Irmgard Rech
„Vernichtet werdet ihr, vernichtet“ Dtn 4, 26
Die Antwort der Bibelforschung auf die quälende Frage nach der Deutung von JHWHs vernichtender Gewalt

Erst seit etwa vierzig Jahren beschäftigt sich die Forschung intensiv mit dem Thema der Gewalt in der Bibel. Muss man sich nicht fragen, warum erst so spät! Haben nicht aus Texten, die von Eroberung und Vernichtung im Auftrag JHWHs erzählen und als Wort Gottes galten, gläubige Menschen die Rechtfertigung herausgelesen, im Namen der Religion Kriege führen zu dürfen, ja sogar im Namen der Religion morden zu müssen. Gerade jetzt, da Christen weltweit Opfer von Gewalt werden, erinnert Matthias Drobinski in einem Kommentar der SZ (24. Jan. 2012) an diese Gewalttaten der Vergangenheit: „Über Jahrhunderte hinweg haben die Christen und die sich Christen nennenden Mächtigen die Andersgläubigen bekämpft, marginalisiert und zwangsbekehrt.“ Zur christlichen Vergangenheitsbewältigung muss es demnach gehören, die Deutungsergebnisse der neueren Exegese über die Gewaltdarstellungen der Bibel herauszustellen und beispielhaft aufzuzeigen, wie solche nach heutigem Empfinden abstoßenden Textstellen zu verstehen sind.

Das leistet die Promotionsarbeit von Helene Neis, die 2011 am Institut für katholische Theologie an der Universität des Saarlandes bei Professor Dr. Karl-Heinz Ohlig entstanden ist.

Neis Helene, Vernichtet werdet ihr, vernichtet!
Narrative und paränetische Entfaltung des Gewaltmotivs in der ersten Moserede Dtn 1, 1 – 4, 40
Europäische Hochschulschriften, Peter Lang, Frankfurt a. M. 2011

Helene Neis hält die ersten vier Kapitel des Deuteronomiums „paradigmatisch für den Problembereich Monotheismus und Gewalt, weil sie ungefähr gleichzeitig mit der Ausbildung des Monotheismus endredigiert wurden und für den Leser Gewalt in ihrer schlimmsten Form zu rechtfertigen scheinen.“(7) Mose hält diese Rede vor seinem Tod in Moab, nachdem das Volk vom Horeb aus bereits Teile des Ostjordanlandes eingenommen hat und sich bereit macht, zur eigentlichen Landnahme westlich des Jordans aufzubrechen. Da Mose selber nicht mit in das verheißene Land ziehen darf, will er dem Volk sein Vermächtnis mitgeben. So erinnert Mose im ersten Teil seiner Rede (1-3) das Volk an das rettende Wirken JHWHs seit dem Aufbruchsbefehl am Horeb (drei friedliche Etappen 2,1 – 23 und zwei kriegerische Aktionen mit Vernichtungsweihe 2, 24 – 3,7), um es in einem zweiten Teil auf die „Gesetze und Rechtsvorschriften“ unter Androhung seiner Vernichtung zu verpflichten, damit es im Land ein gutes Leben führen kann. Das wirkmächtige Eingreifen seines Gottes sollte dem Auszugsvolk damals wie jetzt der Exilsgeneration, den Hörern der Endredaktion, Trost und Zuversicht für die Zukunft geben.

Keine Tatsachenberichte

Während die ältere Exegese noch von einem realen Landnahmekrieg ausging, deutet die heutige Exegese die biblischen Kriegserzählungen nicht als Tatsachenberichte, sie haben also „keine Entsprechung in der Realität“. So weist die Verfasserin schon im Vorwort darauf hin, Israel sei „rein faktisch nicht zu übergroßen Gewaltausübung imstande“ gewesen, „wohl kaum in seiner Frühzeit und schon gar nicht in der Gegenwart der Verfassung von Dtn 1 – 4, in der Zeit im oder um das Exil.“ (8) Wie lassen sich die Gewalterzählungen dann verstehen? Da auch die Archäologie bis heute keine Beweisfunde geliefert hat, folgert H. Neis, es müsse sich „um eine andere altorientalische Redeform oder –gattung (handeln), die wir nicht mehr kennen und auf keinen Fall ungefiltert in die Moderne übertragen können.“ (9)

In einem einführenden Teil wird der Leser mit der Methode vertraut gemacht. Um sich der literarisch-theologischen Intention aus der historischen Distanz zu nähern, entscheidet sie sich, von der kanonischen Endfassung auszugehen und dabei den synchronen Ansatz zu wählen und weniger auf historisch-kritische Fragestellungen einzugehen. In „narrativer Analyse“, wie sie auch N. Lohfink anwendet, der H. Neis zu dieser Arbeit angeregt hat, wird der Komposition der Rede Abschnitt für Abschnitt und Satz für Satz nachgegangen und auf den Zusammenhang von sprachlich-rhetorischer Form, Inhalt und Textintention befragt. Mit dieser akribisch durchgeführten synchronen strukturalen Analyse dringt sie in kleinsten Schritten in die theologische Vorstellungswelt der Exilgeneration ein, die sich diese Moserede aus tradiertem Material zum eigenen Überleben geschaffen hat. (Num 21,21-32 z. B. enthält eine andere Gestaltung dieser Kriegsführung JHWHs zugunsten seines Volkes.) Gut lesbare Anmerkungen, geben dem Leser interessante Einblicke in die Entwicklung der Forschungsliteratur zur biblischen Gewaltproblematik.

Der Vorteil dieser Dissertation für jeden, der sein Unbehagen bei der Lektüre des Alten Testamentes loswerden will, ist in der Begrenztheit der untersuchten Textstelle zu sehen, in der übersichtlichen Systematik (erkenntlich an dem ausführlichen Inhaltsverzeichnis) und nicht zuletzt in der Vertrautheit der Autorin mit der hebräischen Sprache. Doch die Leser, die kein Hebräisch gelernt haben, brauchen nicht zurückzuschrecken vor der Lektüre. Alle hebräischen Wörter oder Lexeme werden übersetzt und gedeutet. Gerade bei der Behandlung des Bannes oder der Vernichtungsweihe (ein Wort mit sakraler Bedeutung) sind die Erkenntnisse aus dem hebräischen Sprachwissen aufschlussreich. Das Hebräische hat nämlich keinen Gewaltbegriff entwickelt, kennt aber Bezeichnungen für Gewalthandlungen in großer sprachlicher Vielfalt, „worin sich die Allgegenwart der Gewalt und die Vielgestaltigkeit der Erfahrungen mit ihr sowie des Nachdenkens über sie spiegeln.“(37)

JHWH als „fressendes Feuer“ für die Völker und sein eigenes Volk

Ein Merkmal dieser Dissertation ist, dass neben dem physischen Aspekt von Gewaltanwendung bei der Darstellung der Eroberungskriege auch der psychologische Aspekt des Gewaltbegriffs in den Strafandrohungen des Mose bei Nichtbeachtung des Gesetzes stark herausgestellt wird. Die Verfasserin betont „die bedrohliche Dimension“ der Horeb-Reminiszenz (Feuer, Finsternis, Wolken und Dunkel / 4,9-15), die ihren Sinn darin hat, das Volk die Gottesfurcht als Gebotsgehorsam zu lehren, wobei die explizite Androhung der Vernichtung, die als Titel für die Arbeit gewählt wurde, an das Gebot der bilderlosen Gottesverehrung geknüpft wird. Werden die Völker, die sich Israel widersetzen, durch JHWH als einem „fressendem Feuer“ vernichtet (Dtn 9,3), so werde er auch für sein eigenes Volk zum „fressenden Feuer“ (Dtn 4,24). Wahrzunehmen sei, dass JHWH nicht nur die Vernichtung zulasse, sondern dass er gleich nach dieser Androhung als „ihr Initiator“ hingestellt werde. (307) In der babylonischen Eroberung hat Israel diese Vernichtung als Zerstreuung unter die Völker erlebt. Dass dabei ein Rest übrig bleibe, hebt für sie die Prophezeiung „der totalen Austilgung“ nicht auf.

Gerade aus der Exilsituation heraus, in die der Text ja hineingeschrieben ist, sieht H. Neis auch die politische Dimension der Vernichtungsandrohung. Israel soll nicht in der Fremde des babylonischen Exils seine völkische Existenz verlieren, indem es der Idolatrie verfällt. (375) Israel hat das Gesetz, die Tora, die es aus allen Völkern hervorhebt (Dtn 4,5-8) und seine Existenz sichert. Die Verfasserin stellt das geschichtstypologischem Junktim von Gesetz und Vernichtungsdrohung durch JHWH bei Missachtung des Gesetzes heraus, doch zugleich entlastet sie Israels Gott, in dem sie erklärt, nicht JHWH vernichte, sondern der ungehorsame Mensch gibt sich selber der Vernichtung preis. Wichtig ist es ihr hervorzuheben, dass die Gewalt in Verbindung mit dem Bilderverbot niemals Andersgläubige vernichtet.

Sprache der Gewalt als dunkle Folie für JHWHs Heilsversprechen

Wenn es auch textgerecht ist, die Benennung des vernichtenden Handelns JHWHs zu Beginn des ersten wie des zweiten Teiles der Rede als dunkle Folie zu verstehen, so haben sich mir um so stärker die positiven Seiten des israelischen Gottes hervorgehoben, die in der Arbeit ebenso gründlich gewürdigt werden. Das sind die Stellen, in denen JHWH den Krieg untersagt („und begeht keine Feindseligkeiten gegen sie“ 2,5), in denen die Tora als Weisheitsschatz erkannt wird („denn darin besteht eure Weisheit und Bildung in den Augen der Völker“ 4,6) und in denen Mose dem Volk die Angst nimmt unmittelbar nach der Vernichtungsdrohung („Wenn du in Not bist, werden alle diese Worte dich finden .... „Denn der Herr, dein Gott ist ein barmherziger Gott. Er lässt dich nicht fallen und gibt dich nicht dem Verderben preis“ 4,30f).

In dem besonders lesenswerten Schlussteil der Arbeit werden die Gewaltaussagen und das Kriegsvokabular der Moserede listenartig zusammengestellt (363-368). Es wird davor gewarnt, diese nach Art der gemeinorientalischen Kriegsliteratur formulierte Gewalt moralisch zu bewerten. Sie könne nur aus ihren unterschiedlichen Kontexten heraus „versuchsweise“ (364) gedeutet werden. Sie schließt sich der Meinung G. Baumanns an, der überzeugt ist, „dass sich ein umfassendes altisraelisches Gewaltverständnis nicht rekonstruieren lasse.“ (367) Erkennbar ist, Israel führt keine Kriege aus Machtbesessenheit wie die orientalischen Großmächte. Ehre und Anerkennung will es nicht durch brutale Kriegsführung erreichen. Ehre bringt ihm seine Tora, die es zu einer Rechtsgemeinschaft macht, „ein ganz neuer Aspekt in der gewalttätigen Umwelt“ (348)

Wer nach der Lektüre dieser Doktorarbeit die Moserede Dtn 1,1-4,40 noch einmal liest, begegnet einem ambivalenten aber bundestreuen Gott, der Israel durch die Wüste getragen hat, „wie ein Vater seinen Sohn trägt“ (Dtn 1, 31). Könnte es nicht sein, dass die Sprache der Gewalt nicht nur zur Umschreibung seiner Macht gewählt wurde, sondern auch um seine Treue und seine Barmherzigkeit vor der dunklen Folie damaliger Kriegsrhetorik zum Leuchten zu bringen.

Die Arbeit sollte in die Hände möglichst vieler Pädagogen gelangen, welche die Bibel nach den neuesten Erkenntnissen auslegen wollen. Da sie redundant geschrieben ist, kann sie auch gut in Teilen gelesen werden. Sie leistet einen beachtenswerten Beitrag zu einem neuen Gesamtverständnis der Bibel.


© imprimatur Mai 2012
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