Friedhelm Hengsbach SJ
Eure Sorgen möcht' ich haben - Worum es wirklich geht

Beim Alternativprogramm zum Mannheimer Katholikentag, am 17.5.12, hat Friedhelm Hengsbach SJ in der prall gefüllten Johanniskirche zur Eröffnung das folgende Referat gehalten, das wir wegen der großen Beachtung, die es fand, hier abdrucken.

Der rote Rucksack des Mannheimer Katholikentags strahlt die Besucher und Teilnehmer an wie ein Oberländer Himbeerapfel. Man möchte beherzt hineinbeißen.

(I) Er scheint prall gefüllt zu sein - aber womit? Mit Pack- oder Füllpapier? Ich nehme an, mit der Erinnerung an das schwarze Jahr 2010 der katholischen Kirche, als die sexuellen und gewalttätigen Übergriffe kirchlicher Amtsträger aufgedeckt wurden und gleichzeitig die Versuche höherer Amtsträger, solche Verbrechen unter den Kirchenteppich zu kehren. Mehr als 180 000 Katholiken haben sich von der Kirche verabschiedet, eine größere Zahl ist innerlich emigriert.

Die ohnmächtige Wut der Christen hat sich erst gegen die Täter gerichtet. Danach richteten diese ihre Blicke auf die Opfer. Gleichzeitig wurde der strukturelle Hintergrund ausgeleuchtet:

die geschlossenen Milieus kirchlicher Jungeninternate, Männermacht, nicht integrierte Sexualität, aufgeladen mit religiöser und pädagogischer Dominanz und Abhängigkeit.

Zudem ist zu vermuten, dass die Klagen über die Verletzung der sozialen Gerechtigkeit den Rucksack füllen - die blutende Wunde einer Weltgesellschaft, die sich um eine Wachstumsbeschleunigung sorgt, ohne zu berücksichtigen, dass die Wohlstandsdynamik einer kapitalistischen Wirtschaft auf der grenzenlosen Geld- und Kreditschöpfungsmacht des Bankensystems und der rücksichtlosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruht; die blutende Wunde der deutschen Gesellschaft, die sich in einem Jobwunder sonnt, über dem sich der dunkle Schatten miserabler und unzumutbarer Arbeitsverhältnisse ausbreitet; die blutende Wunde eines einzigen Planeten, den die Menschheit hat, auf dem militärische Konflikte um die Anteile an einer intakten natürlichen Umwelt drohen.

Gerechtigkeit ist schließlich die leitende Norm, welche die Kirche für ihre eigene Organisation anerkennt und wohl auch selbst im Rucksack versteckt. Sie ist schöner als der Morgenstern, würde die Katholiken hinaus ins Weite führen und ihre Finsternis hell machen.

Ob diese derzeit elementaren Facetten der Gerechtigkeit in den 12000 Veranstaltungen auf 600 Programmseiten erkennbar sind? Wenn nicht, fehlt dem Katholikentag eine erkennbare Botschaft.

(II) Ein Rucksack, der am Straßenrand liegt, macht noch keinen Aufbruch. Wer packt ihn sich?

Viele Katholiken erwarten, dass die so genannten kirchlichen Eliten ihn schultern. Aber was geschieht, wenn diese zwar lauthals über Aufbruch reden, den Rucksack mit seinen Inhalten aber nicht anrühren? Und was, wenn die Vorstellungen über die Inhalte des Aufbruchs, was jetzt wichtig und unwichtig ist, auseinanderdriften und ein vertikales Schisma erzeugen? Blockieren Katholiken sich gegenseitig, den Rucksack zu ergreifen und zu schleppen?

(III) Was fehlt dem roten Rucksack? Die Gepäckstücke auf den Flughäfen sind regelmäßig mit einem Kürzel des Zielflughafens gekennzeichnet. Warum verschleiern diejenigen, die den Rucksack abgestellt haben, wohin die Reise gehen soll? Manche reden von einem „Fest des Glaubens", vom Folgespektakel der Papstparade des Vorjahrs. Oder sie erinnern an eine Aussage Karl Rahners: „Der zukünftige Christ wird ein Mystiker sein oder er wird nicht sein". Eine Kontrastformel, die sich an einen Artikel Hans Mayers über den politischen Katholizismus der Vorzeit anlehnt, könnte so lauten: „Der Christ ist politisch oder gar nicht". In der Folgezeit des Konzils haben die Franziskaner, die Brüder von Taizé und die Jesuiten die Formeln geprägt: Mystik und Politik, Kampf und Kontemplation, Glaube und Gerechtigkeit. Dies sind die Schlüsselworte meiner Überlegungen.

1. Christlicher Glaube ist politische Praxis

Ein Glaube, der sich nicht im politischen Einsatz für Gerechtigkeit verkörpert, ist heiße Luft und wertlos.

(1) Glaube ist zuerst Praxis

Im ersten Johannesbrief werden wir daran erinnert, wie eng der Glaube an Gott und die Anerkennung des Anderen als anderen zusammenhängen. Kann die Liebe Gottes in dem sein, der sein Herz vor dem Bruder und der Schwester verschließt? Diejenigen wissen nichts von Gott, die ihre Brüder und Schwestern nicht lieben. Wenn wir einander lieben, ist Gott und der Geist Jesu in uns. Wie kann der, der den Brüder und die Schwester nicht liebt, die er sieht, Gott lieben, den er nicht sieht?

Wir kennen aus dem Matthäusevangelium den Maßstab, nach dem der Glaube der Christen beurteilt wird: Indem wir die Nackten bekleiden, die Hungrigen speisen, die Kranken aufrichten, nähern wir uns der Gottesherrschaft, der Person Jesu und der Kirche Gottes, die jenseits der konfessionellen Grenzen alle Menschen guten Willens einschließt.

Die erste Liturgie ist nicht irgendein exotischer Kult oder der Aufbau einer dogmatischen Architektur, sondern die Sympathie und das Wohlwollen zueinander sowie das Engagement für eine gerechte Welt. Der erste Ort unseres Gottesdienstes ist nicht irgendein Tempel, sondern der lebensweltliche Alltag in der Familie, im Beruf, in der Gesellschaft. Denn die Ehre Gottes ist der heile Mensch. Das kostbarste und größte Sakrament ist nicht das Wasser der Taufe oder das Brot der Eucharistie, sondern die Küchenschürze, die sich Jesus am Abend vor seiner Hinrichtung umband, um den Seinen die Füße zu waschen, nicht um bedient zu werden, sondern zu dienen.

(2) Der Anfang vom Anfang

Dass Glaube in erster Linie Praxis ist, hat uns die Befreiungstheologie und im Anschluss daran die Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils: „Die Kirche in der Welt von heute“ gelehrt. Karl Rahner nannte dieses Dokument den „Anfang vom Anfang des Konzils“. Warum? Weil es die methodische Revolution der katholischen Soziallehre angezeigt hat, mit der Verkündigung des Evangeliums eine Botschaft der Befreiung des ganzen Menschen und aller Menschen zu verbinden.

Die morgige Konzilsgala ist keine solche Revolution, eher das Gegenteil davon. Senile Gesellschaften feiern Jubiläen, sehnen sich in eine vergangene Epoche zurück, errichten jenen Propheten Denkmäler, die sie gerade hingerichtet haben.

Papst Johannes XXIII. hatte dem Konzil drei Schlüsselworte vorgegeben, die in das Konzilsdokument aufgenommen wurden:

Die andere Quelle christlicher Inspiration ist das gegenwärtige Dasein des Geistes Gottes und des Geistes Jesu im Innern der Christen und in der Welt von heute. Dieser Geist reißt uns die steinernen Herzen aus unserer Brust und stattet uns mit einem lebendigen Herzen aus, das fühlt und mitleidet.

Der Blick in die geschichtliche Tradition ist mit der Versuchung verbunden, dass wir uns in gewachsene Strukturen verlieben und sie für gottgewollt halten. Der Blick in die Gegenwart macht uns geneigt und gibt uns das Recht, verkrustete, unzeitgemäße oder gar fossile Strukturen aufzubrechen und zu verflüssigen.

Christen sind aus diesen zwei Quellen in der Lage, ihren Beitrag zum Aufbau einer Gesellschaft zu leisten, die sich der Gottesherrschaft nähert, und aus den Veränderungen in der Gesellschaft zum Nutzen der Kirche zu lernen.

2. Gesellschaftliche Risse

„Die Gerechtigkeit hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen“ urteilten zwei Drittel bis vier Fünftel der Bevölkerung in Deutschland in wiederholten repräsentativen Umfragen während der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts. Ist die Ungleichheit, die sie Ungerechtigkeit nennen, nur empfunden? Die wachsende Schieflage der Einkommens- und Vermögensverteilung ist statistisch belegt.

(1) Der Schrei des Volkes in Europa

Welchen Standort und welche Maßstäbe wählen politisch engagierte Christen, wenn sie die Gesellschaft, in der sie leben, beurteilen? Nicht die Position eines neutralen Beobachters am Rand des Spielfelds, wie sie von kirchlichen Expertenkommissionen eingenommen wird, sondern den „Schrei des einfachen Volkes“.

Dieser Schrei ist Ausdruck einer ohnmächtigen Wut und Empörung darüber, dass eine Minderheit der Bevölkerung, nämlich die Eigentümer von Großbanken, Versicherungskonzernen und Hedgefonds mit geliehenem Geld private Vermögen aufgetürmt und zudem erwartet haben, dass die Vermögensblase nicht platze, bevor sie ihre erzielten Buchgewinne in reale Güter transformiert hätten. Inzwischen ist dieser größte anzunehmende Unfall eingetreten, die ursprüngliche Immobilienkrise zu einer globalen Bankenkrise mutiert. Und die beispiellose Finanzkrise metastasiert wie ein Krebsgeschwür. Spekulative Attacken richten sich wahlweise gegen die Devisenkursentwicklung, die Risikoprämien von Staatsanleihen peripherer Länder in der Eurozone und gegen die Preisbewegungen auf den Rohstoff- und Nahrungsmittelmärkten.

Die politische Klasse und die Medien haben sich auf Griechenland als Krisenursache festgebissen. Aber es ist wohl eine Fehldiagnose, dieses Land, dessen wirtschaftliche Leistung einen Anteil von 3-4% an der Wertschöpfung der Eurozone ausmacht, zur einzigen Ursache der Turbulenzen zu erklären. Liegt nicht vielmehr ein Vergleich mit jenen spekulativen Attacken während der Asienkrise 1997 nahe? Diese sind ausgelöst worden durch eine extreme Geldschwemme und einen internationalen Kapitalüberschuss. Damals wurde die schwächste Währung, nämlich die von Thailand attackiert, im weiteren Verlauf wurden Länder wie Taiwan, Südkorea und Indonesien, die als stabil galten, in den spekulativen Strudel hineingerissen.

Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten und in der politischen Sphäre, die inzwischen elf Regierungen ausgewechselt haben, spiegeln den grundlegenden Konflikt zwischen der privaten Kapitalmacht und der demokratisch legitimierten Macht der Staaten. Während der Jahrhundertwende meinte ein Vertreter der Deutschen Bank, es wäre gut, wenn die Staaten sich ins Schlepptau der Finanzmärkte begeben würden, weil diese besser als die Parlamentswahlen signalisierten, was vernünftige Politik sei - nämlich die Steuern und Abgaben senken, möglichst wenig Umverteilung organisieren und die Gewerkschaften in Schach halten. Genau dies geschieht derzeit. Finanzakteure, die mit Liquidität aus der Geldschöpfung des Bankensystems überschwemmt werden, treiben die Staaten vor sich her. Und die Staaten bringen nicht die Kraft auf, eine strikte Regelung der Finanzmärkte durchzusetzen, die auf dem ersten Gipfel der G 20 beschlossen waren - beispielsweise alle Finanzgeschäfte, alle Finanzunternehmen und alle Finanzplätze einer öffentlichen Aufsicht und Kontrolle zu unterwerfen, eine relative Kreditbremse der Banken zu definieren, Banken, die so groß und vernetzt sind, dass sie den Staat erpressen können, zu zerschlagen.

Die gegenwärtige Situation nimmt paradoxe Züge an: Diejenigen, die den Absturz der Finanzmärkte verursacht und nach dem Staat als ihren Retter gerufen haben, setzen nun die Staaten unter Druck, die sich infolge der Bankenrettung - durch Bürgschaften, Kapitalbeteiligungen und die Übernahme wertloser Verbriefungen - hoch verschuldet haben, die Verschuldung abzubauen, die öffentlichen Haushalte möglichst schnell zu sanieren und die Folgelasten der Krise auf die unteren Bevölkerungsschichten abzuwälzen. Wie sollen die Staaten sich entscheiden? Sollen sie eine schleichende Vermögensvernichtung durch Inflation zulassen oder einen radikalen Schnitt der öffentlichen Schulden und zugleich eine Vernichtung der aufgeblähten Vermögen durchsetzen? Denn der hohen öffentlichen Verschuldung entspricht eine extreme Anhäufung privater Vermögen.

Ein Europa der Deutschen ist jedenfalls kein Europa. Die von Deutschland mit durchgesetzten Schuldenbremsen, Spardiktate und öffentlichen Haushaltssperren sind gegenproduktiv. Sie treiben die schwächeren Bevölkerungsgruppen in bittere Armut, Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Sie verpassen die Gelegenheit, den Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion zu beseitigen, die aus drei monetären Stellgrößen besteht, nämlich der Stabilität des Preisniveaus, eines einzigen nominalen Zinsniveaus und dem Ausgleich der öffentlichen Haushalte. Damit sind regionale Ungleichgewichte vorprogrammiert. Leistungsbilanzdefizite und Leistungsbilanzüberschüsse bilden die zwei Seiten einer einzigen Münze.

Die Wahlen in Frankreich und Griechenland haben uns Deutschen wie selten zuvor spüren lassen, wie stark das eigene Wohlergehen mit dem Wohlergehen der europäischen Nachbarn verflochten ist, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Wenn ein Land leidet, leiden alle anderen mit. Europa ist ja mehr als ein reibungsloser Zahlungsverkehr. Die Menschen vom Atlantik bis zur Wolga sind dankbar für einen mehr als 60-jährigen Frieden, der eine erstaunliche Geschichte hat. Diese begann mit dem Marshallplan, wurde in den Römischen Verträgen gefestigt, durch den gemeinsamen Binnenmarkt verdichtet, nach Süden, Norden und Osten erweitert und mit der gemeinsamen Währung nahezu unumkehrbar gemacht. Warum sollte die Solidarität, die in Deutschland mit dem horizontalen Finanzausgleich der Länder selbstverständlich ist und Verfassungsrang hat, nicht auch für Europa gelten?

Was braucht Europa? Drei Institutionen, die zur Zeit des Bretton-Woods Systems 30 Jahr lang Finanzkrisen verhindert haben, nämlich eine Zentralbank, die für ein stabiles Preisniveau und einen hohen Beschäftigungsgrad sorgt, einen Währungsfonds, der mit Krediten die Ungleichgewichte zwischen den Ländern ausgleicht, und eine Investitionsbank, die schwächeren Ländern Wachstumsimpulse finanziert. Für Europa sollte gelten, was für Deutschland selbstverständlich ist, nämlich ein regionaler Finanzausgleich, eine Transferunion. Was braucht Europa zusätzlich? Den Ausbau der Währungsunion durch eine koordinierte Beschäftigungs-, Einkommens- und Sozialpolitik. Und außerdem die Solidarität der deutschen Kirchen mit den Benachteiligten in den von den Finanzmärkten bedrängten Ländern.

(2) Der Schrei des Volkes in Deutschland

Die in die Talkshows der öffentlichen Sendeanstalten ausgelagerte Regierungspropaganda erzeugt eine Stimmungslage, dass Deutschland der Musterknabe Europas sei. „Die Zahl der Arbeitslosen hat den niedrigsten Stand seit 1989 erreicht. Deutschland geht es gut", erklärt die Bundeskanzlerin. Das deutsche Jobwunder sei ein Beleg dafür, dass die anderen Länder Europas jene arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen übernehmen sollten, die Deutschland bereits hinter sich hat. „Spanien macht den Schröder" titulierte vor kurzem eine Tageszeitung.

Über dem deutschen Jobwunder liegt jedoch ein dunkler Schatten miserabler und unzumutbarer Arbeitsverhältnisse. Die Belegschaften der Betriebe sind gespalten. Die abhängig Beschäftigten in den Betrieben sind gespalten. Die Kernbelegschaften haben gute Arbeit: ein komfortables Einkommen, einen unbefristeten Arbeitsplatz, sind sozial abgesichert und finden, wenn sie kündigen, leicht einen vergleichbaren Arbeitsplatz. Dies gilt jedoch nicht für die atypischen, prekären Arbeitsverhältnisse, das sind die unfreiwillig Teilzeitarbeitenden, die geringfügig Beschäftigten, die befristet arbeiten, die Leiharbeiter und die Scheinselbständigen. Sie sind überdurchschnittlich im Einzelhandel, im Gastgewerbe, in den Reinigungsdiensten und im Gesundheitswesen angestellt. Überwiegend sind es Frauen, Alleinerziehende, ältere, jüngere und ausländische Beschäftigte. Von den während des Konjunkturaufschwungs neu Eingestellten war jeder Zweite befristet beschäftigt. Der größte Skandal in einer extrem wohlhabenden Gesellschaft sind jedoch diejenigen, die zu einem Niedriglohn arbeiten, das sind fast ein Viertel der Erwerbstätigen und mehr als ein Zehntel der Vollerwerbstätigen. Sie werden häufig durch Hartz IV-Sozialleistungen aufgestockt. Wer einen Niedriglohn bezieht, müsste im Schnitt 64 beitragspflichtige Jahre aufweisen, um eine Rente auf Hartz IV-Niveau zu beziehen.

Die Reaktion der schwarz-gelben Koalition, drei Monate lang darum zu ringen, die Regelsätze für Hartz IV-Empfänger um fünf Euro zu erhöhen, ein Bildungspaket für bedürftige Kinder anzubieten, das von denen nicht aufgeschnürt wird, für die es gedacht ist, entlarvt den Bürgerkrieg der politischen Klasse gegen die arm Gemachten. Und was soll eine Zuschussrente, die an den Bedürftigen vorbei geht, wenn sie nur für diejenigen in Frage kommt, die 35 beitragspflichtige Jahre und eine während dieser Zeit geleistete private Vorsorge nachweisen können?. Immerhin kann Frau von der Leyen die reibungslose Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsminister Rösler betonen. Die Zeit, da CDU-Arbeitsminister eine berufliche Ausbildung abschlossen und aus der Gewerkschaftsbewegung kamen, gehören längst der Vergangenheit an.

Was müsste kurzfristig getan werden, um gute und gerechte Arbeitsverhältnisse für alle zu gewährleisten? Die bereits bestehenden Mindestlöhne, die im Rahmen des Arbeitnehmerentsendegesetzes oder des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes oder durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen in einzelnen Branchen vereinbart wurden, sollten ausgeweitet werden. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit sollte verbindlich sein. Die sachgrundlose Verlängerung einer Befristung gehört abgeschafft. Hartz IV muss weg und durch ein bedarfsorientiertes Grundeinkommen ersetzt werden. Die Riesterrente, das Megageschäft für Banken und Versicherungen, sollte in die gesetzliche Rentenversicherung überführt werden.

Langfristig lässt sich die Schieflage der Verteilung nur dadurch überwinden, dass die Tarifautonomie gefestigt wird und die Anteile an der gemeinsam erwirtschafteten Wertschöpfung fair verteilt werden. Eine radikale Korrektur der kapitalistischen Verteilungsregel ist nicht anders zu erreichen als durch eine Beteiligung der Belegschaften an der Entscheidungsmacht im Unternehmen. Die Sozialversicherungen sollten ihres feudalen Erbes entledigt und von der Lebenslage abhängiger Arbeit gelöst werden. Alle, die ihren Lebensmittelpunkt im Geltungsbereich der Verfassung haben, werden in eine einzige Solidargemeinschaft einbezogen und alle Einkommen, die in diesem Bereich entstehen, werden beitragspflichtig.

Die Propaganda des Jobwunders verstellt den Blick auf die „ganze Arbeit“. Nicht nur die Erwerbsarbeit, auch die private Beziehungs- und Pflegearbeit sowie das zivilgesellschaftliche Engagement sind für die moderne Gesellschaft gleich wichtig. Sie sollten auch gleich bewertet, anerkannt und bezahlt sowie auf Männer und Frauen fair verteilt werden. Die so genannte Doppelbelastung und die Aufgabe, Beruf und Familie miteinander zu verbinden, darf nicht allein auf die Frauen abgewälzt werden.

Die Euphorie über die jahrzehntelang ungebrochene Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft blockiert die strukturelle Verlagerung von der Industriearbeit zur Arbeit an den und mit den Menschen. Zur Zeit der Agrarwirtschaft waren die Talente des Säens, Pflanzens und Erntens gefragt, zur Zeit der Industriewirtschaft die des Zählens, Wiegens und Messens. Eine Dienstleistungswirtschaft braucht jedoch die Kompetenzen des Heilens, Pflegens, Helfens, Beratens und Begleitens. Auch hier ist ein Umdenken gefordert: Dass Krankenschwestern, Verkäuferinnen und Arzthelferinnen im Schnitt nur ein Fünftel dessen verdienen, was den Männern in der Chemie- oder Metallindustrie gezahlt wird, verletzt die Geschlechtergerechtigkeit. Politische engagierte Christen setzen sich europaweit für eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine gesellschaftliche Zeitordnung ein, in welcher der Sonntag, der Sabbat oder der muslimische Freitag Orientierungsmarken dessen sind, dass wir arbeiten, um zu leben. Wenn Kunden zu beliebigen Zeiten einkaufen möchten, sollten sie den Beschäftigten einen Zeitausgleich verschaffen. Eine Flexibilisierung der Arbeitszeit bietet den einzelnen Personen Freizeit, aber keine Festzeit, die wir nur mit anderen gemeinsam verbringen.

(3) Der Schrei der Armen in der Welt

Obwohl die Zahl der absolut Armen weltweit auf etwas mehr als eine Milliarde Menschen gesunken ist, wird die Kluft der Einkommen und Vermögen zwischen den Reichen und Armen in der Welt immer größer.

Wie ist der Schrei der Armen dieser Welt zu deuten? Die Armut der Entwicklungsländer erzeugt den Reichtum der Industrieländer, heißt es. Das Recht auf einen fairen Anteil an dem globalen Reichtum verlangt eine radikale Umverteilung zugunsten der Armen in der Welt. Der weltwirtschaftliche Norden treibt die Staaten des weltwirtschaftlichen Südens in ein Dilemma: Der massive Bevölkerungsanstieg erzeugt Armut, die Armut erzeugt ein Übermaß an Umweltzerstörung. Also sind die Entwicklungsländer verpflichtet, ihre Bevölkerungsexplosion zu drosseln und so die Umwelt zu schonen. Die Entwicklungsländer werfen den Industrieländern vor, dass der größere Anteil der Umweltzerstörung auf ihr Konto gehe. Derzeit versuchen Internationale Investoren weltweit immer mehr Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Durch die Zunahme von Spekulationsgeschäften mit Ackerböden entstehen neue Verteilungskämpfe, um ertragreiches Land für den Anbau von Nahrungsmitteln oder für die Gewinnung von Biokraftstoffen zu nutzen. Um den Zugang zu sauberem Trinkwasser sind kriegerische Konflikte zu erwarten.

Ernst Ulrich von Weizsäcker hat bereits vor mehr als zehn Jahren erklärt, dass die Umweltfrage die soziale Frage des 21. Jahrhunderts sei. Inzwischen ist die Umweltfrage zu einer planetarischen Frage geworden. Die Erregung über den Smog in den Städten, den sauren Regen und das Waldsterben, über die Luftverschmutzung oder die Verunreinigung der Flüsse, Seen und Strände scheint der Vergangenheit anzugehören, zumindest abgeklungen zu sein. Der Klimawandel und die Erderwärmung sowie die globale Bodenerosion sind heutzutage die bewegenden Themen. Auf den Umweltkonferenzen wird um das politische Ziel gerungen, die Erwärmung der Erde auf zusätzliche 2 Grad bis zum Jahr 2050 zu begrenzen.

Es gibt nur diesen einen „blauen“ Planeten, welcher allen Menschen zur Verfügung steht. Die Menschheit lebt auf der Erde als dem einzigen für sie bewohnbaren Raumschiff. Kein Mensch kann auf einen anderen Planeten auswandern, niemand kann um den eigenen Grund und Boden einen Zaun ziehen. Alle Menschen sind planetarisch aneinander gekettet, füreinander verantwortlich und haften kollektiv. Hans Jonas hat 1976 das „Prinzip Verantwortung“ proklamiert, um die langfristigen Wirkungen der technischen Zivilisation ins gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken. Diesen normativen Grundsatz hat er als ökologischen Imperativ formuliert: „Handle so, dass die Folgen deines Handelns das echte Überleben der Menschheit auf Erden gewährleisten“.

Verdrängt die Umweltfrage die Frage der sozialen Gerechtigkeit? Grundsätzlich nicht, denn der ökologische Imperativ und die soziale Gerechtigkeit lassen sich miteinander verbinden und als ökologische Gerechtigkeit formulieren: Indem die Mitglieder der Weltgesellschaft sich wechselseitig das gleiche Recht zusprechen, als Gleiche respektiert und behandelt zu werden, ist jedem Menschen auf diesem Planeten ein allgemeines Menschenrecht auf einen intakten Umweltraum zugestanden. Ein solches Menschenrecht kann sich an die Lesart der kirchlichen Sozialverkündigung anlehnen, dass die Güter der Erde für alle da sind, und dass jedem Bewohner der Erde das für sein Leben Notwendige zusteht - unbeschadet privater Eigentums- oder Verfügungsrechte.

Dennoch sind massive Umweltkonflikte unausweichlich, solange vier Ziele gleichzeitig erreicht werden sollen: Die Industrieländer verteidigen ihren Wohlstand; gleichzeitig gilt das Klimaziel des reduzierten CO2-Ausstoßes; der berechtigte Anspruch der Schwellen- und Entwicklungsländer, ihren Lebensstandard dem der Industrieländer anzunähern, bleibt respektiert; an dem Millenniumsziel einer drastischen Verminderung der Armut in der Welt wird festgehalten. Der Umweltberater der britischen Regierung, Tim Jackson, ist davon überzeugt, dass dieser Zielkonflikt nur bewältigt werden kann, wenn das wirtschaftliche Wachstum der Industrieländer radikal schrumpft. Meinhard Miegel hat sich dieser Forderung angeschlossen. Ernst Ulrich von Weizsäcker dagegen versucht nachzuweisen, dass der Konflikt entschärft werden könne, wenn die Energieeffizienz auf das Fünffache gesteigert wird.

Eine zunehmende Wachstumskritik ist mit der Suche nach einem besseren Indikator des Wohlstands verbunden, der die Defizite des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf beseitigt oder wenigstens ergänzt. Denn mit dieser Messgröße werden die gesellschaftlich nützliche, jedoch unbezahlte Haus- und Erziehungsarbeit, die Gewichtung der Bedürfnisse, die ausgewogene oder extrem ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung sowie die positiven wie negativen Qualitätsänderungen der Güter nicht erfasst. Zudem sind aus ihm wirtschaftliche oder gesellschaftliche Schäden nicht heraus gerechnet, etwa die tatsächliche Wertminderung der natürlichen Umwelt oder arbeitsbedingte Gesundheitsschäden, auch die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit oder der Zeitverlust bzw. die nervliche Belastung, die durch Verkehrsstaus und ein zunehmendes Arbeitstempo verursacht werden.

Entwicklungsexperten stellen das Scheitern der staatlichen Entwicklungshilfe fest. Sie habe sich als unfähig erwiesen, Armut und Entbehrung zu mindern sowie die Risse zwischen den Klassen und Regionen zu heilen. Deshalb ist der Abschied vom Konzept einer kreditfinanzierten, auslandsverschuldeten, exportinduzierten Entwicklung folgerichtig, wodurch sich Wohlstandsinseln in den Ballungsregionen und wachsende Armutszonen in der Fläche verfestigt haben. Die Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen sollte an der vorrangigen Befriedigung der Grundbedürfnisse ansetzen: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Arbeit, Bildung, Gleichstellung der Frauen und gesellschaftliche Beteiligung. Deshalb leisten Basisprojekte vor allem in ländlichen Regionen echte Hilfe zur Selbsthilfe. Ein wechselseitiges Nehmen und Geben lässt Partnerschaften auf Augenhöhe entstehen. Brunnen werden gebohrt, Trinkwasserbecken gebaut, Handwerksbetriebe und Werkstätten eingerichtet, berufsbildende Schulen finanziert und Mikrobanken ins Leben gerufen.

Sollen wir darauf warten, bis eine umweltgerechte Konversion der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung gesetzlich geregelt ist? Eine Änderung des persönlichen Lebensstils sollte ihr vorausgehen und sie begleiten. Ob Kampagnen sozialer Unternehmen wie „Bier trinken für den Regenwald“, Mineralwasser kaufen, um Brunnen zu fördern, Eis lutschen, um Honigbienen zu retten, bloß Marketingstrategien oder eine wirksame Selbstbindung sind, ist für die Kunden im Einzelfall kaum zu überprüfen. In eigener Entscheidung Energie einsparen, um den CO2-Ausstoß zu verringern, das Auto länger nutzen, auf öffentlichen Nahverkehr umsteigen, mit den Klamotten nicht jeder saisonalen Modewelle folgen, den Fleischkonsum reduzieren oder eine persönliche oder familiäre Klimabilanz aufstellen, ist vorzugswürdig, weil sie die Reichweite der eigenen Entscheidung nicht überschreitet. Für jeden CO2-Ausstoß, der über den jährlichen Ausstoß von 2,3 t CO2 hinausgeht, der den einzelnen Europäern zugestanden wird, kann beispielsweise der Fluggast eine Kompensation zahlen, indem er den ermittelten Geldbeitrag an eine Stiftung überweist, die in Afrika Trinkwasseranlagen oder Solaröfen installiert.

3. Gerechtigkeit in der Kirche

Die römische Bischofssynode hat 1971 erklärt, dass eine Kirche, die sich anmaßt, den Menschen von Gerechtigkeit zu reden, an allererster Stelle selbst vor deren Augen gerecht dastehen muss. Folglich gehören, so meinten die Bischöfe damals, kirchliche Machtpositionen, Privilegien und der eigene persönliche Lebensstil auf den Prüfstand.

Auch in der katholischen Kirche ist hinter vorgehaltenen Händen ein Schrei nach Gerechtigkeit zu hören, seitdem katholische CDU-Politiker, inzwischen 400 Theologen und auch Delegierte des in Mannheim einberufenen Gesprächsprozesses eine Grundreinigung und eine Kirchenreform an Haupt und Gliedern verlangt haben. Solche Forderungen entspringen der Erfahrung, dass Strukturen der Sünde sich in der Kirche eingelagert haben und dass viel Rost und Motten an der Außenseite der Kirche haften, die den Glanz der Gottesherrschaft und der Botschaft Jesu überdecken, den diese Kirche als kostbaren Schatz in ihrem Innern zu tragen behauptet.
Ein solches Anliegen können einige Bischöfe nicht einfach vom Tisch wischen, indem sie die strukturelle Krise der Kirche und ihrer Ämter in eine „Krise des Glaubens" umdefinieren und ein „Fest des Glaubens" inszenieren. Immerhin sind die Anzeichen nicht zu übersehen, dass Religion wieder zu einer öffentlichen Frage geworden ist und dass nicht wenige Zeitgenossen eine Antwort auf religiöse Fragen außerhalb der konfessionellen Kirchen suchen. Die katholische Kirche blockiert sich selbst durch ihr dogmatisch verkrustetes Sprechen von Gott, durch ein erstarrtes Gottesbild, durch wiederholtes Zitieren ihrer eigenen Zitate und das Beharren auf das einmal Definierte. Damit stößt sie auf Unverständnis, ohne zu begreifen, warum sie nicht verstanden wird. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der von Papst und Bischöfen behaupteten Glaubenskrise und der von Katholiken diagnostizierten Kirchenkrise, solange diese Kirche behauptet, sie vertrete die Sache Gottes in der Nachfolge Jesu. Sie verdunkelt diesen Zusammenhang, indem sie dogmatische, moralische und rituelle Fossilien durch die Zeiten mitschleppt und den Menschen im Namen Gottes Gewalt antut. Wenn die Außenseite der kirchlichen Strukturen die spirituelle Innenseite nicht mehr erkennbar macht, löscht die Kirche in sich selbst die Spuren Gottes. So kann die angebliche Glaubenskrise unmittelbare Folge der Kirchenkrise sein. Die Vermutung ist nicht abwegig, dass die panische Angst der Kirchenleitung vor einem strukturellen Umbau ein Ausdruck ihrer Glaubenskrise ist.

(1) Entstaatlichung

„Entweltlichung“ war das Zauberwort, das während der Papstparade in die Arena der deutschen Kirche geworfen wurde. Die deutschen Bischöfe haben auffallend schnell reagiert und erläutert, was der Papst nicht gemeint haben könne. Sie hätten sich den weltweit inzwischen 400 Bischöfen anschließen können, die im „Katakombenpakt“, den Konzilsbischöfe, die Helder Camara dazu angestiftet hatte, unterschrieben haben. Sie verpflichten sich, im Hinblick auf Wohnung, Essen und Verkehrsmittel so zu leben, wie Menschen um sie herum üblicherweise leben. Sie wollen durch ihre Amtskleidung sowie ihre Amtsinsignien nicht in die Nähe der Reichen und Mächtigen gerückt werden.

Entweltlichung ist ein nebelhafter Appell. Statt dessen sollte eine Entstaatlichung der deutschen Kirche geprüft werden. Damit sind vier strukturelle Umbauten gemeint.
Die Körperschaft öffentlichen Rechts mit der hinkenden Trennung vom Staat und einer freundlichen Kooperation hat zur Folge, dass kirchliche Führungskräfte dazu neigen, den Schulterschluss mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten zu suchen. Diese Organisationsform ist kein überzeugendes Zeichen der Nachfolge Jesu und der Gottesherrschaft. Katholische Christen könnten in der privaten Verbandsform als zivilgesellschaftlicher Akteure vermutlich viel mehr bewegen.

Die kirchliche Steuerhoheit einschließlich des Zwangsinkassos durch Staat und Arbeitgeber hat vermutlich jene Zentralisierungstendenzen begünstigt, auf Grund derer die deutschen Bischöfe gegen erheblichen Widerstand der Gemeinden Mega-Pfarreien installiert haben. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir vergessen hätten, dass das erste Subjekt der Glaubensgemeinschaft weder ein Papst noch ein Bischof ist, sondern die Gemeinde vor Ort, wo zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind. Vermutlich gäbe es weniger Kirchendistanzierte, dafür aber abgespeckte Bistumsbürokratien, wenn der Kirchenbeitrag zuerst den Gemeinden zufließt und diese Anteile davon vertikal und horizontal weiterreichen.

Die Erklärung des Kirchenaustritts vor einer staatlichen Behörde ist ein Relikt aus der Zeit, da einzig der Staat die Religionsfreiheit seiner Bürgerinnen und Bürger garantierte. Eine Regelung, die damals vertretbar war, gehört heutzutage abgeschafft. Kein Sportverein käme auf die Idee, die Abmeldung eines seiner Mitglieder vom Ortspfarrer bescheinigen zu lassen.
Nicht wenige Christen, die sich politisch engagieren, sind Mitglieder einer Gewerkschaft. Wie sollen wir es den Kolleginnen und Kollegen verständlich machen, warum die katholische Kirche als Arbeitgeberin keine Tarifverträge mit den Gewerkschaften abschließt? Sie schwächt ja damit die Gewerkschaften und die solidarische Gegenmacht der abhängig Beschäftigten in unserm Land. Folglich sind die deutschen Bischöfe auch mitverantwortlich dafür, dass sich miserable Arbeitsverhältnisse und ein Niedriglohnsektor in Deutschland derart ausgebreitet haben.

(2) Selbstbefreiung

Die heutige hierarchisch-autokratische Organisationsform der katholischen Kirche mit der Person und Botschaft des Jesus von Nazareth oder mit einem göttlichen Auftrag begründen oder rechtfertigen zu wollen, klingt dumm oder böswillig. Hierarchien wie beim Militär oder Strafvollzug lassen sich funktional begründen und rechtfertigen. Für die heutige Kirche sind sie dysfunktional, weil sie die Fähigkeit des Systems, aus geschichtlichen Veränderungen und gesellschaftlichen Bewegungen zu lernen, behindern. Deshalb gibt es gute Gründe dafür, die Mitglieder der katholischen Kirche an Entscheidungen der Amtsträger und Amtsträgerinnen wirksam zu beteiligen, die kirchlichen Ämter zeitlich zu begrenzen sowie auf allen Ebenen direkt oder indirekt vom Kirchenvolk wählen zu lassen.

Das Verlangen, Frauen zu allen entscheidenden kirchlichen Ämtern zuzulassen, ist berechtigt, zumal die anthropologischen und theologischen Argumente, die neuerdings dagegen vorgebracht werden, einem mehrfachen Zirkelschluss unterliegen. Aus einer patriarchalisch vorgeprägten Sexualmoral werden die geschlechtsspezifischen Handlungsmuster und Intimbeziehungen definiert. Umgekehrt werden die biosomatischen Unterschiede der Geschlechter auf gesellschaftliche Rollenmuster übertragen. Diese Mixtur aus sexuellen, erotischen Beziehungen einerseits und gesellschaftlichen Rollenmustern anderseits formen das traditionelle Gottesbild, das menschliche Vorstellungen eines Vaters und eines Sohnes in Gott hineinträgt. Aus einem solchen Gottesbild wird der normative Schluss gezogen, dass die maßgebliche Entscheidungskompetenz in der Gesellschaft und in der Kirche den Männern gebührt. Die Botschaft der Befreiung, die mit dem Evangelium Jesu verbunden ist, zerschmettert einen solchen mehrfachen Zirkelschluss.

Vergleichbares gilt für die Kopplung einer partnerschaftslosen, sexuell abstinenten Lebensform an die Funktion eines kirchlichen Amtes. Das symbolische Deutungsmuster, dass diese Lebensform der Gottesherrschaft näher stehe, überzeugt kaum. Das funktionale Deutungsmuster, dass eine Single-Existenz für andere Menschen intensiver verfügbar sei, lässt sich empirisch widerlegen. Woran liegt es bloß, dass religiös musikalische Menschen häufig dazu neigen, die persönliche Ausstrahlung auf andere, also die Macht über Menschen, Erotik und Sexualität sowie Verfügung über die Güter dieser Erde zu dämonisieren und als etwas zu betrachten, dass ihre Beziehung zu Gott automatisch behindere.

(3) Aufstehendes Kirchenvolk

Die ergebene Unterwerfung der repräsentativen Vertretung der katholischen Christen in Deutschland, des Zentralkomitees der Katholiken unter die veröffentlichte Meinung der deutschen Bischofskonferenz ist anerkennenswert. Ein Schulterschluss jener Gremien, die teils durch, teils ohne die Zustimmung der katholischen Christen zustande gekommen ist, dient möglicherweise der innerkirchlichen Beruhigung. Falls die Bischöfe auf die Vorschläge des Zentralkomitees eingehen, ist der Weg der Kooperation empfehlenswert. Was aber geschieht, wenn dies nicht geschieht, wenn also die Bischöfe die Solidarität untereinander und mit der zentralen höheren Autorität als gewichtiger einschätzen als die Solidarität mit den ihnen anvertrauten katholischen Christen? Dann sollten die Katholiken versuchen, einzelne Bischöfe aus dem Club der Bischöfe, die sich wechselseitig paralysieren, heraus zu locken, um einen gemeinsamen Aufbruch zu wagen. Sie sollten dann auf solche Bischöfe einwirken, dass diese in einer Form der Selbstbindung die Beschlüsse der bisherigen diözesanen Beratungsgremien sich zu eigen machen.

Und wenn auch dieser kooperative gemeinsame Aufbruch verschlossen bleibt? Dann sollten die Katholiken sich selbst organisieren, sich vernetzen und gemeinsam das tun, was sie in der Treue zur Gottesherrschaft und zur Botschaft des Jesus von Nazareth für richtig halten. Auf die Zentralisierung der Mega-Pfarreien könnten sie mit Initiativen der pastoralen Nähe und der Liturgien des Lebens antworten.

Der Bischof von Poitiers in Frankreich ist dem gesellschaftlichen Trend, den ländlichen Raum zu entleeren, nicht gefolgt. Demgegenüber wurden folgende Grundsätze formuliert: Nähe geht vor räumliche Weite; Menschen haben Vorrang vor Strukturen; kreative Beteiligung ist wichtiger als bürokratische Effizienz. Was Menschen vor Ort brauchen, gilt mehr als die Sorge der Kirche um sich selbst. Was den Menschen dient, ist die Verkündigung der frohen Botschaft, das Gebet und die Nähe zu den Familien sowie den Kranken, Einsamen und Sterbenden. Deshalb bleibt keine Gemeinde ohne die Begleitung einer pastoralen Equipe. Drei ihrer Mitglieder - für die Verkündigung, das Gebet und den Dienst an den Menschen - werden ernannt, zwei - Moderatorin und Schatzmeisterin - werden gewählt.

Experimentelle Gottesdienste, die kinder- und jugendgemäß sind, könnten aus den Nischen der Bildungshäuser und Jugendkirchen, in die sie ausgelagert wurden, in die Gemeinden zurückgeholt werden, so dass auch Eltern und Gemeindemitglieder daran teilnehmen. Vor allem sollte das Missverständnis der christlichen Liturgie als eines exotisch-magischen Kultes überwunden werden. Eine Papstmesse im Fußballstadion oder ein vom Bischof inszeniertes Spektakel in der Kathedrale muss nicht der Regelfall sein. Der erstrangige Ort und Kontext der christlichen Liturgie sollte das alltägliche Leben bleiben. Folglich solle ihre Gestaltung nicht dem Volk Gottes entrissen und professionellen Operatoren vorbehalten bleiben. Wo zwei oder drei im Namen Jesu beisammen sind, ihr Leben und das Evangelium teilen, gemeinsam beten, sollten sie sich ermächtigt fühlen, das Brot zu brechen und aus dem einen Kelch zu trinken, sowie überzeugt sein, dass der auferstandene Herr und sein Geist mitten unter ihnen ist.

Der Heilige Geist als die innere Lebenskraft des Gottesvolkes setzt organisatorische Bausteine der äußeren Kirche und ihrer Architektur für zeitgemäße Umbauten frei. Gott ist indifferent gegenüber einer hierarchischen oder demokratischen Verfassung der äußeren Kirche, selbst wenn die Kirchenleitungen es nicht sind. Deshalb muss das Kirchenvolk nicht unterwürfig darauf warten, bis Papst und Bischöfe ihnen das gnädig gewähren, was sie gemäß ihrem Gewissensurteil für richtig halten. Ungerechte Verhältnisse oder Strukturen der Sünde in der Welt und in der Kirche werden in den seltensten Fällen von oben durchbrochen. Die friedliche Revolution im Ostblock und die „Arabellion" belegen die Kraft von passivem Widerstand, Zivilcourage, offenem Protest, Herstellen von Öffentlichkeit in den Medien, gezielter Verletzung jener kirchlichen Regeln, die Menschenrechte verletzen sowie religiös-zivilem Ungehorsam und einer Selbstbehauptung der Reformwilligen. Wer sollte diese daran hindern, sich die real existierende Kirche wieder anzueignen - auf gleicher Augenhöhe in der Dynamik des Gottesgeistes, der allen Christen innerlicher ist, als sie selbst es sind?


© imprimatur Oktober 2012
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