Irmgard Rech
Entdeckung des Kindes
zu Johannes Kühn, Phantasien: Ein Weihnachtsgedicht von der Kindwerdung

Die Wertschätzung der Kindheit als Daseinsform von eigenem Wert ist der Antike und dem alten Orient fremd. Das Kind wird in der Bibel als Typus der Ohnmacht und der menschlichen Unvollkommenheit gebraucht. Aber es gilt auch als ein Wesen, das noch unverdorben ist und dessen Spielen uns die Wiederkehr einer paradiesischen Weltordnung verheißt. Beim Lesen des Isaiasliedes von der Ankündigung des messianischen Reiches bleibt am unvergesslichsten die Vision vom spielenden Kind: Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. (Is 11, 8)

Verwandt dieser visionären Sehnsuchtssprache von der Neuwerdung des Menschen in einem ewig währenden Friedensreich ist die lyrische Sprache in dem Gedicht „Phantasien“ von Johannes Kühn. Mag der Titel eine Abschwächung des Visionären ins bloß Phantasiehafte signalisieren, um so sehnsuchtsstärker entfaltet die Sprache ihre Bilder von einer neuen Friedenswelt.

Phantasien

Mit ihnen leb ich trostreich
im Farbenrausch
der Kindheitswiesen: o ihr Phantasien
von den Sprüngen des Frosches auf die Schulter,
vom Heuschreckenflug auf den Kopf
und der Biene, die Honig brachte
auf den Mund und niemals stach.
Mir spukts im Kopf,
als sei es so gewesen!
Ich hätte gar dem Hasen
einen Blumenstrauß gepflückt
und in sein Heckenlager,
das verlassne,
in tiefer Frömmigkeit gelegt,
den toten Fuchs geküsst,
die Amsel zu Gesang befohlen,
so geht es märchenhaft
durch meinen Kopf.
O ihr Phantasien,
wie ihr betrügt.
Sie kommen oft,
die so verklärten Jahre!

Ein altgewordener Mensch erlebt in sich die Geburt eines Kindes, das er nie war, aber gerne gewesen wäre. Biographisch weiß man, dass Johannes Kühn in einer Zeit Kind war, von der er im Gedicht „Schulkinder“ festhält: Die Kriegsfackel flackerte durchs Land mit Bränden, / warf Ängste in die Menschen. Und später: Wir sollten nicht Lieder singen/ zu Gärten, - / im Kampfschritt gehen und schrein/ zum Tod der Feinde, hieß es. Über diese von Schrecken und Gewalt geprägte Kriegszeit, welche der Seele des Kindes die Schwärmerei für das Zarte verwehrt hat, lässt der alte Mann seine paradieshaften Kindheitswiesen erblühen. Hier begegnen sich Tier und Mensch in traumhaft schöner Vertraulichkeit und Zärtlichkeit. Beglückt von der Zutraulichkeit des Frosches, der auf die Schulter springt, vom Heuschreckenflug auf den Kopf, der jeden Schrecken nimmt, von der Biene, die Honig brachte/ auf den Mund und niemals stach, erwacht im Kind das Verlangen, den Tieren eine von Menschen noch nie erfahrene Verehrung und Liebe zu zeigen. Er habe als Kind immer wieder totgefahrene Füchse auf der Straße gesehen, erinnert sich der Dichter. Die habe man schleunigst und ohne innere Beteiligung beseitigt. Das jetzt geborene Kind in ihm holt nach, was der Altgewordene sich wünscht: Ich hätte gar dem Hasen/ einen Blumenstrauß gepflückt/ und in sein Heckenlager,/das verlassne,/ in tiefer Frömmigkeit gelegt,/ den toten Fuchs geküsst. Sind es gar die Phantasien einer empfindsamen jungen Wertherseele!

Der Dichter selber entlarvt diese Liebestaten an den Tieren, die er in der Haltung einer religiös gestimmten Frömmigkeit geschehen lässt, als bloße Phantasien und märchenhaften Spuk: Wie ihr betrügt! Zugleich beansprucht die Poesie ihre Wirklichkeit. Sie schenkt dem altgewordenen Mann immerwiederkehrende Bilder: Mit ihnen leb ich trostreich. Es sind Bilder von ganz neuer Zartheit und Innigkeit im Verhalten zwischen Mensch und Tier. Die Geburt des tief frommen Paradieskindes im alten Mann verdrängt das rüpelhafte Erdenkind, das er nicht mehr gewesen sein möchte. So fängt von der Wurzel an die Güte neu in ihm zu wachsen.

Ebenso erklingt die trostvolle Sprache von einem Neuanfang für alle Menschen aus der Geburtsgeschichte des Lukas. Das Bild vom Messiaskind in der Krippe bei den Tieren und den Hirten sowie der Friedenschor der Engel überm Stall verwandeln uns mit ihrer einfachen Poesie tiefer als jede Moralpredigt. Vorausgesetzt wir lassen das Kind in uns wach werden in der Art wie der Dichter mit seinen trostreichen Phantasien. Lukas lässt Jesus später das Kindsein als bleibende Grundhaltung hochpreisen: „Menschen wie ihnen gehört das Himmelreich.“ (Lk 18,16)

Die Gedichte „Schulkinder“ und „Phantasien“ finden sich in dem Gedichtband „Ganz ungetröstet bin ich nicht“ von Johannes Kühn, Carl Hanser Verlag, München 2007.


© imprimatur Dezember 2012
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