Ferdinand Kerstiens
Streit um die Auslegung des Konzils

Durch die Praxis der Kirchenleitung, in den Bischofsernennungen, in vielen neuen Entscheidungen, in der mangelnden Umsetzung des Konzils im neuen Kirchenrecht, im Erwachsenenkatechismus von 1993 und im Jugendkatechismus „Youcat“ von 2011 wird deutlich, dass maßgebliche Teile der Kirchenleitung, unterstützt von Gruppen in der Kirche, die neuen Aufbrüche des Konzils, die von vielen Gliedern der Kirche als notwendige Veränderung verstanden wurden und werden, wieder zurückdrängen wollen. Das wird besonders deutlich in der programmatischen Rede von Benedikt XVI vom 22. Dezember 2005 zur Auslegung des Konzils.

Der Papst unterscheidet zwischen zwei unterschiedlichen Interpretationen des Konzils: Die einen lesen die Konzilstexte im Sinne der Kontinuität der katholischen Lehre, die anderen im Sinne der Diskontinuität, d.h. sie stellen die Diskrepanzen in der Lehre fest und interpretieren die Texte progressiv, nach vorne, nach heute und morgen hin offen. Der Papst sieht in der ersten Weise die einzig legitime Interpretation der Konzilstexte und wirft den anderen eine Verfälschung vor. Es geht dabei vor allem um die Konzilserklärungen zur Religions- und Gewissensfreiheit, zur Ökumene, zu den nichtchristlichen Religionen, zur Liturgie, die das priesterzentrierte Opferverständnis zugunsten der Feier des ganzen Gottesvolkes überwindet, zum Kirchenverständnis, wo das Kapitel über die Kirche als Volk Gottes bewusst vor das Kapitel über die Hierarchie gestellt wurde, und zur „Kirche in der Welt von heute“. Es bleibt ein Rätsel, wie der Papst diese Beispiele der Änderung bisheriger Aussagen im Sinne der Kontinuität kirchlicher Lehre ohne Geschichtsklitterung verstehen kann. Es geht bei diesem Streit um eine fundamentale Auseinandersetzung um den Kurs der Kirche: Hat sie die Kraft, die Änderungen in den Aussagen des Konzils zu entscheidenden Themen als eigene notwendige Bekehrung zur Botschaft Jesu zu begreifen, oder versucht sie die Aussagen so zu verwässern, dass sie nichts mehr aussagen.

Gerade angesichts des 50. Jahrestags der Konzilseröffnung spitzt sich die Frage noch einmal zu in der Auseinandersetzung oder Versöhnung mit den Piusbrüdern, die offensichtlich ein besonderes Anliegen des Papstes ist. Die Piusbrüder haben ja Recht mit ihrer Interpretation der neuen Aussagen des Konzils, die von der früheren Lehre der Kirche abweichen. Gerade deswegen wollen sie das Konzil nicht akzeptieren. Kommt der Papst jetzt ihnen mit einer aufweichenden Interpretation des Konzils näher? Was für viele Christinnen und Christen die befreiende Botschaft des Konzils ist, ist für die Piusbrüder Verrat an der Botschaft. Wenn der Papst ihnen entgegenkommt, wird das die schon vorhandene Spaltung in der Kirche vertiefen.

Das „Aggiornamento“, „Heutigwerden“, das Johannes XXIII. zur Einberufung des Konzils gefordert hat, muss jedoch weitergeführt werden, wenn die Kirche neue Glaubwürdigkeit gewinnen will. Viele Katholikinnen und Katholiken werden sich dann mit Freude an diesen vorwärtsweisenden Prozessen beteiligen, die Kirche tragen und so der Frohen Botschaft vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit neue Kraft verleihen: zur Ehre Gottes und zum Wohl aller Menschen, der Armen und der Bedrängen zuerst.


© imprimatur Dezember 2012
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