Irmgard und Benno Rech
Johannes Kühn: „Ein Hölderlin-Schicksal mit gutem Ausgang“

Kühn wurde 1934 als erstes von neun Kindern einer saarländischen Bergmannsfamilie in Tholey/Bergweiler geboren. Er lebt seit seinem zweiten Lebensjahr in Tholey/Hasborn. Bis zur Mittleren Reife war er Schüler des humanistischen Gymnasiums im Missionshaus St. Wendel. Er ist in einem gänzlich katholischen Milieu aufgewachsen. Die großen Feste des Kirchenjahres, das bekunden seine Gedichte, geben ihm den Lebensrhythmus.

Krankheitsbedingt konnte er das Abitur nicht machen, hat aber als Gast an den Universitäten Saarbrücken und Freiburg Germanistik gehört, außerdem war er eingeschriebener Student der Schauspielschule Saarbrücken mit dem Ziel, Radiosprecher zu werden. Weil er keine Stelle beim Funk bekam, arbeitete er von 1963 bis 1973 als Hilfsarbeiter in der Tiefbaufirma seiner Brüder. Ab 1973 gibt er den Broterwerb durch körperliche Arbeit auf und verlegte sich ganz aufs Schreiben. Sein Werk zählt zwei größere Erzählungen, viele Märchen und eine große Anzahl Dramen (meist Einakter, alle vor 1980 geschrieben). Gedichte, sein Hauptgeschäft, schrieb er vom 14. Lebensjahr an bis heute.

Sein Schreiben kennzeichnet seit Mitte der Fünfziger Jahre schon eine mühelose Spontaneität. Sein Vorsatz: „Ich strebe nach dem einfachen Sagen“. Die pragmatische Zweckbestimmung seines Dichtens: „Lyrik kann von Bedrückung frei machen“. Er hat keine überhöhte Vorstellung von seiner Arbeit: „Der Dichter muss sein Handwerk können wie ein Schmied.“ Sein Großvater war Schmied.

Das Werk Kühns lässt sich in zwei Schaffensperioden unterteilen, in die Zeit vor dem langen Schweigen (bis 1983) und in die Zeit danach (ab 1992). Er durchlebt in diesen 10 Jahren ein „Hölderlin-Schicksal mit gutem Ausgang“ (Ludwig Harig). In den Gedichten der ersten Phase schreibt er, der Außenseiter in der Literaturszene, eine breitgefächerte Poesie: existentielle Gedichte, Natur- und Personengedichte, viele im Psalmen-Ton, teils hymnisch, teils klagend (J. K. beruft sich öfters auf die Psalmen und die Psalmendichter oder auf die Propheten), Arbeitergedichte, in denen er als einer redet, der zehn Jahre im Graben geschuftet hat. „… das haftet seinen Gedichten an wie ein unabstreifbarer Erdenlehm … Verse, die also wirklich und wahrhaftig vom Bau sind und einmal nicht mit angenommener Proletenstimme sprechen.“ (Rühmkorf:„Tabu I“, S.316f).

Die zweite Phase (ab 1992) unterscheidet sich von der ersten durch eine neu gefundene Lebenseinstellung. Seine Sprache ist jetzt weniger emphatisch, direkter zupackend, durchsetzt mit distanzierender Komik, spielerischem Witz und einer guten Portion Selbstironie. Das Leiden an der Außenseiterrolle verliert an Gewicht, die Ungesichertheit der menschlichen Existenz überhaupt gewinnt an Bedeutung.

Religiöse Komponenten

Von den ersten Jugendgedichten bis zu seiner Alterslyrik greift J. K. immer wieder aufs Neue nach Wörtern aus dem religiösen Sprachbereich. Er löst dabei die religiösen Begriffe aus ihrem formelhaft dogmatischen Gebrauchsfeld und macht sie zum Ausdrucksmittel seiner eigenen Welterfahrung, sie werden zu Kernwörtern seiner Lyrik. Die religiöse Sprache wird wieder tauglich, elementares Erleben auszudrücken. Wörter wie Gnade, Segen, Fluch, Himmel, Andacht, Gebet verlieren das Jargonhafte und gewinnen in einem Läuterungsprozess ihre ursprüngliche Religiosität zurück. J. K. vermag auf diese Weise vergleichbar den Mystikern tiefer und berührender über den Menschen und die Natur zu sprechen. Michael Krüger, sein Verleger im Hanser Verlag, beobachtet bei J. K. „die Not, etwas sagen zu müssen, mit dem Vermögen, etwas sagen zu können“. Wenn diese Komponenten zusammentreffen, dann hörten wir eine Sprache, die in Form und Ton „von weit herkommt.“ Es ist der Ton des Lobpreisens und der Ton der Klage, die den sterblichen Menschen begleiten seit den Uranfängen der Kultur. J. K. müsse gar „einen Teil der Arbeit Gottes übernehmen. „Die Arbeit Gottes übernehmen heißt: das Lob des Schöpfers selbst in den Mund nehmen, den Menschen und Dingen eine Sprache geben.“ Unüberhörbar sind die Anklänge an die Sprache der Bibel. Ebenso verwendet er biblische Personen als Beispielfiguren menschlicher Schicksale, die uns erschüttern. In J. Ks Gedichten nähert sich die Sprache der jesuanischen Redeweise und wendet sich der Erde zu, gelangt zu einer vertieften Benennung des menschlichen Empfindens.
Im Alter werden direkte religiöse Anklänge seltener. Seine christliche Überzeugung tritt weniger buchstäblich zutage, aber sie trägt wahrnehmbar auch diese Phase seines Schaffens. Er schreibt Gedichte gegen die Verführbarkeit des Menschen zum Krieg, über die Hinfälligkeit des Alters, über die Lebenswelt eines saarländischen Dorfgasthauses.

J. K., der selber kein leichtes Leben hatte, solidarisiert sich immer wieder mit den Leidenden. Für sie erhofft er von Christus das Heil: „Christus, der Herr, / der auch litt / seinen Leib in Trümmer. / Von dem kommt / Ostergeläut.“ „Mit durch Tradition und Gewohnheit stumpf gewordenen Formeln und Normen verbindet ihn nichts“. (Pauly, Orientierung Nr. 7. 73. Jhg. S. 74) Er repräsentiert eine religiös gegründete Zuversicht und Heilserwartung. Diese Grundsicherung ermöglicht es ihm, seine Erfahrungen der Malaisen des Alterns mit leiser Selbstironie zu behandeln. (Vgl. Wilhelm Hindemith in CiG, 36/07. S. 293)

Angesichts von Gläubigen, die zur Kirche gehen, fromm in der Kirche knien, betrachtet er sich später als jemanden, der früher einmal zu ihnen gehört hat. „So bin ich auch / an allen Sonntagen / und Festen still gepilgert früher.“ Inzwischen hat er vom Gemeindeglauben Abstand genommen. „Im Alter, da Krankheit / und Armut an mir selber geißelten, / verlor ich Andacht, / verlor ich meinen Willen, / im Himmel einzukehren / mit Christenwohlfahrt. // Heut verehre ich den Herrn der Zweige schuf / und Sonnen, innig, geh nicht mehr / zum Knien in eine braune Bank, / verehre aufrecht stehend.“ („Vorübergang“ in: „Ganz ungetröstet bin ich nicht“) Johannes Kühn theologisiert nicht, Auslöser für seine Vergegenwärtigung religiöser Themen sind das Naturerleben, die mitmenschlichen Erfahrungen. Er muss das Religiöse nicht suchen, es spricht ihn an, berührt ihn im Gemüt. Dogmen umgeht er. Kühn bleibt bei sinnlichen Vorstellungen. Dennoch, in Gesprächen wie in den Gedichten offenbart er seine christliche Hoffnung auf ein persönliches Weiterleben über den Tod hinaus.

Peter Rühmkorf sucht in „Tabu I“ für J. K., den Unangepassten, einen ihm gebührenden Ort in der deutschen Literaturgeschichte: „Seine bedeutenderen Verse kommen … von weit her, und es tönen auch hörbar himmelhoch erhabene und sternenweit entrückte Stimmen in ihnen nach, der Klopstock der „Frühen Gräber“ („Den Auferstehungston, wo find ich ihn?“), der Hölderlin der „Späten Hymnen“ („Nun mit den Raben am Tisch des Lands und klagend, / sie nach Brot, / ich nach Freundschaft“), der „Gesang der Abgeschiedenen“ von Trakl („von guter Hand / sind den Fluss entlang / milde Bilder gereiht“), woraus sich natürlich leicht ein erlesener literarischer Traditionsfaden spinnen ließe, was wir aber lieber mit Berührungsmagie und poetischem Aneignungszauber in Verbindung bringen möchten.“ („Tabu I“, S. 315)


© imprimatur Dezember 2012
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