Karl-Heinz Ohlig
Zur Diskussion um die Beschneidung
Beschneidung als religiöser Ritus

Grundsätzliches

Das Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung minderjähriger männlicher Kinder hat heftige Debatten ausgelöst. Muss die Beschneidung durch Gesetz verboten werden – oder ist sie schon verboten? –, weil sie eine Körperverletzung ist, die an Unmündigen vollzogen wird, oder ist sie um der Religionsfreiheit willen zu tolerieren?

Die Emotionen gehen hoch. Dabei sollte die Leidenschaft nicht dazu führen, an den Tatsachen vorbei zu reden. Es ist unbestreitbar, dass es sich um eine Körperverletzung handelt, zu der die Betroffenen selbst – im Judentum Säuglinge, im Islam Kinder – keine Einwilligung geben können. Natürlich können Körperverletzungen aus medizinischen Gründen notwendig sein, darüber hinaus gibt es solche aus ästhetischen Gründen, wie Schönheitsoperationen oder Tätowierungen, die aber grundsätzlich an die Zustimmung mündiger Betroffener gebunden sind.

Bei den Beschneidungen im Judentum und im Islam aber handelt es sich um religiöse Riten, die sich nicht auf medizinische Notwendigkeiten stützen. Wenn heute gelegentlich auch medizinische Vorteile von Beschneidungen ins Feld geführt werden (so z.B. geringere Infektionsgefahr usw.), so muss man doch sehen, dass diese, selbst wenn sie zutreffen sollten, für die religiösen Riten keine Bedeutung hatten und haben; darum geht es nicht.

Die Argumentation, dass religiöse Riten von der im Grundgesetz geschützten Religionsfreiheit her nicht zur Debatte stehen können, ist nur teilweise akzeptabel. Natürlich darf der Staat mit seinen Gesetzen nicht die Freiheit von Religionen beschneiden. Aber sie ist nicht unbeschränkt, es gibt hier auch Grenzen: Wenn eine Religion gegen grundgesetzlich geschützte Menschenrechte verstößt, kann sie hierfür nicht die Religionsfreiheit ins Feld führen. So gibt es einen Konsens, dass z.B. die Mädchenbeschneidung, also die Verstümmelung ihrer Geschlechtsorgane, trotz ihrer jahrhundertelangen und erschreckend weit verbreiteten rituellen Praxis nicht von der Religionsfreiheit geschützt ist, sondern bekämpft werden muss. Oder: Religiös begründete Missachtung von Frauen mit allen ihren möglichen Folgeerscheinungen sind in einem Rechtsstaat nicht tolerierbar usw. Mit anderen Worten: Die Religionsfreiheit gibt Religionen keineswegs Rechte, die nicht überprüfbar sind. Auch Religionen müssen sich an mittlerweile erreichten humanen Standards und ihren gesetzlichen Regelungen orientieren.

Allerdings bin ich der Meinung, dass im Fall der Beschneidung männlicher Säuglinge und Kinder in Deutschland eine Ausnahme gemacht werden sollte, und zwar aus übergeordneten historischen und „politischen“ Gründen. Gerade wir Deutschen haben nicht die Legitimität, unseren jüdischen Mitbürgern einschneidende Vorschriften zu machen – das verbietet unsere Geschichte. Etwas anders ist es bei den islamischen Jungenbeschneidungen. Hier aber gibt es politische Überlegungen, ob es opportun ist, unsere muslimische Mitbürger durch ein Verbot der Beschneidung dazu zu zwingen, diese in ihrer alten Heimat vornehmen zu lassen – ein Hindernis bei der intendierten Integration in unsere Gesellschaften. Ob dieser Gesichtspunkt gravierend genug ist, um eine Menschenrechtsverletzung akzeptabler zu machen, ist nicht leicht zu beurteilen. Aber es scheint „politisch“ nicht durchsetzbar, die jüdischen Beschneidungen zu tolerieren, nicht aber die muslimischen.

Dieses Abweichen von den ansonsten üblichen Rechtsauffassungen ist wohl deshalb tolerierbar, weil die Beschneidung männlicher Kinder zwar eine Körperverletzung ist, aber im Allgemeinen nicht von einer so gravierenden Schwere wie etwa die Mädchenbeschneidung, die in jedem Fall verboten werden muss. Insofern ist die Entschließung des Deutschen Bundestags zu begrüßen, weil er diesen Gesichtspunkten Rechnung trägt. Schwieriger wird es für ihn werden, diese Absichtserklärung gesetzlich so zu umschreiben, dass die Regelungen einer Überprüfung am Grundgesetz standhalten. Vielleicht könnte sie so aussehen, dass zwar weiterhin die Beschneidung als strafrechtliches Delikt angesehen wird, das aber nicht strafbewehrt wird. Der Versuch, die Beschneidungen rechtlich akzeptabler zu machen, indem die Beschneider verpflichtet werden, medizinische Kurse zu absolvieren (wie sieht es dann bisher aus?) oder Schmerzfreiheit durch vorherige Betäubung zu garantieren, sind wohl Augenwischerei. Schmerzfreiheit wäre nur durch Vollnarkose zu garantieren, die aber bei Säuglingen und Kindern medizinisch nicht unproblematisch ist.

Wünschenswert wäre allerdings, wenn offizielle Vertreter der betroffenen Religionen nicht nur auf ihrem religiösen Recht bestehen würden, sondern ein wenig argumentativer vorgehen würden. Oft gewinnt der Außenstehende den Eindruck, dass die eigenen Traditionen nicht zureichend reflektiert werden, obwohl es gerade im jüdischen Bereich hervorragende wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Wie also kam es zu dem Ritus der Beschneidung?

Zum religiösen Ritus der Beschneidung

Religionsgeschichtlich betrachtet, ist die Beschneidung der männlichen Vorhaut ein altes und in vielen Regionen der Erde verbreitetes Ritual – keineswegs vom Judentum erfunden und dann auch im Islam praktiziert. Wie z.B. Funde von steinzeitlichen Ritualmessern zeigen, gibt es die Beschneidung schon in prähistorischer Zeit.

Ihr ideologischer Ursprung und ihre Bedeutung sind unklar. Die These, es handle sich um eine Art von Initiationsritus, mag für manche Ethnien zutreffen. Es scheint aber, dass sie – in der Mehrheit der Fälle? – davon unabhängig vollzogen wurde, also nicht im Zusammenhang mit Lebenszäsuren wie Geburt oder Pubertät. Vielleicht war die Beschneidung oft nur ein Zeichen der Stammeszugehörigkeit, vergleichbar anderen Eingriffen am Körper wie Durchbohren der Nase oder Lippen oder Tätowierungen.

Natürlich waren in frühen Zeiten der Menschheitsgeschichte alle Praktiken eingebettet in religiöse Vorstellungen. Diese aber kennen wir nicht. Auch später wurde die Beschneidung nicht – wie etwa die Taufe – zum konstituierenden Ritus für die Religionszugehörigkeit. Jude ist ein Mensch, der von einer jüdischen Mutter geboren ist, im Islam ist man Muslim, wenn es der Vater ebenso ist. Wenn sie auch bei einem Übertritt von Erwachsenen zum Judentum oder Islam verlangt wird, was nicht in allen Fällen unabdingbar ist, handelt es sich vor allem um ein obligatorisches Brauchtum und ist selbst nicht konstitutiv – wie schon daran deutlich wird, dass es für die Hälfte der Menschheit, die Frauen, nicht in Frage kommt.

Seit wann die Beschneidung in der jüdischen Religion ein obligatorisches Ritual wurde, lässt sich nur ungenau klären. Sicherlich nicht seit Abraham, wie von frommen Diskutanten behauptet wird; denn Bibelwissenschaftler verweisen Abraham in den Bereich der Legende. Die immer wieder zitierte Bibelstelle zur Einführung der Beschneidung als religiöse Pflicht findet sich im Buch Genesis 17, 9-14; hier heißt es: „(9) Und Gott sprach zu Abraham: Du aber halte meinen Bund, du und deine Nachkommen, Generation um Generation. (10) Und das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles was männlich ist unter euch, muß beschnitten werden. (11) Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. (12) Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen ... (13) ... So soll mein Bund, dessen Zeichen ihr an eurem Fleisch tragt, ein ewiger Bund sein. (14) Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat meinen Bund gebrochen“ (Einheitsübersetzung)

Wenn man diese Zeilen liest, versteht man, warum die Beschneidung für so zentral gehalten wird. Der Wortlaut weist für den naiven Leser auf Abraham hin. Aber diese Stelle ist erst zur Zeit des Exils oder kurz danach formuliert und mit Abraham in Verbindung gebracht worden, also im 6. Jahrhundert oder – wahrscheinlich – später geschrieben. Die plausibelste Erklärung denkt sich den Hintergrund folgendermaßen: Im Babylonischen Exil lebten die jüdischen Exilanten als kleine Minderheit in Mesopotamien, dessen Bevölkerung mehrheitlich unbeschnitten war. Wahrscheinlich aber kannten die jüdischen Gruppen aus ihren archaischen Stammestraditionen heraus die Beschneidung und praktizierten sie weiter. So wurde sie – bei der damaligen leichten Bekleidung in den hitzegeplagten Regionen – zu einem Merkmal ihrer Zugehörigkeit zum Judentum. Und da sie im Exil – trotz der Ausbildung großartiger religiöser Vorstellungen (theoretischer Monotheismus, universale Eschatologie, Erlösungsglauben usf.) – den Jahweglauben mehr als je zuvor an ihre ethnische Gruppe rückkoppelten, suchten sie sich von der übrigen Bevölkerung abzugrenzen; sie bildeten die Reinheitsgesetze aus, verbanden die Religion mit dem fernen Jerusalem usf. und erhoben den Ritus der Beschneidung zu einem zentralen religiösen Datum.

In diesen Zusammenhängen könnte die Beschneidung erstmals eine konstitutive Bedeutung für die Zugehörigkeit (der Männer) zur Jahwereligion bekommen haben. Deswegen wird sie mit Abraham verknüpft und führte zu den wuchtigen Zeilen im Buch Genesis. Aber es bleibt: die religiöse Bedeutung der Beschneidung geht zwar nicht auf Abraham zurück, ist aber doch schon rund zweieinhalbtausend Jahre alt. Allerdings wurde der fromme Brauch gemäß dem gleichen Buch Genesis auch recht unfromm angewandt (Gen 34). Die Söhne Jakobs überredeten die Männer des Stammes des Hamor, sich alle beschneiden zu lassen, damit dessen Sohn Sichem eine Tochter Jakobs, die er entehrt hatte, heiraten könne. (34,25) „Am dritten Tag aber, als sie an Wundfieber litten, griffen zwei Söhne Jakobs ... zum Schwert, überfielen ungefährdet die Stadt und brachten alles Männliche um.“ Medizinisch harmlos war also auch damals die Beschneidung nicht.

Abgesehen von den historischen Problemen um die Aussagen des Buchs Genesis bleiben aber auch grundsätzliche Fragen: Die Beschneidung soll ein Zeichen des Bundes sein. Ein Zeichen soll doch wohl sichtbar sein. Für wen? Dies aber ist die Beschneidung nur für die Sexualpartner, von möglichen, aber wohl seltenen Aufenthalten in Sammelduschen abgesehen. Auch hierzu sollten die religiösen Autoritäten sich äußern – und nicht nur auf das heilige Buch verweisen. Das genügt nicht.

Im Islam ist das Thema Beschneidung, die bei Jungen zwischen dem siebten Tag nach der Geburt und dem 15. Lebensjahr durchgeführt wird, noch unübersichtlicher, aber im Grunde wäre es einfacher zu lösen. Ich zitiere Peter Heine, der nicht verdächtig ist, Islamkritiker zu sein: „Weder die Beschneidung von Jungen (khitan) noch die von Mädchen (khafd) werden im Koran als religiöse Pflicht aufgeführt“ (Peter Heine, Beschneidung, in: A.Th. Khouri, L. Hagemann, Peter Heine, Islamlexikon, Bd. 1, Freiburg, Basel, Wien, 1991, 122). Genauer müsste man sagen, dass die Beschneidung im Koran überhaupt nicht vorkommt. Sie wird aber als gängige Praxis in Hadithen der Sunna (9. Jahrhundert) geschildert und von den Rechtsschulen mit unterschiedlicher Normativität gelehrt. Wahrscheinlich ist die Jungenbeschneidung aus dem Judentum übernommen, weil aber die der Mädchen ebenfalls weithin praktiziert wurde, spielen wohl noch urtümlichere Traditionen von in den Islam integrierten Stämmen und Ethnien eine Rolle.

Im Islam gehört also die Beschneidung eher dem religiösen Brauchtum zu, und eine Begründung von der Religion her oder ihrer normativen Grundlage, dem Koran, gibt es nicht. Sie ist einfach verpflichtend und wird praktiziert.

Die Probleme, sowohl im Judentum wie im Islam, werden sich erst lösen lassen, wenn es in deren eigenen Reihen zu einer Diskussion kommt, ob diese archaischen Riten heute noch tabuisiert werden dürfen. Wir alle leben in einer zunehmend globalen Welt, Aufklärung und Menschenrechtsstandards verbreiten sich weltweit. Aber die Aufgabe, die eigenen Traditionen daraufhin zu prüfen, ob sie heute noch human akzeptabel sind, muss von den Religionen selbst geleistet werden. Die hiesigen Gesellschaften können nur Minimalregelungen erzwingen, die in dem hier diskutierten Beispiel viel Fingerspitzengefühl verlangen.


© imprimatur November 2012
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