Johannes Thomas
Was heißt „muslimisches Spanien“? (III)
Beispiele für die Notwendigkeit einer Entmythologisierung und die Möglichkeiten einer Neudeutung

Die Geschichte Spaniens, vor allem die islamischen Eroberungen, die nachfolgenden Reichbildungen und das Zusammenleben der drei monotheistischen Religionen (convivenzia) werden meist ohne kritische Quellenuntersuchung recht mythologisch und idealisiert dargestellt. Prof. Thomas geht den damaligen Ereignissen und Zusammenhängen, z.B. der Idealisierung der Bedingungen für die Philosophie, nach und analysiert sie. In der letzten Folge legte er die Informationen vor, die das traditionelle Verständnis der Mezquita in Cordoba als ursprünglichen Moscheebau in Frage stellen.

3.4. Das vermeintlich glückliche al-Andalus der Stammesverbände

Die idyllisierende Verklärung von al-Andalus hat in den letzten Jahrzehnten einen erneuten Auftrieb durch Pierre Guichard erfahren[1]. Die von ihm entworfene Theorie einer egalitären Stammesgesellschaft in al-Andalus hatte die Qualität einer Kulturrevolution. Jedenfalls beflügelte sie die Forschung, die archäologische ebenso wie die historische, in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Der Markt wurde überflutet von unzähligen archäologischen Studien und neuen, an Guichard anknüpfenden historischen Arbeiten[2]. Sie ließen das Bild einer friedlich und liebenswert-egalitaristisch zusammen lebenden Bevölkerung in al-Andalus entstehen, die dann im Verlaufe einer karikatural gezeichneten, von finsteren Mächten, d.h. von Mönchen, Nonnen, Rittern und Feudalherren getragenen Reconquista ins Unglück gestürzt wurde.

Argumente gegen solchen märchenhaften und ideologisierenden Unsinn liegen reichlich auf dem Tisch [3], aber weite Teile der spanischen Islamwissenschaft ebenso wie der Politik finden den Ausblick auf eine vermeintlich ungetrübt idyllische „convivencia“-Vergangenheit offenbar doch zu verlockend, um kritische Einwände goutieren zu können. Die lauten etwa: Ein für damalige Verhältnisse ziemlich straff geführter und verwalteter Zentralstaat konnte sich auf dem Boden von Stammeskulturen überhaupt nicht entwickeln[4]. Außerdem folgen Guichards Vorstellungen über egalitäre Formen des Lebens in Stammesverbänden den Illusionen einer erfahrungsgemäß auch nicht immer ganz interesselosen anthropologischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Danach sind die Strukturen beduinischer Stämme immer und überall gleich, was zu der irrigen Meinung führte, aktuelle Stammesstrukturen etwa auf der arabischen Halbinsel oder im Sudan seien eins zu eins auf die Stammesverhältnisse im Maghreb des 8. Jahrhunderts und in al-Andalus zu übertragen[5]. Nicht zuletzt gibt es für die von Guichard und anderen als Beleg für die Stammesstrukturen angeführten Bau- und Siedlungsformen in al-Andalus, insbesondere Burgen in Verbindung mit dörflichen Strukturen, also den sogenannten hisn/qarya-Komplex, zwar vorislamische Zeugnisse, aber keine Vorbilder in Syrien oder im berberischen Nordafrika. Auch sind nicht überall dort, wo arabische und berberische Siedlungen festzumachen sind, auch Burgen nachweisbar. Überhaupt waren die Berber-Ansiedlungen auch im Maghreb keineswegs Stammesorganisationen, die, wie Guichard meinte, auf Blutsverwandtschaft und Endogamie basierten. Vielmehr sind es übereinstimmende politische und wirtschaftliche Interessen, die zur Gruppenbildung führten. Damit entfällt jede Grundlage für eine Verknüpfung der archäologischen Befunde mit einer genealogisch definierten Stammesstruktur. Die weitaus häufigsten Vorkommen von Burgen gibt es im Übrigen ab dem 10., als sich die Zentralregierung mit dem ersten Kalifat eindrucksvoll stabilisiert, und dann vor allem unter den Almoraviden- und Almohaden im 11. bis 13. Jahrhundert. Sie sind also Ausfluss nicht von Stammesstrukturen, sondern von Interessen jeweiliger Zentralregierungen und dienen eindeutig der territorialen Verteidigung.

3.5. „Islamische“ Bewässerungstechnik als Grundlage für das Bevölkerungswachstum auf der iberischen Halbinsel ab dem 9. Jahrhundert?

Nach Auffassung von Forschern wie Thomas F. Glick[6] waren es die „islamischen“ Bewässerungssysteme, welche die Hauptgrundlage für den Reichtum der Omaiyaden in al-Andalus lieferten. Zweifellos haben sie entscheidend zur Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft und so zur Versorgung einer stetig wachsenden Bevölkerung beigetragen. Aber wie „islamisch“ waren diese Bewässerungstechniken? Glick findet Vorbilder dafür in der Nähe von Damaskus oder auch bei den Berbern. Aber macht sie das schon zu einer islamischen Erfindung? Zweifellos nicht. In beiden Regionen waren römische und von den Römern übernommene iranische Bewässerungstechniken ebenso schon in Funktion gewesen wie auf der iberischen Halbinsel; in Nordafrika und wohl auch in Spanien gab es außerdem schon vor den Römern die ausgeklügelten Systeme der Punier. Ein archäologisches Forschungsteam um K. Butzer hat denn auch schon 1985 für die auch von Glick besonders intensiv studierte Region um Valencia festgestellt, dass die für spezifisch islamisch gehaltenen Bewässerungsanlagen im Wesentlichen in einer Wiederherstellung der römischen Bewässerungssysteme bestanden haben. Die ausgedehntesten Systeme wurden im 8. und beginnenden 9. Jahrhundert, also in einer Zeit wieder in Gang gesetzt, als die berberische und arabische Besiedlung noch relativ wenig ausgeprägt und die einheimische Bevölkerung noch gar nicht in großem Umfang islamisiert war. Zwar kamen später noch neuere Techniken aus Nordafrika und aus Syrien hinzu, aber die römischen Systeme blieben weitestgehend unverändert bestehen, was schon deshalb nicht erstaunlich ist, weil auch in Nordafrika und Syrien u. a. römische Techniken bzw. von den Römern weiter geführte iranische bzw. punische Techniken funktionierten. Der Ausbau von Bewässerungsanlagen in den Hügellandschaften des Hinterlands von Valencia seit dem 10. Jahrhundert folgte ebenfalls weitgehend dem römischen oder auch generell mittelmeerischen Modell. Ein Vergleich der frühen römischen Systeme mit den späteren unter islamischer Herrschaft weiter geführten Systemen zeigt, dass es zwar Unterschiede zwischen ihnen gibt, aber die liegen mehr in graduellen Veränderungen, nicht in der Art der Bewässerungstechnik. Die Kontinuitätsmerkmale sind wesentlich stärker ausgeprägt als die Veränderungen. An diesem Zustand änderte sich, anders als die Anhänger des islamischen These meinen, auch dann nichts, als die Region nach der Reconquista in die Hände der Christen aus dem Norden fiel, und auch nicht nach der definitiven Vertreibung der moriscos im Jahr 1609[7].

Es war auch nicht die Technik, welche das Bevölkerungswachstum erlaubt hatte, sondern umgekehrt verlangte das rasche Wachstum nach immer intensiveren Formen der landwirtschaftlichen Nutzung. Und dieses Wachstum war keine Konsequenz von religiös geprägten Kulturen wie die Mentalitätshistoriker im Gefolge der französischen Annales-Schule meinen, so, als habe die arabisch-islamische Kultur einen radikalen Bruch mit einer christlich-westgotisch verursachten Verelendung und Entvölkerung des Landes herbeigeführt und dann Wachstum produziert. Es waren vielmehr die klimatischen Veränderungen und das plötzliche Ende der zuvor regelmäßig wieder kehrenden Pestepidemien, welche das Anwachsen der Bevölkerung rund ums Mittelmeer und auch in Kontinentaleuropa bedingten[8].

3.6. Bevölkerungsentwicklung und ihre natürlichen Bedingungen

Deshalb ist man in jüngster Zeit, vor allem in der angelsächsischen Forschung, auf Distanz zu der Vorstellung gegangen, der Wechsel von einer westgotisch-christlichen zu einer arabisch-berberisch-islamischen Herrschaft habe einen tief gehenden gesellschaftlichen und kulturellen Bruch bedeutet. Stattdessen geht man von graduellen Prozessen eines allmählichen Übergangs (s. Wickhams „other transition“) aus. Dabei waren die Ergebnisse archäologischer Forschung von entscheidendem Einfluss, besonders einer Forschung, die nicht einäugig auf al-Andalus fixiert war, sondern den gesamten Mittelmeerraum und auch Kontinentaleuropa mit in den Blick nahm und sich zur Datierung ihrer Funde weitgehend der Radiokarbon-Methode bediente.

An Ergebnissen dieser Untersuchungen kann u. a. festgehalten werden: Etwa 50 bis 100 Jahre vor der „Eroberung“ von 711 gibt es bereits erste Anzeichen für neue Ansiedlungen im Süden Spaniens, meist kleine Weiler und Dörfer. Bei der Untersuchung der materiellen Zeugnisse (Dachziegel, räumliche Aufteilung der Häuser, Keramik) dieser neu entstehenden Siedlungen zeigt sich, dass sie die gleichen Muster aufweisen wie die Siedlungen des 6. Jahrhunderts und von nun an und bis etwa zur Mitte des 9. Jahrhunderts keine großen Veränderungen nachweisbar sind. So finden sich auch keine Zeugnisse traditionell berberischer Keramik. Auffällig ist nur der intensivere Gebrauch von Töpferscheiben statt handgemachter Keramik, der sich aus der Notwendigkeit einer gewissen Produktionssteigerung wegen des Bevölkerungswachstums erklärt. Töpferscheiben waren auch vor dem großen Einbruch im 5. und 6. Jahrhundert in Gebrauch gewesen. Erst ab etwa 950 oder 1000 lassen sich deutliche Veränderungen in der materiellen Kultur nachweisen[9]. Diese Entwicklung legt die Annahme nahe, dass das Bevölkerungswachstum nicht nur und vor allem durch die Zuwanderung von Angehörigen fremder Kulturen bedingt war, sondern insbesondere durch ein stetiges Wachstum der einheimischen Bevölkerung.

Das Wachstum folgte keinem gleichmäßigen Rhythmus. Vielmehr wuchsen Bevölkerung und Wirtschaftsleistung besonders rasch im 9. und 10. Jahrhundert, als sich Spanien ebenso wie alle anderen Mittelmeer- und kontinentaleuropäischen Länder dem Klimaoptimum annäherte. Als sich das Klima dann wieder deutlich abkühlte, etwa ab Ende des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts, wurden immer mehr Ansiedlungen aufgegeben. Dabei scheint allerdings auch eine Rolle gespielt zu haben, dass es zuvor zu einer allzu intensiven Bodennutzung gekommen war mit der Konsequenz fortschreitender Erosion. Wie dem auch sei: Als die Christen zu Beginn des 13. Jahrhunderts große Teile von al-Andalus eroberten, befand sich das Land längst schon im wirtschaftlichen und demographischen Niedergang.

Aufschwung und Niedergang vollziehen sich in den übrigen Mittelmeerländern exakt parallel zur spanischen Entwicklung. Auch im nördlicheren Kontinentaleuropa und auf den britischen Inseln vollzieht sich die gleiche Entwicklung, hier allerdings mit leichter zeitlicher Verzögerung. Es lassen sich also keine religiösen oder andere mentalitätsgeschichtlichen Besonderheiten mit den Veränderungen im Wachstum der Bevölkerung und der entsprechenden wirtschaftlichen Entwicklung korrelieren.

3.7. Religiöse Vielfalt oder: Welche Religion kam 711 nach Spanien? [10]

Nicht nur die „convivencia“-Ideologen, sondern überhaupt alle sich auf al-Andalus beziehenden Historiker erliegen einer grundlegenden religionsgeschichtlichen Fehleinschätzung. Sie liegt darin, dass Christentum, Judentum und Islam als in sich homogene und deutlich voneinander geschiedene Entitäten missverstanden werden. Schon der heutige Religionsbegriff selbst ist, auf die Verhältnisse im Frühmittelalter angewandt, ein Anachronismus. Auch gab es weder „die“ Christen, noch „die“ Muslime, noch „die“ Juden, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher religiöser Traditionen, die teilweise, über heutige konfessionelle Grenzen hinweg, miteinander verwandt waren. So gab es eine christlich-gnostische und asketisch-mystische, teilweise mit dem Namen Priscillian verbundene heterodoxe Tradition ebenso wie muslimische und jüdische gnostische Traditionen, die sich etwa im Werk des ersten andalusischen Philosophen, Ibn Masarra (Ende 9. Jahrhundert) widerspiegeln. Von den beiden einzigen heute vorliegenden Schriften Ibn Masarras erinnert die eine an einen christlichen Gnostiker, nämlich Pseudo-Ga?i? (der damals allerdings für einen Muslim gehalten wurde), die andere an die gnostisch-neuplatonisch-christlich beeinflusste jüdische Kabbala. Ferner scheint Ibn Masarra, darin keine Ausnahme im 9. Jahrhundert, die Lebensform der christlichen Eremiten fortgeführt zu haben. Darin folgte er seinem Vater, der sich mit der gnostisch-mystischen Lehre des Sufi-Heiligen Dhul-Nun al Misri befasst und bei dem Anhänger der Lehre vom freien Willen, Khalîl al-Ghafla, studiert hatte. Dessen Schriften waren in Córdoba verbrannt worden. Das tat allerdings der weiteren Ausbreitung der Mutazila und des Masarrismus gar keinen Abbruch. Ihre Blütezeit erlebten diese miteinander verwandten Strömungen sogar noch nach der Verurteilung der Lehren Ibn Masarras durch den Kalifen ?Abd al-Ra?man III unter dessen Nachfolger al-?akam II. Selbst unter den die malikitisch-sunnitischen Richter begünstigenden Amiriden verloren die als heterodox angesehenen Strömungen nicht an Zustimmung, und sie konnten sich im 11. Jahrhundert in den meisten taifa-Königreichen ganz ungehindert weiter entfalten.

Auch abgesehen vom Einfluss der Gnosis, die in Spanien regelmäßig mit dem Namen Priscillian verknüpft wurde, gab es sehr unterschiedliche und teilweise mit muslimischen Ansichten verwandte christliche Traditionen. Ein christlicher Märtyrer wie Alvarus von Córdoba beklagte um die Mitte des 9. Jahrhunderts, dass die meisten Christen Córdobas von Jesus das Gleiche dächten wie die Sarazenen, dass er nämlich nur Mensch, wenn auch ein ganz besonderer Mensch gewesen sei. Dieser Hinweis wird gerne als Beleg für den Einfluss der muslimischen Herren auf die eroberten Christen gedeutet. In Wahrheit bezeugt er aber nur das Fortleben der früher schon auf spanischem Boden heimischen heterodoxen christologischen Überzeugungen. Mindestens noch zu Beginn des 7. Jahrhunderts war der Arianismus der Westgoten lebendig, nach dessen Lehre Jesus nicht die gleiche Göttlichkeit wie dem Vater zugesprochen wurde. Im Süden des Landes waren Monophysiten präsent geblieben, nicht zuletzt beeinflusst durch monophysitische syrische Bischöfe, die das Land missionierten. Der Metropolit von Toledo, Elipandus, hatte dann um 800 eine Form des Adoptianismus propagiert, wonach Jesus seiner menschlichen Natur nach vom Vater nur adoptiert worden sei. Auch sein Adoptianismus, der den Süden des Landes, in dem offenbar Gegner der Trinitätslehre die Oberhand hatten, wieder an die spanische Kirche heranführen sollte, hatte eine christliche Vorgeschichte, während er im Islam überhaupt keine Rolle spielte und spielt.

Dass auch der Islam dieser Zeit differenziert zu betrachten ist, ergibt sich bereits aus unserer obigen Charakterisierung von Ibn Masarra in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als sich die Vorstellungen von dem, was Islam sei, nach allgemeiner Ansicht bereits verfestigt hatten. Um wie viel weniger konnte er dann zu Beginn des 8. Jahrhunderts bereits die später sich entwickelnde und dann dominante, allerdings weiterhin unzählige Varianten aufweisende sunnitische Gestalt angenommen haben! Dennoch spricht die gesamte Überlieferungsgeschichte zu Al-Andalus ganz undifferenziert von „dem“ Islam und davon, dass es in der Hauptsache muslimische Berber gewesen seien, die gemeinsam mit nur wenigen Arabern Spanien 711 erobert hätten. Dass die Berber mit einer neuen Religion namens Islam nach Spanien gekommen seien, wird von niemandem in Zweifel gezogen, obwohl sie doch erst kurz zuvor erobert worden waren, kein Arabisch sprachen und mit ziemlicher Sicherheit keinen Koran zur Verfügung hatten, denn den gab es noch nicht in seiner späteren Gestalt, und so konnte er damals noch nicht allgemein im Umlauf gewesen sein. In Wahrheit waren die Berber zu einem großen Teil Juden, der größte Teil aber christianisiert. Bis zum 7. Jahrhundert gab es in Nordafrika etwa 200 Bischofssitze. Dann allerdings nahm deren Zahl rasch ab. Im 8. Jahrhunderts zählte man nur noch 40, um die Mitte des 11. Jahrhunderts nur noch 11; umgekehrt könnte man aber auch sagen, dass es immerhin noch Jahrhunderte nach der angeblich totalen Islamisierung der Berber im Maghreb eben noch diese 11 Bischofssitze gegeben hat. Christlich-lateinische Inschriften finden sich selbst in Kairuan noch im 11. Jahrhundert[11]. Die schlichte Gleichsetzung von Berbern mit Muslimen entbehrt also für das frühe 8. Jahrhundert und noch für einige Zeit danach jeglicher sachlichen Grundlage.

Weiteres kommt hinzu: Etwa 30 Jahre nach der Eroberung Spaniens erheben sich die nordafrikanischen Berber gegen die arabischen Herren und kämpfen gegen sie im Namen Jesu, wie spätere Autoren schreiben, um auf diese Weise die angeblich mangelnde Bildung und Vernunft der Berber unter Beweis zu stellen. Die Barghawâta-Berber hatten ihren eigenen Koran und zwar einen in berberischer Sprache, in dem es regelmäßig statt „im Namen Allahs“ „im Namen Jesu“ hieß. Und wo der arabische Koran sagte „Gott ist groß“[12], sagten die Berber „Jesus ist groß“ . Auch sahen sich die Barghawâta-Anführer, ähnlich wie später die Fatimiden-Herrscher, als Mahdi, der in Vertretung des eschatologischen Jesus agierte und am Ende gemeinsam mit Jesus den Antichristen bekämpfen würde. Die Barghawâta galten als Kharidjiten, d.h. sie wurden, damit man eine bequeme Etikettierung aus dem Osten für alle unbotmäßigen „Muslime“ übernehmen konnte, der frühesten islamischen Sekte zugerechnet. Neben der Jesus-Verehrung zeichnete sie die Verpflichtung zur Askese im Gefolge der ostkirchlichen asketischen Bewegungen aus sowie die Abgrenzung von allen nicht-asketisch lebenden, „sündigen“ Muslimen. Damit standen sie den christlichen Donatisten in Nordafrika nahe, die zwar von Augustinus längst verdammt worden waren, aber nach Ausweis von donatistisch geprägten Grabtafeln noch im 7. und 8. Jahrhundert in Nordafrika tätig waren. Auch sie forderten Askese und die strikte Abtrennung von nicht-asketisch gesinnten und in Gemeinschaft mit Sündern lebenden Christen.

In Nordafrika, also bei den Berbern angesiedelt hatten sich ferner „Ibaditen“, und die bildeten keinen Stamm, wie die arabischen Geschichtserzählungen wegen ihrer an der jüdischen Geschichte orientierten Fixierung auf Stammesgeschichten behaupten, sondern waren „Gottesknechte“ im Sinne von AT und NT, wie schon ihr Name sagt. Passenderweise ließen selbst die arabischen Geschichtskonstrukteure sie aus dem christlichen Hira stammen; erst später galten sie dann als heterodoxe Muslime. Ihre Anführer im nordafrikanischen Tâhert, einem Haupthandelspunkt an der Handelsroute nach Westafrika, führten sich auf legendäre persische Helden zurück und nannten sich Rustam. Ihren Amtseid legten sie zunächst auf Persisch ab. Sie lebten immer in der Gemeinschaft mit Christen. Wenn sie bei kriegerischen Auseinandersetzungen eine Stadt verlassen mussten, zogen die Christen mit ihnen. Von Andersgläubigen, also „Sündern“, sonderten sie sich, ähnlich wie Donatisten und sogenannte Kharidjiten, streng ab, aber nur, wenn diese Andersgläubigen Muslime waren. Anderen, auch heidnischen Kulten, etwa der Widderverehrung gegenüber waren sie von ausgesprochen großer Toleranz. Das alles lässt auch diese „muslimischen Araber“ als ziemlich wenig arabisiert und auch als nicht sehr islamisch (im späteren Sinn) erscheinen. Sie waren eben ihrer Herkunft nach Christen, die dann in muslimischem Gewand auftraten. Viele von ihnen blieben aber offenbar christliche „Gottesknechte“. Der berühmteste Vertreter des christlichen Ibaditentums ist jener bereits oben erwähnte Hunain Ibn Ishaq al-Ibadi, der im 9. Jahrhundert vor allem in einem Zentrum christlicher Gelehrsamkeit, nämlich im persischen Gundeschapur wirkte.

Ibaditisch-kharigitische Berber kamen dann in größerer Zahl unter al-?akam II, der mit ihnen seine Kavallerie erheblich verstärkte, in der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts nach al-Andalus. Zugleich wanderten auch viele Berber-Familien zu dieser Zeit in Spanien ein. Die Ibaditen sollten nach dem Zusammenbruch des Kalifates ein eigenes taifa-Kleinkönigtum in Carmona errichten.

(Schluss folgt)


© imprimatur März 2013
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und schon hat uns Ihre Post erreicht.

Zuerst Ihre Adresse (wir nehmen keine anonyme Post an!!):
Name:

Straße:

PLZ/Ort:

E-Mail-Adresse:

So und jetzt können Sie endlich Ihre Meinung loswerden:


[1]Pierre Guichard, Al-Andalus: estructura antropológica de una sociedad islámica en occidente, Barcelona 1976; ders., La España musulmana: al-Andalus omeya (siglos VII-XI), Madrid 1995.
[2]Beispielhaft seien hier nur genannt: André Bazzana, Patrice Cressier, Pierre Guichard, Les châtaux ruraux d’al-Andalus: histoire et archéologie des husun au sud-est de l’Espagne, Madrid 1988; Patrice Cressier, Estudios de arqueología medieval en Almería, Granada 1992.
[3]Für eine Übersicht vgl.: James L. Boone, Lost Civilization. The contested Islamic past in Spain and Portugal, London 2009, 96-115.
[4]Eduardo Manzano Moreno, Conquistadores, emires y califas.: Los omeyas y la formación de al-Andalus, Barcelona 2006, 129-153.
[5]Adam Kuper, The Invention of primitive society: Transformation of an illusion, London 1988; Henry Munson, J., On the irrelevance of the segmentary lineage model in the Maroccan Rif, in: American Anthropologist, 91, 1989, 386-400.
[6]Hier insbesondere in Thomas Glick, Islamic and Christian Spain in the early middle ages: Comparative perspectives on social and cultural formation, Princeton, 1979.
[7]Karl W. Butzer, Juan F. Mateu, Elizabeth K. Butzer, Pavel Kraus: Irrigation agrosystems in eastern Spain. Roman or Islamic origin? In: Annals of the Association of American Geographers, 75, 1985, 479 – 504.
[8]Chris Wickham, The other transition: from the ancient world to feudalism, in: Past and Present, 103, 1984, 3-36; ders., Framing the middle ages: Europe and the Mediterranean 400-800, Oxford 2005, z. B. 9-100.
[9]Für die entsprechenden Ergebnisse von Ausgrabungen im Südwesten, also im heutigen Portugal vgl. James L. Boone, op. cit. Für den Südosten vgl. Sonia Gutiérrez Lloret, La cora de Tudmir de la antigüedad tardía al mundo islámico: poblamiento y cultura material, Madrid / Alicante 1996, 222-274.
[10]Johannes Thomas, “Ibaditen” / “Kharidjiten” / “Mutaziliten”: Kategorisierungsprobleme, Entstehungslegenden und synkretistisch-gnostische Strömungen im Westen des arabischen Reiches, in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Vom Koran zum Islam. Inârah. Schriften zur frühen Islamgeschichte und zum Koran, Bd. 4, Berlin 2009, 250-321.
[11]Michael Brett / Elizabeth Fentress, The Berbers, Oxford / Malden, MA 1997, 120-122.
[12]Andere Interpretation der entsprechenden berberischen Formel schlagen vor, eine Anrufung des Weingottes Bacchus darin zu sehen, was aber wegen der biblischen Kontexte nicht sehr wahrscheinlich ist. Plausibler ist da schon die bereits von Ignaz Goldziher vorgeschlagene Deutung, wonach darin ein Anruf an den aus römischen Inschriften bekannten Gott Bacax zu lesen sei (I. G., Materialien zur Kenntnis der Almohadenbewegung in Nordafrika, in: ZDMG,1887, Reprint: I. G., Gesammelte Schriften, hg. von H. Deosmogyi, Bd. 2, Hildesheim 1968, 214-215). Allerdings sind auch gegen diese Lesung philologische Bedenken vorgetragen worden, vom Problem der oft biblischen Kontexte ganz zu schweigen.