Thomas Schüller
Die aktuelle Situation der Kirche aus kirchenrechtlicher Perspektive
in: Lebendige Seelsorge 63 (2012) 388 – 392. - Heft 6

Wird nach Gründen für die aktuelle krisenhafte Situation der Kirche gesucht, kommen viele Mängel und Probleme in den Blick, selten genug aber das Kirchenrecht. Dabei ist es in der römisch-katholischen Kirche als hierarchisch verfasster Gemeinschaft (societas hierarchica) Ausdruck der äußerlich fassbaren Seite der Kirche (LG 8), mit der vor allem der Papst und seine Kurie ihre Interessen rechtlich verbindlich und machtvoll durchsetzen. Gründe genug, aus kirchenrechtlicher Sicht die Lage zu betrachten. Thomas Schüller.

Unübersichtlich und widersprüchlich – so fällt kurz und knapp die Situationsbeschreibung der katholischen Kirche aus kirchenrechtlicher Sicht aus. Die Spannungen, Widersprüche und auseinanderdriftenden Entwicklungen innerhalb der Kirche selbst, spiegeln sich auch im Kirchenrecht als Herrschaftsinstrument der Hierarchie, allen voran der Papst, als absoluter Monarch, als Haupt des Bischofskollegiums, Stellvertreter Christi und Hirte der Gesamtkirche hier auf Erden (so c. 331). Die zum Teil euphorischen Hoffnungen, die man mit der Erarbeitung der beiden kirchlichen Gesetzbücher, zum einen für den lateinischen Rechtskreis – CIC von 1983 – und zum anderen für die unierten Ostkirchen – CCEO von 1990 – im Sinne einer rechtlichen Umsetzung der Beschlüsse des II. Vatikanums verknüpft hat, insbesondere, was die Aufwertung des Diözesanbischofs und der teilkirchlichen Ebene angeht, sind häufig resignierter Ernüchterung, auch in weiten Kreisen der Kirchenrechtswissenschaft, gewichen. Besonders Vertreter der wachsenden Gruppe von sog. „korrekten Kanonisten“ (in Deutschland vor allem Norbert Lüdecke, Bonn und Georg Bier, Freiburg, Lüdecke/Bier 2012), weisen mit Nachdruck darauf hin, dass der CIC von 1983 als Krönung des II. Vatikanischen Konzils (Lüdecke 2000) auch die alleinige rechtsverbindliche Auslegung dessen lehramtlicher Aussagen darstelle, wobei im Sinne der von Papst Benedikt XVI. ausgerufenen Hermeneutik der Kontinuität, das II. Vatikanum vollumfänglich die bahnbrechenden dogmatischen Setzungen des I. Vatikanums, insbesondere was die Frage des uneingeschränkten Jurisdiktionsprimates des Papstes angehe, bestätigt habe. Es gibt aber auch andere Stimmen, die wie Sabine Demel (Demel, 2010), oder Heribert Hallermann (Hallermann, 2010), konsequent orientiert an den lehramtlichen Vorgaben des II. Vatikanums, kritisch den kodikarischen Befund analysieren, und gleichzeitig mit guten Argumenten für eine Stärkung der Grundrechte aller Christgläubigen sowie einer forcierten Beteiligung aller Gläubigen an Entscheidungen in Form von verbindlicher Beratung in rechtlich abgesicherten Konsultationsorganen plädieren.

Insbesondere in der nachkodikarischen Gesetzgebung im Pontifikat von Papst Johannes Paul II. ist die Intention unverkennbar, den Vorrang ordentlicher Gewalt und die Autorität der Universalkirche, d.h. des Papstes selbst, gegenüber den Teilkirchen und ihren Vorstehern, d.h. den Diözesanbischöfen, als nachgeordneter Größe auch kirchenrechtlich untermauern und betonieren zu wollen. Beispiele gefällig?

Kirchenrechtlich unverbindlich

So erfreulich die Ankündigung des Trierer Bischofs Ackermann auf den ersten Blick sein mag, bald eine Diözesansynode für sein Bistum durchzuführen, wird dort über nicht viele strittige Themen zu debattieren sein. In einer Instruktion der Bischofskongregation und der Kongregation für die Evangelisierung der Völker aus dem Jahr 1997 zur Durchführung einer Diözesansynode heißt es: „Die zwischen der Teilkirche und ihrem Oberhirten und der Gesamtkirche und dem Papst herrschende tiefe Verbundenheit fordert, dass der Bischof von der Synodendiskussion Thesen oder Positionen ausschließt, die von der fortwährenden Lehre der Kirche oder dem Päpstlichen Lehramt abweichen bzw. disziplinäre Fragen betreffen, die der höchsten oder einer anderen kirchlichen Autorität vorbehalten sind und die unter Umständen mit dem Anspruch eingebracht wurden, dem Heiligen Stuhl entsprechende ,Voten’ zu übersenden.“ Lehramtlich und disziplinär entschiedene Themen wie die Nichtzulassung von Frauen zur Priesterinnenweihe, der Ausschluss von wiederverheirateten Geschiedenen vom Kommunionempfang und die Beibehaltung des Pflichtzölibates haben auf einer Diözesansynode als Themen demnach nichts zu suchen. Dies erklärt u.a., warum zumindest im deutschsprachigen Raum seit vielen Jahren keine Diözesansynode mehr durchgeführt wurde, denn die Themen, über die die Gläubigen engagiert diskutieren und per Beschluss abstimmen wollen, dürfen nicht besprochen werden. Um weiteren Unmut zu vermeiden, greifen die Diözesanbischöfe statt dessen eher auf pastoral wohlklingend titulierte, aber kirchenrechtlich unverbindlich bleibende Veranstaltungsformen wie „Diözesanforen“ oder „Diözesangespräche“ zurück, die letztlich eher den Charakter von homöopathisch wohl dosierten Beruhigungspillen, quasi Placebos ohne kirchenerschütternde Nebenwirkungen für das Kirchenvolk aufweisen; ein Befund, der sich durchaus auch auf den aktuellen Dialogprozess der Deutschen Bischofskonferenz problemlos übertragen ließe.

Streng und Uniform

Ein weiteres Beispiel sind die in der Öffentlichkeit zwar stark medial begleiteten, in ihrer durch das Verfassungsrecht gewährten Kompetenz jedoch weithin überschätzten Bischofskonferenzen. Faktisch besitzt die Bischofskonferenz nur wenige Gesetzgebungskompetenzen und ihre Gesetze treten auch nur mit römischer Bestätigung nach vorgängiger Prüfung in Kraft. Papst Johannes Paul II. hat mit seinem Motu proprio „Apostolos suos“ vom 21.5.1998 die Bischofskonferenz faktisch zu einer reinen Arbeitsebene für den pastoralen Austausch der Bischöfe eines Konferenzgebietes herabgestuft, der überhaupt nur in sehr engen Grenzen Entscheidungskompetenz in Lehr- und Rechtsfragen zukommt – und dies dann auch nur unter strenger römischer Vigilanz. Alle Versuche, die aus der Kirchengeschichte besonders in Frankreich und Deutschland bekannt sind, die nationalen Kirchen vor Ort aufzuwerten, wurden somit im Keim erstickt.

Ein letztes Beispiel aus dem Pontifikat Papst Johannes Paul II. kann zeigen, wie ernst es der römischen Kurie ist, alle Vollzüge der Kirche streng und uniform nach römischen Vorgaben auszurichten. Glaubte man nach dem II. Vatikanum vor allem in der Liturgie, dass neben der participatio actuosa des versammelten Gottesvolkes als Subjekt der Liturgie auch die Ausprägung eigener liturgischer Texte, Gesänge und Bräuche stärker Berücksichtigung im Sinne der Inkulturation des Glaubens finden würden, sind diese Erwartungen, zumindest in Europa, erheblich enttäuscht worden. Beredtes Beispiel ist die sog. „Fünfte Instruktion zur richtigen Anwendung der Konstitution über die Heilige Liturgie des Zweiten Vatikanischen Konzils – Liturgiam authenticam“ vom 7.5.2001, mit der die Sakramentenkongregation z.B. unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass in der Liturgie nur die Verwendung einer wortgetreuen Übersetzung des lateinischen Ursprungstextes akzeptiert werden könne. Wohin eine solche Haltung führen kann, hat sich in Deutschland am neuen Begräbnisrituale gezeigt, das nach nur kurzer Dauer von den deutschen Bischöfen „vom Markt“ genommen wurde, vor allem, weil die aktiv in der Pastoral Tätigen, die neuen liturgischen Texte für unbrauchbar erklärten.

Hoffnungszeichen?

War es das aus kirchenrechtlicher Sicht? Gibt es keinen legalen Spielraum für Pluralität im Sinne katholischer Weite, vor allem in den Teilkirchen? Ein erstes Indiz für Pluralität ist die Tatsache, dass zwei Codices vorliegen. Vor allem im Codex für die unierten Ostkirchen wurde im Respekt vor der Tradition dieser Kirchen beispielsweise die Wahl der Bischöfe als Modus der Bestellung und nicht die freie Ernennung durch den Papst kirchenrechtlich abgesichert. Warum sollte dies nicht auch in der lateinischen Kirche flächendeckend möglich sein, wo es doch über viele Jahrhunderte Praxis war (Müller 1977). Nachdrücklich wird in beiden Codices auf die Bewahrung des eigenen Ritus der jeweiligen Teilkirche geachtet, auch ein Zeichen für plurale Vielfalt und eben nicht für Uniformität. Kritiker könnten einwenden, dass der Preis für dieses Eingeständnis einer gewissen Pluralität die Anerkennung des Jurisdiktionsprimates des Papstes sei, wie es bei den unierten Ostkirchen der Fall sei. Unter diesen Vorzeichen ist es interessant, dass Papst Benedikt XVI. den zur römisch-katholischen Kirche konvertierten Anglikanern in der Apostolischen Konstitution „Anglicanorum coetibus“ im Jahr 2009 doch weitgehende Rechte hinsichtlich der Bewahrung ihrer liturgischen, spirituellen, aber auch disziplinären Traditionen zugesprochen hat. So sind z.B. auch auf Zukunft verheiratete Priester in dieser Gemeinschaft möglich (Wirz 2012). Es war wiederum Papst Benedikt XVI., der mit seinem Motu Proprio „Summorum Pontificum“ im Jahr 2007 für eine liturgierechtliche Pluralisierung des einen lateinischen Ritus gesorgt hat, nämlich indem er mit dem ordentlichen und außerordentlichen Gebrauch (usus) zwei Varianten zur Feier der Liturgie den Gläubigen ermöglicht (Rehak 2007). Ein weiteres Beispiel für rechtliche Vielfalt ist in Deutschland eine eigene kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit mit einer entsprechenden Gerichtsordnung (KAGO), die für alle kollektivarbeitsrechtlichen Streitfälle des besonderen kirchlichen Dienstrechts von Dienstgeber- und Dienstnehmerseite angegangen werden kann. Hier wurde der besonderen staatskirchenrechtlichen Situation Rechnung getragen, auch wenn sich die Errichtung dieser Gerichte in Zusammenarbeit der Apostolischen Signatur als höchstem Gericht der katholischen Kirche als ein durchaus mühsamer Prozess gestaltete. Diese Form des Gerichtes mit seinen zwei Instanzen gibt es nur in Deutschland. Ich erwähne dieses Beispiel, um an ihm zu verdeutlichen, dass gerade im für das Rechtsbewusstsein der Gläubigen wichtigen Feld der Gewährung von Rechtsschutz auch kodikarisch legitimiertes Entwicklungspotential für den Aufbau von kirchlichen Verwaltungsgerichten besteht, die nach kirchlichem Prozessrecht möglich wären, wenn es die Diözesanbischöfe denn nur wollten. Diese Verwaltungsgerichte könnten die Gläubigen vor allem dann angehen, wenn sie gegen Verwaltungsbescheide der bischöflichen Behörden rechtlich vorgehen wollten, die im Alltag der Gläubigen häufig den größten Ärger auslösen.

Der Glaubenssinn des Gottesvolkes

Ein letztes Beispiel, das zeigen kann, dass das Kirchenrecht mehr Ermöglichungsspielraum bietet, als gemeinhin angenommen wird. Das kanonische Recht kennt z.B. Situationen und Konstellationen, in denen ein Oberer von Rechts wegen die Zustimmung oder wenigstens den Rat eines Kollegiums einholen muss, bevor er eine Entscheidung gültig treffen kann (c. 127). Was spräche dagegen, dass die Diözesanbischöfe, in Aufwertung der Beratungs- und Zustimmungsrechte des kodikarisch fakultativ vorgesehenen Diözesanpastoralrates, diesem Gremium aus Gläubigen seines Bistums durch Partikularecht solche Beratungs- und Zustimmungsrechte in wichtigen Fragen der Diözese, beispielsweise der Neustrukturierung der pfarrlichen Strukturen, kirchenrechtlich verbindlich zuerkennen würde? Dies entspräche dem synodalen Charakter der katholischen Kirche, der in der Glaubenswahrheit fußt, dass alle Gläubigen durch den Geistbeistand befähigt sind, in allen (!) Dingen der Kirche den Glaubenssinn des Gottesvolkes (sensus fidelium) zu artikulieren und zum Wohl der Kirche einzubringen.

Vielleicht ist zum Abschluss aus ökumenischer Perspektive auch an den Umgang mit kirchenrechtlichen Normen in den Ostkirchen zu erinnern, die mit dem Prinzip der Oikonomia (Schüller 1993) versuchen, mit Blick auf den konkreten Einzelfall und das Heil der Seelen Gottes Barmherzigkeit in einer für die betroffenen Gläubigen schwierigen Situation umzusetzen. Ein virulenter und pastoral dringlicher Ort für eine solche Adaption ostkirchlicher Rechtspraxis wäre der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen in der katholischen Kirche (Garhammer 2012).


LITERATUR

Demel, Sabine, Handbuch Kirchenrecht: Grundbegriffe für Studium und Praxis, Freiburg 2010.

Garhammer, Erich; Weber, Franz (Hg.), Scheidung-Wiederheirat-von der Kirche verstoßen? Für eine Praxis der Versöhnung, Würzburg 2012.

Hallermann, Heribert, Ratlos – oder gut beraten? Die Beratung des Diözesanbischofs und die bischöflichen Beratungsorgane, Paderborn 2010.

Lüdecke, Norbert, Bier, Georg, Das römisch-katholische Kirchenrecht: Eine Einführung, Stuttgart 2012.

Lüdecke, Norbert, Der Codex Iuris Canonici von 1983: "Krönung" des II. Vatikanischen Konzils?, in: Wolf, Hubert, Arnold, Claus (Hg.), Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, Paderborn 2000 (= Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums; 4), 209-237.

Müller, Hubert, Der Anteil der Laien an der Bischofswahl: Ein Beitrag zur Geschichte der Kanonistik von Gratian bis Gregor IX., Amsterdam 1976.

Rehak, Martin, Der außerordentliche Gebrauch der alten Form des Römischen Ritus. Kirchenrechtliche Skizzen zum Motu Proprio Summorum Pontificum vom 07.07.2007, St. Ottilien 2009.

Schüller, Thomas, Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der salus animarum. Ein kanonistischer Beitrag zu Methodenproblemen der Kirchenrechtstheorie, Würzburg 1993.

Wirz, Christian, Das eigene Erbe wahren: Anglicanorum coetibus als kirchenrechtliches Modell für Einheit in Vielfalt? Essen 2012 (= Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici; Beihefte, im Druck).

Thomas Schüller, seit 2009 Direktor des Instituts für Kanonisches Recht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster; von 1993-2009 Leiter der Abteilung Kirchliches Recht und Bischofsnotar im Bischöflichen Ordinariat Limburg sowie Kirchenanwalt im Bischöflichen Offizialat Limburg und einige Jahre Persönlicher Referent von Bischof Franz Kamphaus; seit 2009 Direktor des Instituts für Kanonistisches Recht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster.


© imprimatur März 2013
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