Johannes Thomas
Was heißt „muslimisches Spanien“? (I)
Beispiele für die Notwendigkeit einer Entmythologisierung und die Möglichkeiten einer Neudeutung

1 Ideologisch-politische Vorurteile

Ideologisch-politische Vorurteile prägen seit jeher die Beschäftigung mit al-Andalus[1]. Erwähnt seien einleitend nur einige charakteristische Trends in der Beurteilung der Schlacht von Tours und Poitiers (732), bei der fränkische Truppen unter Befehl des fränkischen Hausmeiers Karl (seither „Martell“, der Hammer, genannt) ein Sarazenenheer besiegten. Die Schlacht selbst markiert nach Ansicht vieler heutiger Historiker lediglich eine Episode innerhalb der langen Reihe von Einfällen der Sarazenen ins südliche Gallien, die auch danach weiter gingen. Aber das ist der Relativierung zu viel. Immerhin verzichten die Sarazenen ab dieser Niederlage darauf, im südlichen Gallien und insbesondere in der Narbonnensis durch Beutezüge und Plünderungen ihre Schatzkammern zu füllen. Vielmehr suchen sie, wie zuvor schon in Spanien, durch Verträge mit lokalen Machthabern ihren Einfluss und ihre Steuereinkünfte nun auch hier dauerhaft zu sichern. Dabei sind die Herren der südfranzösischen Städte in aller Regel Bischöfe, die offenbar keinerlei Vorbehalte religiöser Art gegenüber solchen Bündnissen hegen. Die meisten dieser Bischofssitze werden später von den fränkischen Eroberern in Schutt und Asche gelegt. Auch werden sie von ihnen nicht wieder als Bischofssitze eingerichtet und ausgestattet. Man lässt sie also für ihre Bündnisse in eindrucksvoller Weise büßen. Die Einwohner Narbonnes, die sich ebenfalls lange gegen die Eroberung durch die fränkischen Brüder in Christo gewehrt hatten, töten und vertreiben schließlich die Sarazenen und öffnen den Franken die Stadttore. Das aber geschieht erst, nachdem die Franken ihnen und ihrem Bischof die gleichen Privilegien zugestanden hatten wie zuvor die Sarazenen, nämlich die Beibehaltung des westgotischen Rechts und ein Drittel aller Steuereinnahmen, eine für die Franken im Übrigen ganz ungewöhnliche Bevorzugung eines Bischofssitzes. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Sarazenen und den Bewohnern Galliens war es also nicht um Fragen der Religion oder Konfession und auch nicht um solche der ethnischen Zugehörigkeit gegangen.

Gleichwohl wurde spätestens seit Edward Gibbon, also seit dem 18. und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, im Ergebnis der Schlacht bei Tours und Poitiers vor allem ein welthistorischer Wendepunkt gesehen, nämlich nicht mehr und nicht weniger als eine Rettung des Abendlandes, über die man angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände in den muslimischen Ländern nur dankbar sein konnte. Spiegelbildlich zu dieser noch heute konservativen Kreisen selbstverständlichen Einschätzung versammelten die Gegner des „christlichen Abendlandes“ sich hinter dem Banner einer pro-islamischen Begeisterung und geißelten die Schlacht als katastrophale Schicksalswende Europas. Das antikirchliche Erbe etwa der französischen Revolution führte bei einer Reihe französischer Historiker zu lauten Klagen über den Kulturverfall, der dem Sieg der christlichen Barbaren geschuldet sei, eine Bewertung, die der New Yorker Historiker Levering Lewis noch 2009 von ihnen übernommen und mit Vehemenz vorgetragen hat. Hätten die Muslime gesiegt, so die Meinung dieser christenfeindlichen Ideologen, wäre die Renaissance ein paar Jahrhunderte früher in Europa aufgeblüht, es hätte keine Religionskriege gegeben, wie sie für die Christen charakteristisch gewesen seien usw. Dass es dann aber in Europa in späteren Jahrhunderten so ähnlich hätte aussehen können wie in den arabischen Ländern während der gesamten Neuzeit, kommt diesen Ideologen nicht in den Sinn, oder es wird bewusst verschwiegen. Übrigens reihte sich auch Adolf Hitler seinerzeit in den Chor der Sarazenen-Fans ein und meinte, mit ihnen im Bunde hätten die Germanen viel eher die Weltherrschaft erringen können als mit den verweichlichten Christen. [2]

Heute wird die teilweise in antiwestliche Aggressivität umgemünzte Nostalgie nach den angeblich paradiesischen Verhältnissen im muslimischen Spanien vor allem im arabisch-islamischen Raum gepflegt, und das drückt sich nicht nur in der Beliebtheit andalusischer Städtenamen für die Bezeichnung von Lokalen und Hotels aus. So verlangt Al Qaida, durchaus in Übereinstimmung mit der muslimischen Tradition, nicht mehr oder nicht weniger als die Rückgewinnung der einstmals muslimisch dominierten Gebiete. Und eben das verlangt auch die heute als relativ offen oder liberal gepriesene ägyptische Muslimbruderschaft. Jedenfalls hat sich bis heute niemand dort von entsprechenden Forderungen ihres Gründers distanziert.

Als Modell selbst für das heutige Zusammenleben von Kulturen und Völkern wird al-Andalus ganz ahistorisch von vielen Multikulturalisten und nicht zuletzt auch von der UNESCO gepriesen. Hier seien eine Toleranz und ein fruchtbar friedliches Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionen und Ethnien praktiziert worden, die für die heutige Zeit Vorbild und Maßstab sein könnten. Vielleicht möchte die UNESCO auf diese Weise – jedenfalls wäre das eine wenigstens halbwegs nachvollziehbare Erklärung - Brücken schlagen zur Bevölkerung islamischer Staaten, in denen ein völlig unrealistisches, verklärtes Bild von den Zuständen in al-Andalus weiterlebt.

Ähnliche ahistorische Fehlurteile werden u.a. von den spanischen Sozialisten verbreitet und gefördert. Zu solchen politisch nicht immer nur unschuldigen Blicken auf die muslimische Vergangenheit der iberischen Halbinsel meint der spanische Arabist Serafín Fanjul, da könne man mit dem gleichen Recht auch die frühere südafrikanische Apartheidspolitik zum Vorbild für das Zusammenleben der Völker erheben.

Die spanische Geschichtsbetrachtung ist aber noch durch weitere Vorurteilsmuster bestimmt. Noch bis in die jüngste Zeit gab und gibt es Verfechter einer ethnischen Kontinuität der Ibero-Romanen (unter Einschluss der Westgoten, die als Fortführer der christlich-römisch-hispanischen Tradition gesehen wurden). Das Wesen und der Charakter dieses Volkes sei durch Araber und Berber nicht substantiell verändert worden (z. B. Sánchez-Albornoz). Auch gab und gibt es – in jüngerer Zeit vor allem wohl wegen der islamischen Einwanderer - nicht wenige Anhänger der franquistischen Reconquista-Ideologie, die von Franco bemüht worden war, um seinen eigenen Kampf gegen die Republik als Rettung des christlichen Spaniens in der ehrwürdigen Tradition der Mauren-Vertreibung auszugeben. Er versuchte auf diese Weise, sich propagandistisch in die Tradition des Cid zu stellen, der allerdings nach Ausweis selbst des später geschriebenen Cid-Epos noch gar keinen Religionskrieg führte, sondern seine Verbündeten danach auswählte, ob und in welchem Maß sie ihm Reichtum und Machtzuwachs versprachen.
Bei den spanischen Intellektuellen im Exil und nach Franco brach dann als Gegenwendung gegen die Franquisten eine ähnlich unkritische und unhistorische Islambegeisterung aus. Sie motivierte etwa den spanischen Literatur-Nobelpreisträger Juan Goytisolo zu Schriften, in denen er die Wiedereroberung Spaniens durch die nordafrikanischen Muslime als große Hoffnung für sein Land beschwor. Nach den Attentaten von al-Qaida in Spanien ist der utopische Glanz solcher Wunschvorstellungen allerdings matter geworden.

2 Mythen fördernde Geschichtsschreibung zu al-Andalus

Generell gilt für die frühen arabischen Geschichtserzählungen, so Eduardo Manzano Moreno (ein selten kritischer Geist unter den spanischen Historikern), dass sie zwar von jeweils unterschiedlichen Personen und Ereignissen erzählen, aber die von ihnen gezeichnete gesellschaftliche und religiöse Realität stets als gleichförmig und als ganz und gar unveränderlich erscheinen lassen[3]. Überdies gilt für die frühen Geschichtserzählungen allgemein, dass sie nicht so sehr an einer Darstellung dessen, was sich konkret ereignet hat, interessiert sind, sondern an einer Art Heilsgeschichte weben. Im Übrigen liefern sie auch wegen ihrer Widersprüchlichkeit keine solide Basis für die Geschichtsschreibung.

Die beiden frühesten arabischen Berichte sind in Kairo bzw. aufgrund von Legenden, die in Kairo im 9. Jahrhundert kursierten, verfasst worden, und zwar von Ibn ?abib und von Ibn ?Abd al-?akam. Ibn ?abib, dessen Ausführungen nur in einem Manuskript aus dem 13. Jahrhundert vorliegen, schreibt mehr Heils- als Ereignisgeschichte und breitet am Ende eine apokalyptische Erzählung aus, die den Untergang Córdobas illustrieren soll. Ibn ?Abd al-?akams Eroberungsgeschichte wiederum fällt durch besonders viele Anleihen bei den Topoi der früheren Eroberungsgeschichten zu Syrien auf, die selbst vielfach biblische Geschichten aufgreifen. Auch von ihm ist kein Manuskript aus dem 9. Jahrhundert bekannt. Einzelne Informationen über die fränkische Eroberung von Narbonne zwingen dazu, die bisher bekannte älteste Niederschrift auf frühestens die 2. Hälfte des 10. Jahrhundert zu datieren. Niemand kann daher genau sagen, was von Kopisten im Laufe der Zeit geändert, ergänzt oder gestrichen worden ist. Gegenüber dem apokalyptischen Ton der von ?abib erzählten Geschichten fällt bei Ibn ?Abd al-?akam das prophetologische Motiv auf, insbesondere in der Gestalt des ?Uqba ben Nafi, der als ein 2. Moses geschildert wird (neben anderen biblischen Reminiszenzen: Führung des Volkes in ein gelobtes Land, Trockenfallen des Meeres, Wasser aus einem Stein, Rettung vor Schlangen). Mohammed scheint im Vergleich zu Moses kaum von Bedeutung gewesen zu sein. Er wird erst in einigen Geschichtserzählungen des 11. und 12. Jahrhunderts zu einer wichtigen Referenzfigur.

Trotz dieser und anderer Besonderheiten der Quellenlage vermisst man in der modernen Geschichtsschreibung zu al-Andalus weitgehend jene gesunde Skepsis gegenüber alten und vor allem vermeintlich alten Dokumenten, wie sie in früherer Zeit in der internationalen Orientalistik einmal geläufig war. So hat Ignaz Goldziher schon vor weit mehr als 100 Jahren in seinen Mohammedanischen Studien[4] darauf aufmerksam gemacht, dass rechtliche und andere Traditionen der Muslime wahrscheinlich nicht, wie von ihnen immer behauptet wird, auf Sprüche (Hadithe) eines Propheten Mohammed zurück gehen, sondern erst während des zweiten und dritten Jahrhunderts arabischer Zeitrechnung entwickelt wurden. Joseph Schacht hat dann in seinem Buch The Origins of Muhammedan Jurisprudence Goldzihers Analyse bestätigt und das eindeutige Urteil gefällt, dass man keine einzige Rechtstradition findet, die als authentisches Zeugnis der islamischen Frühzeit anzusehen ist[5]. Inzwischen wissen wir dank Benjamin Jokischs bahnbrechender Studie [6], dass zentrale islamische Rechtstraditionen auf arabische Übersetzungen der Justinianischen Digestsumma aus dem 7. Jahrhundert zurückgehen, die von Juristen aus dem Zweistromland Ende des 8., Anfang des 9. Jahrhunderts ins Arabische übersetzt worden sind. Danach erst wurden sie mittels erfundener Überliefererketten auf einen Propheten Mohammed zurückgeführt.

Auch die Biographien des Propheten Mohammed sind spätere Erfindungen. W. Raven hat in der Encyclopedia of Islam zu dieser Literatur festgestellt, dass die Lebensgeschichten nicht auf das Jahrhundert des Propheten zurück gehen, sich oft widersprechen und um so mehr über den Propheten zu wissen vorgeben, je später sie geschrieben wurden[7]. Ein solcher historiographischer Nonsens hat die al-Andalus Historiographen aber nur in höchst seltenen Fällen daran gehindert, genau diejenigen arabischen Erzählungen für besonders authentisch zu halten, die sich durch besonderen Detailreichtum auszeichnen, ganz gleich, wie späten Datums sie sind. So stützt sich der spanische Arabist Pedro Chalmeta genau mit dem Argument des Detailreichtums auf die Sammlung historischer Erzählungen Ajbar Machmûa aus dem 11. Jahrhundert oder gar auf die besonders detailreiche Historia Arabum des Toledaner Erzbischofs Rodrigo Jiménez de Rada aus dem 13. Jahrhundert. Chalmeta glaubt, und das tun auch fast alle seine Kollegen, dass Ajbar Machmûa viel authentisches Material von Augenzeugen aus dem 8. Jahrhundert beinhaltet, eben wegen der vielen Details. Natürlich ist einigen bedeutenden Arabisten und Historikern, so etwa dem Évariste Lévi-Provencal, vollkommen klar, dass manches, was die älteren arabischen Autoren erzählen, einen legendenhaften Charakter hat, aber sie vertrauen darauf, dass auch solche Legenden einen verborgenen real-historischen Kern besitzen und man hoffen muss, irgendwann einmal Belege für diesen Kern zu finden. Der Mediävist Roger Collins meinte daher ganz zu Recht zu dieser Art von Geschichtsschreibung, leider habe kein arabistischer Autor bis jetzt auch nur versucht, die arabischen Quellen als das zu sehen, was sie sind. Soweit sie überhaupt um eine kritische Darstellung bemüht seien, konzentrierten sie sich darauf, eine Art Glaubwürdigskeitshierarchie zwischen den sich oft widersprechenden Geschichtserzählungen zu etablieren (die aber natürlich immer nur auf bloßen Vermutungen beruhen, möchte ich zu Collins Urteil hinzufügen). [8]

Allerdings beweist auch Collins selbst nur wenig Kritikbereitschaft gegenüber den lateinischen Berichten, die ihm als Mediävisten naturgemäß vertrauter sind. Zweifellos ist insbesondere die in lateinischer Sprache verfasste mozarabische Chronik 754 informativer und auch älter als die arabischen Erzählungen. Da ihr Autor die Abfassung seiner Schrift auf das Jahr 754 festlegt, wird sie nicht nur von Collins, sondern von den meisten Fachkollegen für den authentischen Bericht eines Zeitgenossen gehalten. Die ältesten Manuskriptfragmente stammen allerdings erst aus dem 9. Jahrhundert und der älteste vollständige Text aus dem 12. Jahrhundert, was für Änderungen durch Kopisten einen kaum einzugrenzenden Raum lässt. Im Übrigen setzt die Schilderung der arabischen Geschichte in dieser Chronik eindeutig die Kenntnis der späteren abbasidischen Geschichtskonstruktion voraus. Allerdings scheinen die Schilderungen speziell kirchengeschichtlicher Ereignisse und von Entwicklungen des Westgotenreiches, die in der Tradition des Isidor von Sevilla und des Johannes Biclarus stehen, nach Ausweis auch anderer Berichte einigermaßen zutreffend zu sein. Auch über die islamische Zeit berichtet sie durchweg nüchterner und schon von daher glaubwürdiger als die vor allem mit biblischen und anderen Topoi arbeitenden arabischen Erzählungen. So scheint man ihr etwa entnehmen zu können, dass die Eroberung vornehmlich ein Ergebnis von Verträgen zwischen Sarazenen und denjenigen Westgoten war, die als Lokalherren eine gewisse Unabhängigkeit vom Königshaus entwickelt hatten. Das ist nicht nur deshalb glaubwürdig, weil sonst die so unglaublich rasche Eroberung der iberischen Halbinsel kaum zu erklären wäre. Auch die archäologischen Befunde haben, bisher jedenfalls, nur für sehr wenige Orte Zerstörungen nachgewiesen, die auf das 8. Jahrhundert datiert werden können, wobei aber nicht einmal immer klar ist, ob sie auf Angriffe von Sarazenen oder Mauren zurückzuführen sind. Dass die „Eroberungen“ häufig durch Verträge zustande gekommen sind, wird selbst durch die frühesten arabischen Erzählungen bestätigt, obwohl sie doch besonderen Wert darauf legen, dass die Araber Nordafrika und Spanien mit Waffengewalt erobert hätten, denn eine Eroberung statt eines Vertrags sicherte den Eroberern sehr viel weiter gehende Rechte und insbesondere auch Einkünfte. Dennoch finden sich selbst in den von solchen Interessen geleiteten Texten Hinweise auf Verschwörungen gegen den westgotischen („spanischen“) König und auf Verrat zugunsten der Sarazenen durch einzelne westgotische Adlige, also auf Eroberung per Vertrag.

Angesichts der dürftigen Quellenlage und der oben angesprochenen ideologischen Interessen und Vorurteile verwundert es nicht, wenn seitens der Geschichtsschreibung mehr dazu beigetragen wurde, Legenden über al-Andalus zu entwickeln oder zu verfestigen und weniger dazu, sie aufgrund dessen, was man über die frühen und einigermaßen dunklen Zeiten eben doch mit einiger Sicherheit aussagen kann, kritisch zu befragen. Das kann an dieser Stelle nicht in aller Ausführlichkeit nachgeholt werden. Ich beschränke mich darauf, wenigstens einige Beispiele für die Möglichkeit darzulegen, Legenden durch allgemein akzeptierte Fakten in Frage zu stellen.

3 Legenden über die spezifische Fruchtbarkeit von al-Andalus für Kunst, Wissenschaft und die Wirtschaft
3.1 Ein Nährboden für die Philosophie?

Bis heute lebendig erhalten hat sich der auch von der UNESCO tatkräftig beförderte Mythos der „convivencia“, des fruchtbar friedlichen Zusammenlebens und –arbeitens der Angehörigen der drei großen monotheistischen Weltreligionen unter muslimischer Herrschaft. Sie sei der Grund für die kulturelle Blüte von al-Andalus gewesen. [9]

Dass für solche Kooperationen zwischen Religionen, immer nur die gleichen zwei oder drei Namen von Christen und (sehr viel mehr von) Juden angeführt werden, hätte allerdings stutzig machen müssen [10], lebten wir nicht wegen der ständigen Bedrohung durch muslimische Hassausbrüche in Zeiten politisch korrekter Lobgesänge auf den Islam als einer Religion des Friedens.

Bezogen auf al-Andalus sitzt man zunächst einmal besonders gerne einer spanienzentrierten kulturgeschichtlichen Verblendung auf. Was sich nämlich in al-Andalus auf dem Gebiet der Philosophie entfaltet hat, ist nicht spezifisch andalusisch-islamisch-arabisch oder aus einer Zusammenarbeit mit Christen und Juden erwachsen, sondern hat seine Wurzeln in hellenistisch-iranischen Kulturleistungen. Und auch die konnten sich in al-Andalus nicht etwa aufgrund der religiösen (und ethnischen) Verhältnisse auf der iberischen Halbinsel selbst, sondern trotz der dort allmählich immer deutlicher vorherrschenden Formen von Islam, trotz des oft deutlich kulturfeindlichen Einflusses von islamischen Gelehrten und Richtern weiter entwickeln, und das immer nur in ziemlich kurzen Zeitfenstern.

Ein erstes Fenster öffnete sich im Kalifat von al-?akam II. (961 – 978), der an seinem Hof neben den sunnitisch-malikitischen Rechtsgelehrten auch Vertreter der hellenistisch geprägten Mutazila und der synkretistisch-neuplatonische Traditionen fortführenden Mystik um sich scharte. Zu seinem Schutz vor der allmählich orthodox verhärteten islamischen Geistlichkeit rief er zudem nicht-rechtgläubige, nämlich ibaditische (hierzu siehe weiter unten) Berber-Soldaten ins Land. Diese relativ liberale Phase endete mit der Machtübernahme durch Almansor 978, der zur Absicherung seiner Legitimität – er war kein Abkömmling der Omaiyaden, sondern ein Amiride – ein Bündnis mit den sunnitisch-malikitischen Ulemas einging und sie damit beauftragte, alle Bücher der Wissenschaft der Antike, welche die Logik und andere „nicht–islamische“ Wissenschaften betrafen, aus der Bibliothek seines Vorgängers zu entfernen und zu vernichten, eine Aufgabe, der sich die islamische Geistlichkeit mit Überzeugung und Hingabe widmete. Am Ende der Herrschaft der Amiriden wurde dann noch der Rest der Bibliothek in Cordoba, die einmal die größte Europas gewesen war, verkauft. Wissenschaftler, Philosophen und selbst Dichter wurden unter Anklage gestellt und flohen in den liberaleren Orient oder in das ebenfalls liberalere Nordafrika.

Kulturell fruchtbare Zeiten, die insbesondere der andalusischen Dichtung zugute kamen, brachen erst nach den Amiriden an, als das Kalifat zerbrach und sich in bis zu 54 taifa-Kleinkönigtümer auflöste, die oft Wert auf ein prachtvolles und kulturell reiches Hofleben legten. Als dann unter der Herrschaft der berberischen Almoraviden und Almohaden vom Ende des 11. bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts al-Andalus zu einer Art Anhängsel an ein Berber-Reich wurde, das sein politisches und kulturelles Zentrum in Fes bzw. Marrakesch hatte und von dort aus die Handelsrouten für Gold und Sklaven vom Nigerbogen bis zum Mittelmeer kontrollierte, war es mit dem prächtigen Hofleben in Sevilla oder Granada vorbei. Dennoch konnte dank der liberaleren Einstellung einiger afrikanisch-berberischer Herrscher der Einfluss der andalusischen Ulemas und Richter für kurze Zeit zurückgedrängt werden. So kam es in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts zu einer wenige Jahrzehnte umfassenden Blütezeit der Philosophie in al-Andalus, der dann aber gegen Ende des Jahrhunderts wieder durch die andalusischen Religionslehrer und –Richter ein brutales Ende bereitet wurde, als die Berber-Herrscher nämlich meinten, sie angesichts des militärischen Drucks der christlichen Reiche im Norden Spaniens als Verbündete gewinnen zu müssen. Damals musste Averroes ebenso wie Moses Maimonides aus Córdoba fliehen, und auch der große Philosoph, Literat und Wissenschaftler Abubacer zog den liberalen Hof in Fes seinem Heimatland vor.

Selbst al Maqqari, ein nordafrikanischer Muslim, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts seine Sammlung von Berichten über al-Andalus fertig stellte, meinte trotz aller Bewunderung für die andalusische Vergangenheit, al-Andalus sei ein sehr undankbarer Boden für die Philosophie gewesen. Man habe sie dort höchstens im Geheimen pflegen können.

(wird fortgesetzt)


© imprimatur Dezember 2012
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[1]Vgl. zu dieser Art von Vorurteilen auch Johannes Thomas, Frühe spanische Zeugnisse zum Islam. Vorschläge für eine differenzierte Betrachtung der Konflikte und religiösen Gemeinsamkeiten zwischen dem Osten und dem Westen des arabischen Reiches, in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte (Inârah. Schriften zur frühen Islamgeschichte und zum Koran, Bd. 3), Berlin 2008, 93 ff.; ferner: Ders., Araboislamische Geschichtsschreibung und ihre Auswirkungen auf Geschichtsbilder von al-Andalus (8. Jh.) – Quellen- und Tradentenprobleme, fiktionale Geschichte bei Ibn ?Abd al-?akam und das Märchen von den arabischen Stammesfehden, in: Markus Grosß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Die Entstehung einer Weltreligion I. Von der koranischen Bewegung zum Frühislam (Inârah. Schriften zur frühen Islamgeschichte und zum Koran, Bd. 5), 140-232.
In diesen Beiträgen finden sich jeweils auch die entsprechenden Literaturbelege. Hier werden nur Studien zitiert, die dort noch nicht aufgenommen waren.
[2]Adolf Hitler – Libres propos sur la guerre et la paix recueillis sur ordre de Martin Bormann, Paris 1954, 297: 28. 6. 1942; für die anti-jüdisch motivierte Nazi-Begeisterung des palästinensischen Mufti von Jerusalem ab 1933 und die spätere Zusammenarbeit von Arabern und Nationalsozialismus vgl. Klaus-Michael Mallmann / Martin Cüppers, Halbmond und Hakenkreuz. Das „Dritte Reich“, die Araber und Palästina, Darmstadt 2006.
[3]Eduardo Manzano Moreno, Conquistadores, emires y califas. Los omeyas y la formación de al-Andalus, Barcelona 2006, 15.
[4]Ignaz Goldziher, Mohammedanische Studien, 2 Bde., Halle 1889-1890, Bd. II, 1, 274.
[5]Joseph Schacht, The Origins of Muhammedan Jurisprudence, Oxford 1950, 149.
[6]Benjamin Jokisch, Islamic Imperial Law. Harun al-Rashid’s Codification Project, Berlin 2007.
[7]W. Raven, Sira, EI2, Bd. IX, Leiden 1997, 660-663.
[8]Vgl. hierzu und zum Folgenden J. Thomas, Frühe spanische Zeugnisse zum Islam, op. cit., passim sowie ders., Araboislamische Geschichtsschreibung, op. cit., 140 ff.
[9]Der Erfinder der „convivencia“- Theorie, Américo Castro (España en su historia. Christianos, moros y judíos, Barcelona 2001 (Erstausgabe 1948), hatte selbst noch darauf aufmerksam gemacht, dass das Zusammenleben nicht unbedingt friedlich oder freundlich war; es sei aber produktiv und stimulierend gewesen. Erst unter seinen Adepten wie etwa bei Maria Rosa Menocal (The Ornament of the World. How Muslims, Jews and Christians Created a Culture of Tolerance in Medieval Spain, London 2002) kam es zu der übertriebenen und populären, aber von der aktuellen Geschichtsschreibung nicht mehr ernst genommenen Idealisierung.
[10]Das gilt jedenfalls für wissenschaftliche Kooperationen, so etwa im Zusammenhang mit dem Kalender von Córdoba (oder der Dioskurides-Übersetzung, s. u.): Ann Christys, Christians in al-Andalus (711 – 1000), New York 2002, 134. Bischöfe, Gemeindevorsteher oder die (in den arabischen Quellen tot geschwiegenen) christlichen Märtyrer von Córdoba sind zwar namentlich bekannt, aber stehen nicht (mit Ausnahme eines Bischofs) für wissenschaftliche Kooperation.