor allem entbehrt er einer Analyse des Versagens der Bistumsleitungen bis in die allerjüngste Zeit. Dem weltweiten immensen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust der römisch-katholischen Kirche werden die statistischen Auswertungen (à la Kinsey-Report) und ihre Interpretationen in keiner Weise gerecht und können somit auch nicht die von Bischof Ackermann gewünschte „neue Qualität in der Debatte um den Umgang mit Tätern im kirchlichen Bereich“ erbringen. Statt sich auf die einzelnen Täter zu konzentrieren, müssten die begünstigenden Kirchenstrukturen der römisch-katholischen Kirche (klerikaler Machtmissbrauch, Verständnis von Sexualität, Priesterausbildung und -auswahl sowie das Fehlverhalten der Ordinariate) kritisch überprüft werden.

Nach Auffassung der KirchenVolksBewegung, die zwischen Sommer 2002 und Ende 2011 mit einem eigenen Not-Telefon mehr als 400 Betroffene beraten und begleitet hat, werfen die bislang veröffentlichten Ergebnisse dieser Studie mehr neue Fragen auf, als dass sie Fragen beantworten.

Wie repräsentativ kann eine Untersuchung sein, die nur die vergleichsweise geringe Zahl von 78 Tätern umfasst und deren Vorauswahl von den Bistümern getroffen wurde? Warum waren nur 21 der 27 deutschen Bistümer bereit, sich an der Studie von Prof. Dr. Leygraf zu beteiligen? Wie sieht es mit den Ordensgemeinschaften aus? Der Stillstand der vor mehr als einem Jahr von der Bischofskonferenz mit dem Hannoverschen Kriminologen Prof. Dr. Christian Pfeiffer vereinbarten Untersuchung lässt vermuten, dass es kirchlicherseits kein wirkliches Interesse gibt, die Gesamtzahlen über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in Deutschland umfassend zu ermitteln.

Wie realistisch ist die in der Studie vertretene Schutz-These – des Missbrauchs verdächtige Geistliche, die weiter in der Kirche blieben, könnten durch ein soziales Kontrollnetzwerk vor Rückfällen geschützt werden – angesichts des fahrlässigen, fehlerhaften und hilflosen Umgangs der Bistumsleitungen in jüngster Zeit in Hildesheim und auch in Trier, dem Bistum von Bischof Dr. Ackermann?

Bischof Dr. Ackermann, der im Januar 2012 eine gravierende Fehlhandlung eingestehen musste, und alle anderen Bischöfe müssen sich fragen lassen, wie glaubwürdig sie sich für die von sexualisierter Gewalt Betroffenen einsetzen können, da sie gleichzeitig Dienstvorgesetzte der klerikalen Täter sind. Auf diesen unvermeidbaren Interessenkonflikt hat die KirchenVolksBewegung von Anfang an hingewiesen und fordert weiterhin unabhängige Ombudsstellen.

Wurde sichergestellt, dass eine klare Trennung zwischen den ursprünglichen Therapeuten der Täter und den Bearbeitern dieser Meta-Studie vorgenommen wurde?

Warum wird in dieser Studie und durch die Bischöfe immer noch der verharmlosende Begriff „sexueller Missbrauch“ verwendet, der in der Fachwelt seit Langem obsolet ist. Richtigerweise muss von „sexueller Misshandlung“ oder „sexualisierter Gewalt“ gesprochen werden.

Die von Prof. Dr. Norbert Leygraf im Auftrag der deutschen Bischöfe geleitete Analyse forensischer Gutachten der Jahre 2000 bis 2010 scheint das Ziel zu haben, die sehr komplexe Problematik kleinzureden und das Problem kleinzurechnen. Anhand der Gutachten-Analyse von nur 78 Tätern kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass es innerhalb der katholischen Geistlichen nicht mehr psychiatrische Störungen und sexuell abweichende Präferenzen als in der männlichen Gesamtbevölkerung gibt. Die weitaus meisten sexuellen Übergriffe von Priestern geschähen aus Gründen, die sich „dem normalpsychologischen Bereich zuordnen lassen und nur in wenigen Fällen Folge einer spezifischen Psychopathologie waren“. Nur die wenigsten katholischen Priester, die sich sexuell an Minderjährigen vergehen, seien im klinischen Sinn pädophil.

Übrigens: Auch die Glaubenskongregation, der Kardinal Ratzinger 2001 die Zuständigkeit für schwere kirchenrechtliche Vergehen zugewiesen hat, hatte im März 2010 mit weltweiten Zahlenangaben von nur 300 Fällen von Pädophilie „im eigentlichen Sinne“ argumentiert, dass „das Phänomen nicht so verbreitet sei, wie einige glauben machen wollen“. Doch allein schon die Zahlen aus den USA und Irland ließen damals die vatikanischen Angaben wenig glaubhaft erscheinen.

Dass für mehr als vier Fünftel der 78 untersuchten Geistlichen ein weiterer Gemeinde-Einsatz der Priester eingeschränkt oder ohne Bedenken empfohlen war, wirft die dringende Frage auf, ob die im August 2010 von der DBK überarbeiteten Leitlinien der von Papst Benedikt XVI. geforderten Null-Toleranz-Politik gegenüber straffällig gewordenen Priestern entsprechen. Den überarbeiteten deutschen Leitlinien nach – die übrigens, anders als Bischof Dr. Ackermann ausführte, für den einzelnen Bischof nicht verbindlich sind – sollen straffällig gewordene Personen nicht mehr in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden (Punkt 42), dürfen aber ansonsten unter gewissen Voraussetzungen (Punkt 43 bis 47) weiterhin als Priester in der Seelsorge arbeiten.

Wie die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, haben sich angesichts der Täterprofile auch „Auflagen“ und Kontrollen der Dienstvorgesetzten oft nicht als wirksam erwiesen, sondern Kinder und Jugendliche großen Gefährdungen ausgesetzt. Wir sind Kirche unterstützt die Forderung nach einer unabhängigen Kommission zur Aufdeckung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche und nach einer Melde- und Anzeigepflicht bei sexueller Gewalt und damit eine Überprüfung der Vorwürfe durch staatliche Stellen. Darüber hinaus fordert Wir sind Kirche wie viele andere die Aufhebung der Verjährungspflicht, da Opfer oft erst nach Jahrzehnten ihr Schweigen brechen können.

Wir sind Kirche erneuert auch die seit Langem vorgetragene Forderung, ehemalige Täter nicht nur aus der Kinder- und Jugendseelsorge, sondern aus jeglicher sakramentaler und seelsorglicher Tätigkeit abzuziehen, auch aus Krankenhäusern, Alteneinrichtungen und Justizvollzugsanstalten usw. Denn wenn dort jemand in einer Lebensbeichte auf das Thema sexualisierte Gewalt zu sprechen kommt, sind diese Priester, die ihre priesterliche Vertrauensstellung missbraucht haben, die denkbar ungeeignetsten Ansprechpartner.

Leider mehren sich die Zeichen, dass die im Jahr 2010 auf dem Höhepunkt der Aufdeckung jahrzehntelanger Vertuschung sexualisierter Gewalt eingeleiteten Maßnahmen schon wieder zurückgefahren werden. Die von der Bischofskonferenz im Jahr 2010 eingerichtete bundesweite Telefon-Hotline „Hilfe für Opfer sexuellen Missbrauchs“ wird zum Jahresende 2012 eingestellt mit dem Argument, dass es jetzt Beauftragte in den einzelnen Diözesen und bei den Ordensgemeinschaften gibt. Doch es ist nicht hinnehmbar, dass in einzelnen Diözesen immer noch Mitglieder der Bistumsleitung als Ansprechpersonen für Betroffene angegeben werden.

Wie die aktuelle Studie sieht auch Wir sind Kirche keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Zölibat und sexualisierter Gewalt und wendet sich gegen einen Pauschalverdacht gegen alle Priester sowie eine Dämonisierung der Täter. Doch der Pflicht-Zölibat und die Beschränkung des Priesteramtes auf Männer sind Ausdruck der Sexual- und Frauenfeindlichkeit einer männerbündischen Kirche, die sexualisierte Gewalt fördert und ihre Vertuschung ermöglicht. Deshalb müssen endlich die strukturellen Ursachen sexualisierter Gewalt in der römisch-katholischen Kirche in den Blick genommen werden:

Ohne eine grundlegende Änderung in der Einstellung zur menschlichen Sexualität wird der Teufelskreis von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt in der römisch-katholischen Kirche und auch in der Gesellschaft nicht zu durchbrechen sein.

Wir sind Kirche hatte bereits früher erhebliche Zweifel geäußert, ob die auf die Einzeltäter konzentrierten wissenschaftlichen Fallstudien, die die Deutsche Bischofskonferenz und das Münchner Erzbistum im Sommer 2011 unabhängig voneinander in Auftrag gegeben haben, wirklich zu den entscheidenden strukturellen Ursachen vorstoßen werden. Das von der Erzdiözese München-Freising Ende 2010 vorgestellte Gutachten der Rechtsanwältin Dr. Westpfahl hatte bereits in schockierender Weise aufgedeckt, wie – wohl nicht nur in diesem Bistum – von 1945 bis 2009 die Ordinariate gehandelt bzw. nicht gehandelt haben: Vertuschung mittels Verharmlosung, Einschüchterung und Nichtbeachtung der Opfer, Druck auf deren Eltern, gezielte Aktenvernichtung bis hin zur Erpressung homosexueller höherer Geistlicher. Aber auch dieses Gutachten war, anders als behauptet, keine wirklich externe Untersuchung und diente vor allem dazu, die Unschuld Joseph Ratzingers, der von 1977-1981 Münchner Erzbischof war, in dem für die Diözese München-Freising speziellen Fall H. nachzuweisen.


© imprimatur März 2013
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