Rudolf Lill
„Der Kardinal des Dialogs" und sein „geistliches Testament"

Carlo Maria Martini (geb. 1927, seit 1952 Priester, Jesuit, Professor am päpstlichen Bibelinstitut und an der Gregorianischen Universität in Rom, von 1980 bis 2002 Erzbischof von Mailand) ist am 31. August an seiner langjährigen Parkinson-Krankheit gestorben. Nach seiner Emeritierung war er zu weiteren Bibelstudien nach Jerusalem gegangen, doch 2009 in ein Kloster seines Ordens bei Mailand zurückgekehrt, weil er spezialisierte medizinische Hilfe brauchte. Den Tod vor Augen, hatte er weitere Behandlungen abgelehnt, gemäß einer Aussage in seinem letzten Buch „Credere e conoscere" (Glauben und erkennen, März 2012), wonach die modernen medizinischen Technologien einer weisen Ergänzung bedürfen und nicht fortgesetzt werden sollen, wenn sie dem Menschen als Person nicht mehr nützen.

Martini war bedeutender, aufs Neue Testament konzentrierter Gelehrter, kluger Kirchenpolitiker und mutiger, menschenfreundlicher Seelsorger, Publizist und Berater. Er diskutierte mit Gläubigen und Ungläubigen, bis zum Juni dieses Jahres hatte er im Mailänder "Corriere della Sera" (der größten, prinzipiell liberalen Tageszeitung Italiens) die Fragen vieler Leser mit großem Verständnis beantwortet.

Aufgrund seiner biblisch fundierten theologischen Bildung und aufgrund seiner langen, sorgfältig reflektierten Erfahrungen hat er stets für eine mutigere, offenere und dialogischere Kirche plädiert als es die der letzten Jahrzehnte ist. Bei der Bischofssynode des Jahres 1999 forderte er ein drittes vatikanisches Konzil mit freier Diskussion und eine kollegiale Kirchenführung im Sinne des letzten Konzils. Im selben Sinne ist er beim Konklave des Jahres 2005 aufgetreten, er warnte vor der undifferenzierten Polemik Joseph Ratzingers gegen den Relativismus. Bei aller Loyalität zum Papst hat er seine Meinung auch seitdem nicht selten deutlich ausgesprochen und damit sowohl reformistische Katholiken ermutigt wie den vom Vatikan und dessen Vasallen erschwerten Dialog mit der Moderne fortgesetzt.

Am 18. August hat Carlo Maria Martini einem Pater seines Ordens und einer Redakteurin des „Corriere della Sera" ein letztes großes Interview gegeben, welches die Zeitung am Tage nach seinem Tode veröffentlicht hat. Als Titel wählte sie eine zentrale Aussage des Kardinals „Die Kirche ist um 200 Jahre zurück. Warum rüttelt sie sich nicht auf? Warum haben wir Angst?"

Den Text des Interviews, den die beiden Gesprächspartner als „eine Art geistliches Testament" bezeichnen und aus dem hier einige Auszüge folgen, konnte Martini noch lesen und approbieren.

Auf die Eingangsfrage nach der heutigen Lage der Kirche antwortete der Kardinal: „Die Kirche ist müde, im Europa des Wohlstands und in Amerika. Unsere Kultur ist gealtert... Unsere kirchlichen Einrichtungen stehen leer, der bürokratische Apparat der Kirche wird immer größer, unsere Riten und unsere Gewänder sind pompös... Wir gleichen dem reichen Jüngling, der traurig wegging, als Jesus ihn rief, damit er sein Jünger werde. Ich weiß, dass wir nicht alles leicht aufgeben können. Aber wir könnten wenigstens nach Menschen suchen, welche den Nächsten nahe sind. Wie Bischof Romero und die Jesuiten-Märtyrer in El Salvador. Wo sind bei uns die Helden, an denen wir uns ausrichten könnten. Auf keinen Fall dürfen wir sie durch die Fesseln der Institution eingrenzen.

Pater Karl Rahner brauchte (für die Kirche) gern das Bild von der Glut, die unter der Asche versteckt ist. Ich sehe in der heutigen Kirche so viel Asche über der Glut, dass mich oft ein Gefühl des Unvermögens überfällt..."

Auf die Frage nach Hilfsmitteln gegen die Müdigkeit der Kirche nannte der Kardinal drei, die er allesamt als stark bezeichnete: 1. Die Konversion, 2. das Wort Gottes, 3. die Sakramente. Im Einzelnen führte er dazu aus:

1. Die Kirche muss die eigenen Irrtümer zugeben und einen radikalen Weg der Veränderung gehen, beginnend beim Papst und bei den Bischöfen. Die Skandale wegen der Pädophilie drängen uns dazu... Die Fragen wegen der Sexualität und aller Themen, welche den Körper betreffen, sind ein Beispiel dafür... Wir müssen uns fragen, ob die Leute die Empfehlungen der Kirche wegen der Sexualität noch anhören. Ist die Kirche auf diesem Gebiet noch eine Autorität, auf die man sich bezieht, oder nur eine Karikatur in den Medien?

Das 2. Vatikanisch Konzil hat den Katholiken die Bibel wiedergegeben.

Nur wer in seinem Herzen das Wort Gottes aufnimmt, kann zu jenen gehören, welche die Erneuerung der Kirche voranbringen und auf persönliche Fragen mit einer richtigen Entscheidung reagieren werden.

Das Wort Gottes ist einfach und sucht sich zum Gefährten ein Herz, welches zuhört... Weder der Klerus noch das Kirchenrecht können die Innerlichkeit des Menschen ersetzen. Alle Regeln, Gesetze und Dogmen sind uns gegeben, um die innere Stimme zu klären, sowie zur Unterscheidung der Geister.

Die Sakramente sind kein Mittel zur Disziplinierung, sondern eine Hilfe für die Menschen auf ihrem Weg und in den Schwächen des Lebens.

Bringen wir die Sakramente zu den Menschen, die eine neue Kraft brauchen? Ich denke an alle Geschiedenen, an die Wiederverheirateten und an die ‚erweiterten Familien'. Sie brauchen unseren besonderen Schutz. Die Kirche besteht auf der Unauflöslichkeit der Ehe. Es ist eine Gnade, wenn Ehe und Familie gelingen... Unsere Haltung zu den ‚erweiterten Familien' entscheidet über das Verhalten der nächsten Generation zur Kirche. Eine von ihrem Mann verlassene Frau findet einen neuen Gefährten, der für sie und ihre Kinder sorgt. Die zweite Liebe gelingt. Wenn diese Familie diskriminiert wird, wird nicht nur die Mutter, sondern es werden auch die Kinder verstoßen... Vor der Kommunion beten wir: ‚Herr ich bin nicht würdig'. Wir wissen also, dass wir nicht würdig sind... Die Liebe ist Gnade, sie ist ein Geschenk. Die Frage, ob Geschiedene kommunizieren dürfen, müsste umgekehrt gestellt werden.

Wie kann die Kirche denen, welche in komplexen familiären Situationen leben, mit den Sakramenten zu Hilfe kommen? Die Kirche ist um 200 Jahre zurückgeblieben... Dennoch bleibt der Glaube ihr Fundament. Der Glaube, das Vertrauen. Der Mut!...

Ca. 150.000 Menschen haben im Mailänder Dom von Kardinal Martini Abschied genommen. Er hat offenbar vielen Mut gemacht. Hoffentlich folgen andere Bischöfe, wie bisher im deutschen Sprachbereich anscheinend nur Franz Kamphaus, Helmut Krätzl und Reinhold Stecher, seinem Beispiel!


© imprimatur November 2012
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