Werner Müller
Eine Todsünde – philosophisch betrachtet
Werner Post: Acedia – Das Laster der Trägheit. Zur Geschichte der siebten Todsünde, Freiburg i. Br. (Herder) 2011 (= Forschungen zur Europäischen Geistesgeschichte Bd. 12), 184 S.

Was bringt einen gestandenen Philosophen dazu, sich mit der siebten Todsünde im Lasterkatalog der christlichen Moraltheologie zu beschäftigen? Gewiss nicht, dass die moderne Theologie mit Todsünden im Allgemeinen und der siebten im Besonderen nichts Rechtes mehr anzufangen weiß und man ihr hier auf die Sprünge helfen müsse. Der Verfasser sagt schon im Vorwort, dass er keine eigenen theologischen Ambitionen verfolgt, sondern den „wirkungsgeschichtlichen Spuren von Acedia außerhalb des religiösen Weltbildes nachgehen“ will. Er lässt sich dabei von der Vermutung leiten, dass es unerledigte religiöse Traditionen gebe, die der säkularen Welt vielleicht weiterhelfen könnten, ein seit der Friedenspreisrede von Jürgen Habermas 2001 auch unter kritischen Intellektuellen salonfähiger Gedanke. Die um Acedia sich rankende ist eine solche Tradition.

Bezeichnenderweise lässt sich akedeia (latinisiert acedia) in modernen Sprachen nur schwer wiedergeben. „Trägheit“ (des Herzens)“ oder „geistliche Trägheit“ kommt dem ursprünglichen Sinn wohl noch am nächsten; englisch wird es mit „sloth“, französisch mit „cafard“ oder „paresse“ wiedergegeben; „den blues“ - oder auf Saarländisch:„die Flemm haben“ sind moderne psychologische Annäherungen, die den Kern des ursprünglich Gemeinten nicht treffen. Der Begriff stammt nämlich aus der Spiritualität des anachoretischen Mönchstums in der ägyptischen Wüste im 4. Jahrhundert (im 1. Kapitel knapp dargestellt) und bezeichnet eine der Grundversuchungen des altchristlichen Mönchlebens. Evagrius Ponticus (346 – 399), bei dem sich der erste terminologische Nachweis findet, beschreibt das Phänomen leicht ironisch folgendermaßen:

Das Auge des von Acedia erfüllten (Anachoreten) blickt ununterbrochen auf die Fenster (seiner Zelle). Sein Geist gaukelt ihm Besucher vor. Die Tür knarrt, er springt auf. Er hört Stimmen. Schon beugt er sich aus dem Fenster und rührt sich lange Zeit nicht von dort weg. Dann setzt er sich wie betäubt hin. Wenn er (wieder) liest, gähnt er viel… reibt sich die Augen, streckt die Arme aus, wendet dann die Augen vom Buch zur Wand. Bald wendet er sie wieder auf das Buch, liest ein wenig, …beschäftigt sich unnütz mit Worten, zählt die Seiten, glättet die Ecken, tadelt die Schrift und den Schmuck des Buches. Darauf schlägt er es zu und legt es unter seinen Kopf. Er schläft dann einen nicht sehr tiefen Schlaf, denn Hunger weckt ihn bald wieder auf…(De octo spiritibus malitiae 14, PG 79, 1145 A – 1164 D, zit S. XI)

Welcher heutige ,Geistesarbeiter‘ hätte nicht schon Ähnliches erlebt? Für die frühchristlichen Anachoreten jedoch standen hinter solchen psychischen Zuständen noch etwas anderes: Dämonen, bei der Acedia speziell der „Mittagsdämon“. Er bringt den Mönch vom Ziel seiner ganzen Existenz, der Gottesschau, ab, was zur inneren Lähmung führt, die sich wiederum auf psychologisch-symptomatischer Ebene als träge Gleichgültigkeit und hektische Zerstreuung äußert. Dieser (neuplatonische) kosmologische Hintergrund und die Tatsache, dass Acedia einen historischen Bedeutungswandel durchgemacht hat, machen eine unmittelbare Übertragung ins Heute unmöglich. Die Acedia-Tradition kann aber dennoch zur Dechiffrierung von Grundproblemen des Lebens in unserem säkularen Zeitalter dienen.

Diese Grundthese des Buchs wird in neun Kapiteln entfaltet, die jeweils einzelnen Stationen des Bedeutungswandels von Acedia und, nach dem Ende des religiösen Zeitalters, ihrer hintergründig-heimlichen Aktualität nachgehen. Für die Anfänge bei den Anachoreten (2. Kap.) – wo die zwei wichtigsten spätantiken Gewährsmänner, Evagrius Ponticus und Johannes Cassianus zur Sprache kommen – sowie für die Bedeutungsverschiebungen im Früh-, Hoch- und Spätmittelalter kann Post auf eine ganze Reihe philologischer Studien zurückgreifen, die er gekonnt, ohne sich in Details zu verlieren, zusammenfasst. Die Behandlung von Bonaventura und Thomas von Aquin transportiert, nebenbei bemerkt, gründliches theologiegeschichtliches Wissen. Petraca, für den Acedia fast mit Tristitia identisch ist, greift bereits auf das „melancholie-selige Quattrocento“ voraus; in der Renaissance verschwindet Acedia immer mehr in der „genialischen Schmerzlust“ der Künstler, der Melancholie. Dem Motiv wird bei Dante, Marsilio Ficino, Dürer u.a. und in einem weiteren (8.) Kapitel in modernen philosophischen und literarischen Deutungen (u.a. Romano Guardini, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Walter Benjamin, um nur die bekanntesten Philosophen-Namen zu nennen) nachgegangen, wobei das Wort Acedia selbst nicht immer auftaucht, sehr wohl aber die Sache, unter anderen Namen, neben Melancholie etwa der spezifisch deutschen „Schwermut“. – Der Verfasser bringt eine beeindruckende Menge von ‚Material‘ bei und verarbeitet es in essayistischer Form, die die Lektüre nie ins Acidiöse, wie oben beschrieben, abgleiten lassen. (Ein Personenregister hätte es allerdings erleichtert, den Überblick zu behalten.)

Während die spirituellen Motive der Acedia - „die Lähmung des Aufschwungs im Transzendieren der Welt auf Gott hin“, wie ein anderer Autor, H. Saner, diese schön umschrieben hat - seit der „Verflachung im Spätmittelalter“ (Kap. 5) in Psychologie aufgehoben werden, erhielt sich ihre praktische Seite noch länger: Das schon den Mönchen bei acidiösen Versuchungen empfohlene Abwehrmittel (remedium), körperliche, handwerkliche Arbeit, gilt von der frühen Neuzeit an bis heute auch „als Therapie“. Ein längeres der Geschichte des Arbeitsbegriffs gewidmetes Kapitel (7) zeigt für dieses Remedium eine ähnliche Widersprüchlichkeit wie bei der Acedia selbst: Wenn Pflicht und Neigung bei der Arbeit zusammenkommen, kommt Trägheit gar nicht erst auf; aber die gängige moderne rigide von außen auferlegte Arbeit, erst recht eine bloß ökonomisch versachlichte, stumpfsinnige Produktion taugt nicht mehr als Therapie, „sie provoziert eher selbst jene acediösen Reaktionen, die sie eigentlich überwinden sollte“( S.113).

Im abschließenden 9. Kapitel wird die Grundthese auf „aktuelle Tendenzen“ säkularer westlicher Gesellschaften angewandt. Unter Aufbietung der avanciertesten Gesellschaftstheorien, besonders das monumentale Werk von Charles Taylor „Ein säkulares Zeitalter“ (2009) wird herangezogen, versucht Post zu zeigen, dass die Melange aus dumpfer Renitenz, passiver Verweigerung und manischer Hektik, die wie oben beschrieben den acidiösen Mönch in seiner Zelle kennzeichnet, auch das „unglückliche Bewusstsein des modernen Individuums ausmacht. Es sitzt in der „ökonomistisch erzeugten Individualisierungsfalle“ wie in einer Mönchszelle. So macht
Acedia „sichtbar, was vom Versprechen der Moderne … nicht eingelöst worden ist“ (163). Das ist zwar keine Lösung, aber wenigstens ein Diagnose-Raster.

Auch wenn man nicht alle angeführten Theoreme nachvollziehen, ja beim ersten Lesen gar nicht verstehen kann, ist es dennoch frappierend, wie viel man über unsere heutige Zeit, die moderne Gesellschaft und sein individuelles Leben in ihnen lernen kann bei der Beschäftigung mit einer Versuchung von Mönchen in der Wüste, über die ein Kirchenvater im 4. Jahrhundert erstmals reflektiert hat. Um mit einem anderen Kirchenvater zu sprechen: Nimm und lies!


© imprimatur Juli 2012
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