Rudolf Lill
Die Krise im Vatikan
Eine Zwischenbilanz zur Sommerpause 2012

50 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seinen reformistischen, auf das Evangelium konzentrierten und menschenfreundlichen Postulaten befinden sich der Vatikan und die katholische Kirche in einer tiefen Krise, die letztlich auf ihrer Abkehr von jenen Postulaten beruht. Diese Abkehr wird freilich durch päpstliche Hinweise auf die Fortsetzung der „Außenwerke“ des Konzils wie Einsatz für den Frieden oder weitere Verständigung mit den Juden verschleiert. Sowohl in der Regierung der Gesamtkirche wie in der des Vatikanstaates wurde aber unter Johannes Paul II. (1978-2005) und Benedikt XVI. (seit 2005) das absolutistische Regiment Pius’ XII. (1939-1958) voll wiederhergestellt, ja durch lehramtliche Zuspitzungen noch verschärft[1].

Dieses System kennt keine Rechtsstaatlichkeit im modernen Sinne, keine Subsidiarität und keine Kontrollen der Macht. Der Souverän regiert allein, d. h. mit seinen Vertrauten, welche in den letzten 30 Jahren vor allem aus der kirchlichen Rechten (OPUS DEI, Legionäre Christi, Comunione e liberazione etc.) ausgewählt worden sind: eine von Rom koordinierte internationale reaktionäre Fronde, in ihrer geistlichen Spitze inzwischen vergreist. Ein solches System provoziert auch Intrigen und Machtkämpfe, zudem ernsthafte Kritik, welche sich, da sie offiziell nicht zu Wort kommt, auch außergewöhnlicher, formal illegaler Wege bedient.

Die Machtkämpfe haben anscheinend, was nicht für eine gute Regierung spricht, in den letzten Jahren an Schärfe zugenommen. Die neuesten Symptome: Zwei Untersuchungsrichter der Vatikanstadt suchen weiter nach den Verantwortlichen für den Verrat geheimer päpstlicher Dokumente. Der „Maggiordomo“ (Haushofmeister) des Papstes, Paolo Gabriele, der viele davon hinausgeschafft hatte, wurde am 23. Mai verhaftet, zum ersten Mal wurde somit in der 1929 errichteten Vatikanstadt ein Gefängnis benutzt. Insgesamt soll gegen ca. 20 Personen ermittelt worden sein, gelegentlich wurde behauptet, dass zwei Kardinäle darunter seien. Ein ebenfalls zuerst im Mai erschienenes Buch mit vielen Dokumenten, welche Machtkämpfe der letzten drei/vier Jahre in vatikanischen Behörden recht genau bezeugen, wurde schnell zum Bestseller[2].

Die 1942 von Pius XII. gegründete Vatikanbank (offiziell Istituto per le opere di religone, IOR) lud Mitte Juni zum ersten Mal Journalisten zu einem „Hintergrundgespräch“ ein, offenbar soll der kürzlich erneut erhobene Vorwurf der Geldwäsche widerlegt werden. Seit 1942 hatte der Hl. Stuhl, dessen neuer Reichtum vor allem auf den italienischen Entschädigungszahlungen im Rahmen der Lateranverträge (1929) beruht, sowohl seine eigenen wie die Geldgeschäfte aller kirchlichen Institutionen Roms ohne jede Kontrolle von außen durchgeführt. Soeben erst hat er die internationalen Transparenz-Regeln akzeptiert und wird daraufhin endlich in die „White list“ der Organisation Moneyval der EU aufgenommen[3]. In den USA protestieren zahlreiche Frauenklöster gegen ihre harsche Maßregelung durch die vatikanische Glaubenkongregation (18. Mai 2012). Nach dem Vorbild Österreichs formieren sich in mehreren deutschen Diözesen Gruppen von Priestern, die sich – ähnlich wie die amerikanischen Nonnen – dem hierarchischen Rigorismus in Fragen der Sexual- und Familienmoral, dazu dem Ausschluss von Laien und Frauen von kirchlichen Ämtern sowie der Auflösung zahlreicher Gemeinden widersetzen. Eine erste Reaktion des Kölner Kardinals Meisner bezeugt Hochmut und Hilflosigkeit. Er wiederholt nur kategorisch, was der „heilige Vater“ vorgesagt hat; auf die kritischen Fragen antwortet er nicht.

Johannes Paul II. hatte den vatikanischen Neo-Absolutismus im Codex juris canonici 1983 oktroyiert und das Opus Dei, welches schon zu seiner Wahl mitgeholfen hatte, in den Vatikan geholt. Zu Bischöfen wurden nur mehr gehorsame Diener ernannt, und das konziliare Postulat der Kollegialität wurde ganz dem päpstlichen Primat untergeordnet. Zudem hat der Papst aus Polen die Vatikanbank zum Transfer immenser Summen für die polnische Solidarnosz benutzt und sich dabei nicht immer genügend um die Herkunft der Gelder gekümmert. Davon abgesehen, hat Benedikt XVI. den Kurs seines Vorgängers, dessen oberster theologischer Berater er seit 1981 gewesen war, konsequent fortgesetzt und, da ihm dessen Charisma abgeht, praktisch noch verschärft. Vom Gehorsam gegenüber dem päpstlichen Lehramt ist wieder weitaus mehr die Rede als vom Evangelium und von selbst verantworteter christlicher Freiheit; hinzu kommt pseudo-barocker Pomp, auf den die Generation des Konzils ebenfalls verzichtet hatte. Wo ein mächtiges Amt zu besetzen ist – ob in der Kurie oder im Episkopat – wird ein möglichst weit rechts stehender Aspirant ernannt, die konziliar gesinnt gebliebenen Katholiken werden zu Fremden in der eigenen Kirche gemacht. Die Aufzwingung der Mundkommunion stößt zudem selbstbewusste Menschen ab und dokumentiert die vor- resp. anti-moderne Grundhaltung. In dieselbe Richtung weist die Geduld, welche der Papst den Pius-Brüdern entgegenbringt, auch wieder in letzter Zeit!

Benedikt entscheidet in allen ihm wichtig erscheinenden Fragen allein und regiert, wie gesagt, mit wenigen Vertrauten, die ebenso autoritär denken wie er selbst; anscheinend fühlen sich viele, auch hohe Beamte übergangen. Auch der 2009 zum Präsidenten des IOR berufene Bankier Ettore Gotti Tedeschi, dessen spektakuläre Entlassung (24. Mai 2012), weil er mehr Transparenz wollte als seine Umgebung, die jetzige Krise mit auslöste, ist ein Mann des OPUS DEI. Und das ist auch der 82-jährige spanische Kurienkardinal Julián Herranz, der zusammen mit zwei weiteren Kardinälen im April vom Papst mit der Beurteilung der neuesten Affären beauftragt worden ist. Eine solche Kardinalskommission, die am 16. Juni zum ersten Mal geheim getagt hat, kann auch gegen Kardinäle ermitteln, und Herranz hat angekündigt, dass es Überraschungen geben werde, von denen aber seitdem nicht die Rede ist! Auch der persönliche Sekretär des Papstes, Mons. Georg Gänswein, der nach Ausweis des Buches von Nuzzi (s. dessen Register, S. 323) inzwischen eine ähnlich wichtige Vermittlungsrolle zwischen dem Papst und dessen Umgebung spielt wie sein im Vatikan wenig beliebt gewesener polnischer Vorgänger, war zuvor Dozent für Kirchenrecht an der von Johannes Paul II. errichteten, wissenschaftlich wenig bedeutenden römischen Hochschule des Opus Dei gewesen. Gänswein, der seine Tätigkeit einmal als eine andere Art von Seelsorge (!) bezeichnete, tritt sehr selbstbewusst auf. Zur Feier seines 50. Geburtstages war ihm eine berühmte „palazzina“ der Spät-Renaissance in den vatikanischen Gärten eingeräumt worden (Entweltlichung?!).

Benedikt zieht sich nach Ansicht interner Kritiker zu oft und zu früh zum Bücher-Schreiben zurück. Auf dem Höhepunkt der jetzigen Krise (Mitte Juni) konnte darum ein bekannter Kommentator in einem Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Italiens (RAI 3) sagen, dass Joseph Ratzinger „ein erleuchteter Geist“ („uno spirito illuminato“), aber zum Regieren weniger geeignet sei und sich deshalb vielleicht besser in ein Kloster in Bayern zurückziehen und weitere Bücher schreiben würde. Und gewiss war es ein schwerer Fehler des Papstes, dass er seinen früheren engen Mitarbeiter in der Glaubenskongregation, Tarcisio Bertone SDS (geb. 1934), 2006 als Kardinalstaatssekretär an die Spitze seiner „Regierung“ stellte. Dass es eine solche im modernen Sinne nicht gibt, zeigt schon der altertümliche Titel, der aus dem 1870 aufgelösten Kirchenstaat stammt. Bertone ist Kanonist ohne diplomatische Erfahrung, ein Mann der Doktrin wie der Papst, aber auf weitaus niedrigerem intellektuellem Niveau. Gegen ihn hat sich anscheinend so mancher vatikanische Diplomat gestellt, und mehrere Kardinäle haben 2009, nach der Rehabilitierung der Bischöfe der Pius-Bruderschaft, seine Abberufung erbeten. Seine Konflikte mit dem pastoraler eingestellten Präsidenten der italienischen Bischofskonferenz Kardinal Angelo Bagnasco und dem wegen seines sozialen Engagements im Vatikan als „zu links“ eingestuften Mailänder Kardinal Dionigi Tettamanzi und ebenso sein Opportunismus gegenüber Silvio Berlusconi haben viele enttäuscht. Ebenfalls 2009 hatte der Chefredakteur von Avvenire (Tageszeitung der Bischöfe) Nino Boffo, ein herber Kritiker Berlusconis, aufgrund einer verleumderischen Intrige, die auf das Staatssekretariat und den von diesem abhängigen Chefredakteur des Osservatore Romano Gian Maria Vian zurückging, seinen Posten räumen müssen. Inzwischen ist er voll rehabilitiert (Nuzzi, S.27-52). 2011 war Bertone an der ehrenvoll verbrämten Entfernung des die Korruption in der Vatikanstadt bekämpfenden Prälaten Viganò beteiligt (Nuzzi S. 53-74). Zuletzt hat er auch am Sturz Gotti Tedeschis mitgewirkt, welcher inzwischen – im Rahmen eines Prozesses, in dem er als Zeuge auftritt – der römischen Staatsanwaltschaft zahlreiche, teils peinliche Dokumente über den IOR vorgelegt hat. In einem Interview für die Zeitschrift Famiglia Cristiana hat Kardinal Bertone am 17. Juni d.s J.s den Journalisten vorgeworfen, dass sie Dan Brown imitieren resp. die Kirche (die er also wie der Papst mit dem Vatikan identifiziert) destabilisieren wollten. Der Papst hat ihn am 2. Juli ein weiteres Mal seines vollen Vertrauens versichert[4].

Überhaupt haben sich Benedikt und dessen Umgebung inzwischen offenbar zu energischer Reaktion auf die Vorwürfe und Gerüchte der letzten Monate entschlossen: aber nicht durch größere Transparenz oder Diskussion mit den Kritikern, sondern durch Verfestigung ihres Systems. Nach Herranz ist ein zweiter sehr alter und sehr rechter Kardinal reaktiviert worden: der 81-jährige Camillo Ruini, der als langjähriger Präsident der italienischen Bischofskonferenz den dortigen, numerisch starken Episkopat „gleichgeschaltet“ hatte und der 2005 zu den Promotoren der Wahl Benedikts gehört haben soll. Er trat nun an die Spitze einer weiteren Kommission von fünf Kardinälen (Durchschnittsalter 75 Jahre), die den gesamten vatikanischen Apparat kontrollieren soll. Nur Ruini ist Italiener, der Franzose Tauran gilt als sehr gebildet und geistig unabhängig. Zusätzlich wurden drei auswärtige Bischöfe berufen, darunter der von Hongkong. Die internationale Besetzung soll wohl der Verflechtung mit italienischen Interessen entgegenwirken, welche Nuzzis Dokumente in peinlicher Breite enthüllt haben. Zu Ruinis Berufung passt die fast gleichzeitige des Regensburger Bischofs Müller an die Spitze der Glaubenskongregation bestens. Die Regierung der katholischen Kirche bleibt unter Benedikt XVI. fest in den Händen der extremen Rechten – und ebenso ihre Präsentation: Ein amerikanischer Journalist, der ebenfalls dem OPUS DEI angehört, wurde Ende Juni mit der Koordinierung der Öffentlichkeitsarbeit beauftragt.

In seiner Predigt am Peter- und Pauls-Tag[5] hat Benedikt XVI. versucht, die derzeitige Krise mit oberflächlicher Geschichtstheologie zu erklären. Wie in Rom üblich, interpretierte er die Petrustradition wieder einmal sehr vereinfachend[6], nun hinzufügend, dass der Fels (Petri) vor der zerstörerischen Kraft des Bösen geschützt werden müsse, vor der Schwäche der Menschen, welche auch in der Kirche und in deren Geschichte wirke. Für die Überwindung der Krise postulierte er eine neue Brüderlichkeit, betonte aber zugleich wieder (wie in der von ihm provozierten Krise um die Pius-Brüder 2009) die auf Petrus zurückgeführte Autorität des Papstes, welche Brüderlichkeit ausschließt. Beim anschließenden Angelus-Gebet bat er die Gläubigen um ihr Gebet – Beten und Spenden sind die einzigen Tätigkeiten, die den Laien in einer re-klerikalisierten Papst-Kirche zugestanden werden.

In der römischen Kurie ist enormes Regierungswissen akkumuliert: Aber nicht selten hat es dort auch die eingangs erwähnten Kämpfe um Karrieren, Macht und Geld gegeben, wie in ähnlich strukturierten geschlossenen und niemandem auskunftspflichtigen Institutionen. Man denke an die rechtswidrigen Bemühungen Pius’ XII und seines finanzpolitischen Beraters Kardinal Canali um die Inkorporation des immensen Vermögens des Malteserordens, sodann an die Intrigen des Hl. Offizium (Kardinal Ottaviani) im Herbst 1958, um Kardinal Roncalli für die Papstwahl zu disqualifizieren[7]. Die dunklen Geschäfte des von Johannes Paul II. protegierten Prälaten Marcinkus sind hinreichend bekannt, einige der damals verschleierten Details wirken bis in die derzeitige Krise. Auch um viel Geld ging es zuletzt 2011 bei den offenbar vom Papst gebilligten Bemühungen des Kardinals Bertone, unter Hintergehung seines Mailänder Kollegen Tettamanzi dortige katholische Institutionen, darunter die die katholische Universität finanzierende Stiftung und einen großen Krankenhauskomplex, in die Verwaltung des Hl. Stuhls zu bringen. Der Neo-Zentralismus will verhindern, dass es katholische Institutionen gibt, die nicht ganz von ihm abhängen. Auch die Caritas soll z. Zt. wieder „gleichgeschaltet“ werden. Aber solche Machtspiele wie auch die mit viel Geld und dank der Förderung durch Berlusconi erreichte Vermehrung katholischer Schulen, samt der gleichzeitigen Beschneidung staatlicher Schulen, in Italien bringen nur vordergründige Erfolge und den Beifall der rechten „Bewegungen“. Kritische Katholiken wie Berlusconis Gegner Romano Prodi (den Bertone unhöflich abwies) werden eher abgeschreckt, und erst recht die vielen Laizisten Italiens, welche sich zudem der vom Vatikan auch höchst aktiv betriebenen politischen Durchsetzung bioethischer Extrem-Postulate widersetzen. So werden Konflikte unnötig verschärft. Und die dem Papst vorschwebende „Re-Evangelisierung“ aufgrund von Lehramt und Katechismus, mit der er 2011 ausgerechnet einen ultra-rechten Prälaten, Salvatore Fisichella, beauftragt hat, kann wohl auch die breite Mitte der Gesellschaft nicht erreichen.

Es bedarf eines neuen Aggiornamento, und das in doppeltem Sinne. Die Regierung des Vatikans müsste, nachdem die Kurienreform Pauls VI. auf halbem Wege stecken geblieben war, endlich kollegial und transparent gemacht werden. Und die Regierung der Kirche müsste zu den eingangs genannten Postulaten des letzten Konzils zurückkehren; im Sinne der ungehört gebliebenen Mahnungen des Kardinals Carlo M. Martini, eines inzwischen wegen Alter und Krankheit an den Rand geratenen Antipoden Ratzingers, dass die Kirche nicht von oben befehlen, sondern mit den Menschen sprechen und nicht nur die eigenen Prinzipien hochhalten, sondern die Probleme der Menschen mit diesen Prinzipien ernst nehmen solle. Der Zentralismus Roms ist unhistorisch; die Subsidiarität, welche die Kirche anderen empfiehlt, müsste sie bei sich selbst anwenden. Aber im Vatikan bestimmt weiterhin, wie hier gezeigt, die Rechte. Daher werden die Spannungen anhalten, und der Einfluss der katholischen Kirche auf die westliche Gesellschaft wird weiter abnehmen.

PS. Mitte August 2012
Paolo Gabriele ist am 21. Juli aus der Untersuchungshaft in Hausarrest entlassen worden, in einem Brief an den Papst hat er diesen um Verzeihung gebeten. Fast gleichzeitig hat die linksliberale, i. a. gut informierte Tageszeitung LA REPUBBLICA drei Personen aus der direkten Umgebung Benedikts für die Weitergabe der Dokumente verantwortlich gemacht. Aber das wurde vom Vatikan sofort dementiert und zugleich behauptet, dass nur Gabriele, d. h. ein Mann der administrativen Praxis auf mittlerem Niveau und nicht des kirchenpolitischen Diskurses, Interna des Papstes gezielt gesammelt und an den Investigativjournalisten Nuzzi weitergegeben habe[8] . Doch bei dieser Halbwahrheit konnte es nicht lange bleiben. Am 13. August teilte der Vatikan mit, dass nun die Ermittlungen „teilweise" abgeschlossen seien und dass nicht nur gegen den vatikanischen Staatsbürger Gabriele, sondern auch gegen einen Mithelfer aus der technischen Abteilung des Staatssekretariats, den Italiener Claudio Scarpelletti, Anklage erhoben werde. Aber noch interessanter ist, dass 13 Zeugen vernommen wurden, deren Namen geheim gehalten werden, und dass nach weiteren Mittätern gesucht wird. Es besteht also weiterhin der Verdacht, dass nicht ein Einzelner, sondern eine Gruppe von Männern im Vatikan die Öffentlichkeit über vatikanische Intrigen informieren wollte (vgl. Nuzzi, S. 14-26). Offenbar besteht der Vatikan aber nun nicht mehr auf der im Mai/Juni geforderten italienischen Amtshilfe, weil man fürchtet, dass die römische Staatsanwaltschaft im Gegenzug vatikanische Mithilfe bei der Aufklärung dubioser Geschäfte des IOR in Italien beantragen würde. Die konkrete Kritik richtet sich eben immer gegen die Vatikanbank, daneben gegen die herrische Amtsführung des vom Papst protegierten Staatssekretärs Bertone. Aber auch die für die Kirche insgesamt noch wichtigeren Grundsatzdiskussionen hören nicht auf. So hatte sich soeben der Kongress der Kloster-Oberinnen der USA in St. Louis (immerhin vom dortigen Erzbischof freundlich begrüßt) mit dem vatikanischen Vorwurf des radikalen Feminismus auseinanderzusetzen. Vielleicht bringt beharrlicher, ruhiger Einspruch aus den eigenen Reihen die vatikanische Gerontokratie zum Überdenken ihrer welt- und menschenfremden Positionen! Aber in Rom ist nun Sommerpause, der Prozess gegen die Dokumentendiebe soll erst nach Mitte September beginnen.


© imprimatur November 2012
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[1]Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, 2011, Kap. VI. Ders.: Das Elend des römischen Zentralismus:FAZ 3. Juli 2010, S. 6. Rudolf Lill, Die Macht der Päpste, 2011, Kap.VIII-IX.
Apologie des römischen Systems: Benedikt XVI, Licht der Welt... Ein Gespräch mit Peter Seewald 22010, s. bes. 22ff., 87, 91-110.
[2]Gianluigi Nuzzi,Sua Santità. Le carte segrete di Benedetto XVI, Milano 2012, 326 S.
Nuzzi hat seine Dokumentation in eine breite Darstellung integriert, am Ende des Bandes bringt er 25 in Facsimile reproduzierte Dokumente. Insgesamt konzentriert er sich auf die diskrete Beschreibung seiner Quellen, auf Verleumdungs- und Korruptionsgeschichten; auf italienisch-vatikanische Verflechtungen verschiedenster, gerade auch finanzieller Natur (bei denen es wegen der neuen, teils auf die vielen kirchlichen Immobilien anwendbaren Steuergesetze Italiens für den Hl. Stuhl um sehr viel, bisher bequem verdientes Geld geht), auf die Machtpolitik des von Benedikt XVI. gegen jede Kritik verteidigten Staatssekretärs Bertone, auf die Bewegungen Comunione e liberazione und Legionäre Christi, dazu auf die „Lefevbrianer“, sodann auf dubiose Spenden! Auch die Joseph-Ratzinger-Stiftung kommt vor. Nuzzi weist auf, wie sehr es in direkter Umgebung des Papstes jener „Entweltlichung“ bedarf, die dieser von den Mitgliedern der Kirche fordert. Aber die Übertreibungen von Daniel Deckers (Brutal im Vatikan: FAZ 26.Juni 2012, S. 1), denen zufolge es um das Leben des Papstes geht, finden in Nuzzis Buch keinerlei Bestätigung! – 2009 hatte Nuzzi das auch ins Deutsche übersetzte Buch Vaticano SpA (Vatikan-AG) publiziert.
Die breiteste und i. a. zuverlässigste Information über die Tagesereignisse im Vatikan enthalten die großen italienischen Tageszeitungen „Corriere della Sera“ (liberal) und „La Repubblica! (links-liberal). Sie belegen auch die von Nuzzi dokumentierte enge Zusammenarbeit zwischen italienischen und vatikanischen Politikern Publizisten und Geschäftsleuten!
[3]Zur Geschichte der vatikanischen Finanzen: Hartmut Benz, Finanzen und Finanzpolitk des Hl. Stuhls, 1993. John Pollard, Money and the rise of the modern papacy..., Cambridge 2005. Il premier Ratzinger… L’Europeo: Corriere della Sera, Milano 2009, Nr. 10 (140 S).
[4]Noch kurz zuvor war angenommen worden, dass Bertone Ende dieses Jahres, wenn er 78 Jahre alt wird, pensioniert und durch einen nicht-italienischen vatikanischen Diplomaten ersetzt würde: Corriere della Sera 24. Juni 2012, S. 25; 5. Juli 2012, S. 19. .
[5]D. h. bei der feierlichen Messe des Papstes mit den im letzten Jahr ernannten Erzbischöfen (Corriere della Sera 30. Juni 2012, S. 19). Unter ihnen war aus Deutschland Rainer-M. Woelki, der an der römischen Hochschule des OPUS DEI promoviert hat. Mit ihrer Hilfe lassen sich strengere Regeln der älteren kirchlichen und der staatlichen Universitäten umgehen; es wäre korrekt, den so erworbenen Doktortitel außerhalb des Vatikans nicht zu führen.
[6]Vgl. meinen Aufsatz: Glaube und Vernunft. Vom Umgang des Vatikans mit der Geschichte, in: Hans Zehetmair (Hg), Glauben, Vernunft, Politik, 2009,142-157.
[7]Roger Peyrefitte, Die Schlüssel von St. Peter, 1957 (zuvor französisch 1955). Alberto Melloni, Il conclave, Storia dell’elezione del Papa, Bologna 22005.
[8]Hierzu und zum folgenden: Corriere della Sera 5., 10., 12. 14. 15. August 2012.