Thomas Sternberg
Fatale Selbstmarginalisierung
Zur Lage der katholischen Kirche Deutschlands

Zur Planung ihrer Pastoralaufgaben haben auch die Bistümer inzwischen die Bemessungsgröße des allsonntäglichen Kirchenbesuchs verinnerlicht. Es bleibt die Frage, ob auch gelegentliche Kirchgänger oder bloße Kirchensteuerzahler so einfach vernachlässigt werden dürfen. Die kleine Herde könnte Realität werden, weil man konsequent an sie glaubt und den Fehler macht, Rückgänge überzuinterpretieren und nicht die Breite des nach wie vor vorhandenen volkskirchlichen Lebens wahrzunehmen.

Mitglieder einer aufgelösten Gemeinde im Bistum Essen fanden sich aus Empörung über den geplanten Abriss der von ihnen in den sechziger Jahren gebauten Kirche zu medienwirksamen Gottesdiensten vor der verschlossenen Kirche zusammen. In einem Vortrag vor älteren, seit Jahrzehnten engagierten Katholiken erregte der Referent mit dem Hinweis, er verstehe sich mit den Bischöfen der Region gut, erheblichen Unmut. Und in den Gottesdiensten der Innenstadtkirchen trifft man immer häufiger auf „Fusionsverweigerer“, die sich den pastoralen Neustrukturierungen ihrer Gemeinden durch Ausweichen entziehen.

Drei Schlaglichter für ein neues Phänomen in der katholischen Kirche Deutschlands: In der Kirche tauchen immer häufiger „Wutchristen“ auf, zumeist ältere, durchaus jahrzehntelang kirchlich engagiert, fromm erzogen und lebend, Frauen und Männer, die ihren Grundärger über Entwicklungen in Pastoral und Kirche mit gewachsenem Selbstbewusstsein äußern.

Besonders unter den älteren Katholiken, der „Konzilsgeneration“, sind viele, die der Hierarchie ins Angesicht widerstehen wollten mit dem stolzen, angeblichen Satz Luthers: „Hier stehe ich – ich kann nicht anders!“ Die Reform ihrer Kirche war und bleibt ihnen ein dringender Auftrag, an dem sie sich zum Teil über die Jahrzehnte wund gerieben haben.

Die jüngeren Katholiken sind anders. Sie mögen durchaus zur Übernahme von Verantwortung bereit sein, nicht aber die hierarchischen Gepflogenheiten einer klerikerzentrierten Kirche anerkennen. Sie wandeln das Zitat ab: „Hier stehe ich – ich kann auch anders“ und sind für kirchliches Ehrenamt verloren, wenn sie nicht die gleiche Wertschätzung und Kompetenzübertragung finden, die im säkularen Kontext normal ist.

Indikatoren des kirchlichen Lebens in Deutschland erweisen sich als erstaunlich stabil

Die Gemeindechristen werden deutlich weniger. Die Kerngemeinden schmelzen, leere Kirchenbänke bei Gottesdiensten zu finden fällt keinem Kamerateam schwer. Aber wie wenige – oder wie viele – sind wir wirklich?

Die einzig wirklich belastbare Zahl ist die der katholisch Getauften und in der Kirche bleibenden Deutschen. Diese Zahl ist zwar zurückgegangen, keineswegs aber so stark, wie dies in der öffentlichen Meinung unterstellt wird. 1955 machten sie 24,22 Millionen aus, erreichten nach kontinuierlichem Anstieg einen Höchststand 1990 mit 28,25 Millionen und sind seitdem auf jetzt 24,65 Millionen zurückgegangen. Dieser Rückgang von fast vier Millionen in 20 Jahren geht stärker als auf Austritte auf ein negatives Saldo von Taufen und Bestattungen zurück. Drastischer wird es aber, wenn man die Zahlen auf die Bezugsgröße der deutschen Bevölkerung bezieht. Machten sie 1955 noch fast die Hälfte (46,2 Prozent) der (West-)Deutschen aus, waren es nach der Wiedervereinigung 1990 noch 35,6 Prozent, erreichten das genaue Drittel 1997 und liegen 2010 bei 30,15 Prozent. Zusammen mit den evangelischen Christen sind sie inzwischen bei 60 Prozent der 82 Millionen Deutschen; die anderen sind Muslime, Christen anderer Denominationen, Juden, Buddhisten, Religionslose.

Nun hat sich für die Frage der Kirchenbindung eine andere Zahl durchgesetzt: die der der sonntäglichen Kirchenbesucher. Die Prozentzahl ist seit 1950 kontinuierlich – mit einem kurzfristigen Anstieg im Konziljahr 1964 – von 50,4 auf 12,6 zurückgegangen. Es handelt sich hierbei um die Menge der an den beiden Zählsonntagen im März und November erfassten Kirchenbesucher. Keine belastbaren Zahlen haben wir über die Besucher an den kirchlichen Festtagen oder über monatlichen oder gelegentlichen Kirchenbesuch. Die regelmäßigen Befragungen des Instituts Allensbach nennen hier Werte von 26 Prozent der Katholiken, die nach Selbsteinschätzung „fast jeden Sonntag“ und weitere 29 Prozent, die „ab und zu“ Gottesdienste besuchen. Zusammengefasst machen sie mehr als die 52 bis 54 Prozent aus, die seit Jahren stabil ihre Kirchenbindung als „eng“ oder „kritisch“ verbunden bezeichnen.

Andere Indikatoren des kirchlichen Lebens in Deutschland erweisen sich als erstaunlich stabil: Die Kinder aus einer kirchlich geschlossenen Ehe werden seit eh und je fast vollzählig getauft und fast alle werden auch zur Erstkommunion geschickt. Von diesen wiederum lassen sich seit Jahrzehnten stabil rund 70 Prozent auch firmen. Einen rasanten Absturz der Zahlen haben wir allerdings bei den katholischen Eheschließungen zu verzeichnen, in 20 Jahren auf weniger als die Hälfte.

Zur Ermittlung der Größe der Pastoralaufgaben haben fatalerweise auch die Bistümer inzwischen die Bemessungsgröße des allsonntäglichen Kirchenbesuchs verinnerlicht. Eine Grafik des von der Deutschen Bischofskonferenz seinerzeit beauftragten Beratungsinstituts verglich 2004 die Menge der Priester je Gottesdienstbesucher 1960 mit denen 2002. Die verblüffende Erkenntnis: Während die Zahl der Priester auf Katholiken bezogen um 42 Prozent gesunken war, ist sie je Gottesdienstbesucher um 79 Prozent höher. Tröstet das süße Gift dieser Erkenntnis über das gravierendste Problem der Kirche hinweg, das des Priesterschwundes?

Die Zahl der Priesterweihen sank in den letzten fünfzig Jahren von etwa 560 auf jetzt 90 pro Jahr. Allein in den letzten 10 Jahren ist die Zahl der Priesteramtskandidaten um ein Viertel gesunken, sie lag 2009 erstmals unter 100 in den Priesterseminaren aller deutschen Bistümer. Hatten wir 1978 noch fast 25 000 Priester, so sind es heute noch 13 500. Nach Prognosen der Bistümer werden 2020 zwei Drittel der heutigen Gemeinden keinen eigenen Priester mehr haben. Die Seelsorgestellen werden zunehmend durch Priester aus dem Ausland aufgefüllt. Bereits heute kommen 12 Prozent der aktiven Priester aus dem Ausland, vor allem aus Polen und Indien. Auch hier dürften Grenzen erreicht werden.

Es ist geradezu eine Vertauschung der Rollen, wenn jetzt Laien vehement nach Priestern für die Seelsorge und die Sicherung des sakramentalen Lebens rufen, während Kirchenleitungen beschwichtigend auf die Rolle der Laien verweisen. Begründet sind die Zahlen nicht allein durch mangelnden Nachwuchs, sondern zudem durch das Ausscheiden von Priestern aus ihrem Dienst. Nach Angaben der italienischen Zeitschrift der Jesuiten „Civilta Cattolica“ haben in den vergangenen 40 Jahren etwa 69 000 katholische Priester weltweit den Dienst quittiert, vor allem wegen ihrer Heirat. Der Zusammenbruch der Seelsorgestrukturen in ihrer heutigen und auch in den Formen der Großgemeinden und Seelsorgeeinheiten wird unter der Wahrung des Postulats der Gemeindeleitung durch Priester absehbar.

Diese Entwicklungen sind seit Jahrzehnten bekannt. Der Hinweis auf einen parallel verlaufenden Glaubensschwund verfängt dabei allerdings nicht. Auch in den bewusst christlichen Familien gibt es heute viele, die nicht mehr jeden Sonntag zur Kirche gehen. Wer aber nur einmal im Monat, oder auch nur einige Male im Jahr zur Kirche geht, ist derjenige kein Katholik? Viele engagierte, fromme Christen halten das Sonntagsgebot, so angemessen es auch sein mag, für nicht mehr relevant. Und zudem bleibt auch die Frage, ob die Menschen, die nicht aus der Kirche austreten, obwohl sie nie zur Kirche gehen, einfachhin für die Pastoral als unerheblich angesehen werden können. Im Neuen Testament liest man das anders! Was tut man für die zahlenden inaktiven Katholiken?

Die Gemeinden stellen sich heute verstärkt dem Thema der drohenden Verengung des Kirchenbegriffs, der eine ungewollte Konsequenz der Gemeindekonzepte der sechziger Jahre war: Wer gehört dazu? Die Konzepte der kleinen Gemeinde, die damals zu Abpfarrungen und teils übereilten Kirchenbauten geführt haben, können zur Ideologie verzerren, wenn sie die Sozialgestalt eines schichtenkohärenten Vereins annehmen. Gemeinde darf sich nicht wie eine Wagenburg abschotten gegen eine fremder werdende, unverstandene Welt. Demgegenüber erscheint sogar die ständeorientierte Vereinsstruktur der katholischen Kirche des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als aktueller und für unterschiedliche Milieus offener.

Dass hier neues Nachdenken ansetzen muss, ist einsichtig. Allerdings darf nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden und das Bild der Zwitterbildung „Pfarr-Gemeinde“ zu negativ gezeichnet werden. Das Leben unserer Kirche – in Frömmigkeit (leiturgia), Sozialdienst (diakonia) und Glaubensweitergabe (martyria) – vollzieht sich vor allem auf der Ebene der Gemeinden. In allen konzeptuellen Überlegungen zur Fusion zu Großeinheiten darf diese Leistung der überschaubaren Gemeinschaft nicht unterschätzt werden.

Katholiken sind heute kein einheitlich steuerbarer Block mehr

Auch außerhalb der Gemeinden gibt es immer mehr Menschen, die eine so lockere Bindung haben, dass ihnen die Fragen der kirchlichen Organisation und deren Ansprüche schlicht egal sind. Es geht nicht mehr um ein Zugeständnis an die Laien, in Fragen der Welt eine eigene Meinung zu vertreten, wie das noch Johannes XXIII. 1961 und dann das Konzil konzedierte, sondern Kirche ist nur und insoweit akzeptiert, wie die Autorität durch Argument und Leben plausibel und annehmbar ist. Argumente müssen überzeugen, wenn eine kirchliche Verlautbarung auf Aufmerksamkeit stoßen soll. Deswegen gibt es heute kaum Widerstand von Katholiken gegen Lehräußerungen zur Sexualmoral – da sie Grenzen zu setzen versuchen, wo das Freiheitsbewusstsein des modernen Menschen eine solche Grenze gar nicht mehr zulassen würde. An den Stellen, an denen die Kirche authentisch und überzeugend eine religiös begründete Position formuliert, hat sie eine außerordentlich hohe gesellschaftliche Akzeptanz in Deutschland.

Katholiken sind heute kein einheitlich steuerbarer Block mehr. Statt eines Lagers haben wir es heute mit wechselnden Allianzen je nach Thema zu tun. Eine wichtige Gruppe sind jene, die gelegentlich zur Kirche gehen, keinen Kontakt zur Pfarrgemeinde, zu Verbänden oder gar zum Bistum haben, aber nicht zuletzt durch die Zahlung der Kirchensteuer ein Band nicht abschneiden wollen, das ihnen doch noch irgendwie wichtig ist. Diese Gruppe macht sich etwa bemerkbar in der großen Akzeptanz christlicher Erziehung und Bildung für die eigenen Kinder.

Und sind die Kirchen schließlich Ansprechpartner für die „religiös Obdachlosen“? Diese Menschen sind nicht unreligiös, sondern sind es gewohnt, auswählen und entscheiden zu müssen. „Was Gott ist, bestimme ich“, ist zwar für einen Glaubenden nicht annehmbar, aber Realität vieler heutiger Menschen. Diese Frage, ob dort nicht auch Gesprächspartner sind, sollte Kirchenleute umtreiben.

Die pastoralen Konzepte der Diözesen gehen inzwischen fast alle von der Voraussetzung aus, dass die Sozialgestalt der „Volkskirche“ nicht mehr existiere, oder zumindest nicht zu halten sei. Der von dem evangelischen Theologen Friedrich Schleiermacher geprägte Begriff wurde vielfach missbraucht, meint eine große Gemeinschaft von Gläubigen, die einen wichtigen Teil der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens ausmachen. Die kirchlichen Aktivitäten verstehen sich als Salz und Sauerteig einer Gesellschaft, von der sie nicht getrennt ist, sondern integraler Bestandteil. Das Konzil hat vor 50 Jahren diese Sicht der Kirche, die sich auf älteste Traditionen berufen kann, theologisch begründet und dogmatisch fixiert. Der „Brief an Diognet“ aus dem zweiten Jahrhundert formuliert: „Denn die Christen sind weder durch Heimat noch durch Sprache und Sitten von den übrigen Menschen verschieden. (…) Um es kurz zu sagen, was im Leibe die Seele ist, das sind in der Welt die Christen.“ Christliche Traditionen und Strukturierungen des Alltags sind nicht nur in ländlichen Gebieten Deutschlands lebendig – sie sind bedeutend wichtiger als es die Massenmedien vermitteln. Bis in die Vereine hinein sind die kirchlichen Strukturen lebendig.

Das gilt aber auch für die Fülle von Institutionen, den Kindergärten, kirchlichen Krankenhäusern, Bekenntnisschulen, Beratungsstellen, die von den Bistümern, kirchlichen Verbänden oder Gemeinden unterhalten werden. Die Vermutung, in den rund 1500 Kindergärten, den fast 1000 Schulen und den vielen anderen Einrichtungen werde der katholische Glaube nicht mehr gelebt, ist eine Unterstellung, die der Wirklichkeit dieser Arbeit nicht gerecht wird, auch dann nicht, wenn man einräumt, dass die Zahl der Akteure darin mit enger religiöser Bindung und dem entsprechenden Wissen stark zurückgegangen ist. Wenn man dieses Problem angehen will, muss an religiöser Bildung und gemeindlicher Einbindung fördern, statt sich auf die wenigen zu beschränken, die den Vorstellungen vom Standard kirchlicher Inkulturation als Voraussetzung kirchlichen Dienstes noch entsprechen. Das Abstoßen von sozialen und kulturellen Einrichtungen kann nicht die angemessene Lösung sein.

Keine romantische Liebe zur kleinen Überzeugungsgemeinschaft

Kann das neue Leitbild die „Kirche im Volk“ statt die „Volkskirche“ sein? Die Freiburger Äußerungen von Benedikt XVI. scheinen, wenn man sie denn platt pastoral und staatskirchenrechtlich interpretieren wollte, in diese Richtung zu deuten. Viel deutlicher war er vor 40 Jahren: „Die Kirche der Zukunft“, so heißt es in seinem Buch „Glaube und Zukunft“ 1970, „wird klein werden, weithin ganz von vorn anfangen müssen. Sie wird viele Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der Anhänger viele ihrer Privilegien verlieren. Sie wird als Freiwilligengemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Mitglieder beanspruchen. Sie wird neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen. Die Seelsorge wird in vielen kleineren Gemeinden, in zusammengehörigen sozialen Gruppen erfüllt werden.“

Diese Voraussagen haben sich zum Teil erfüllt. Tatsächlich rückt man zusammen – aber statt kleinerer Gemeinden werden Großeinheiten gebildet, als deren Begründung allzu oft die Notwendigkeit durchscheint, die Gemeindeleitung durch einen Priester sicherzustellen. Aber auch kleine Gemeinschaften unterschiedlicher Art bilden sich bereits vielfältig. Das sind keine Merkmale, die auf ein Absterben des kirchlichen Lebens oder eine Marginalisierung schließen ließen.

Der Wunsch nach der einheitlichen Herde, dem „heiligen Rest“, hat verschiedene Varianten: Auf der einen Seite ist es die „Kontrastgesellschaft“, in der eine Alternative zur sündig empfundenen Welt gesucht wird und die Kirche als Mahnerin und Korrektiv auftreten soll. Die andere Variante ist die Bewegung weg von allen staatlichen Bindungen, vom Religionsunterricht an öffentlichen Schulen bis zu den theologischen Fakultäten als Bestandteil staatlich-öffentlicher Universitäten, um sich nicht mit, in der Politik immer notwendigen Kompromissen zu kompromittieren. Eine kleine Herde der Gläubigen schart sich allerdings keineswegs immer um die zuständige Kirchenleitung, sondern hat die Tendenz zu zerfasern und droht im Extremfall sektiererisch zu werden.

Bevor das Ende der Volkskirche ausgerufen wird und die romantische Liebe zur kleinen Überzeugungsgemeinschaft überhand nimmt, sollte man Vor- und Nachteile der Kirche im pluralen Staat genauer analysieren. Es geht bei dieser Frage weniger um das Staatskirchenrecht, sondern viel eher um das Selbstverständnis der Kirche als ein wichtiger zivilgesellschaftlicher Akteur mit kritischen wie kooperativen Aufgaben gleichermaßen. Bevor das Ende der Volkskirche konstatiert wird, sollte die Breite des kirchlichen Lebens, die Bedeutung ihrer Einrichtungen und die Auswirkung für die Grundfunktionen des christlichen Lebens abgewogen werden.

Wie können Lösungsansätze aussehen?

Die hier zur Rede stehenden Fragen nach dem Bild der Kirche der Zukunft sind nicht allein innerkirchlich von Bedeutung. Die Kirche hat sehr wichtige gesellschaftliche Funktionen, die sie nicht ohne Weiteres aufgeben kann. Wie könnte man den Rückzug aus karitativer Sorge, aus der Erziehung, aus der Bildung rechtfertigen? Sicher nicht mit dem Verweis auf die „Kernaufgabe“ der Kirche. Allzu oft haben sich kirchliche Akteure in die Denkmuster arbeitsteiliger Strukturvorstellungen stecken lassen, nach der dann die Aufgabe der Kirche auf ein Angebot von Liturgie und Spiritualität reduziert wird.

Kirche hatte und hat gesellschaftliche Funktionen, deren angemessene Ordnung in freiheitlichen Staaten in Absprachen und Verträgen geregelt wird, während sie in totalitären Systemen wie Nationalsozialismus und Kommunismus bekämpft wurde. Insofern sind Kirchenfragen nicht nur wegen der hohen Zahl der kirchengebundenen Staatsbürger auch ein Thema der Politik. Die Kirche unterhält eine Fülle von unverzichtbaren Einrichtungen im Sozial- und Kulturbereich. Man braucht nur hinzuweisen auf die Arbeit mit 660 000 Jugendlichen in katholischen Jugendverbänden, an über 5 Millionen in der kirchlichen Erwachsenenbildung, an fast 10 Millionen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, an fast eine halbe Million Menschen in Chören und Musikgruppen der Kirche, an Büchereien und Museen. Und auch in der weltweiten Hilfe übernehmen die Katholiken in Deutschland eine große Verantwortung mit ihren Hilfswerken. Wie viele hauptamtliche Stellen das sind, aber noch viel mehr, welches Maß an bürgerschaftlichem Engagement hinter solchen Zahlen steht, lässt bereits die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Themas erahnen.
Es steht dabei immer wieder das Austarieren der angemessenen Selbstbehauptung einer selbstbewussten Kirche auf der Agenda, die auf Augenhöhe mit Politik und gesellschaftlichen Kräften wie den sich immer mehr als vierte Macht gerierenden Medien spricht. Kirche ist und bleibt ein politischer Faktor – und muss auch künftig diese Rolle selbstbewusst annehmen.

Die neuen pastoralen Konzepte der Großpfarreien reagieren auf den verringerten allsonntäglichen Kirchenbesuch und stützen sich damit vor allem auf die rund 12 Prozent eng mit ihrer Kirche Verbundenen. Solche Selbstbeschränkung läuft Gefahr, die nur gelegentlich zur Kirche Gehenden und die nur am Rande des kirchlichen Lebens Stehenden zu vergessen, von den nur Kirchensteuer Zahlenden nicht zu reden. Das Ergebnis davon könnte sein, dass sich die zunächst unzutreffende, oder zumindest nicht ganz richtige Annahme einer kleinen Gemeinschaft sich selbst bestätigt. Die Soziologie spricht in solch einem Fall von einer „self fullfilling prophecy“. Die kleine Herde könnte Realität werden, weil man konsequent an sie glaubt und den Fehler macht, Rückgänge überzuinterpretieren und nicht die Breite des nach wie vor vorhandenen volkskirchlichen Lebens wahrzunehmen. Zu diesem Leben gehört eine Fülle von Glaubenszeugnissen auch solcher Menschen, die bei der Zählung an der Kirchtür an den beiden Zählsonntagen nicht dabei sind.

Es sprechen noch andere Gefährdungen gegen die Träume von der kleinen Zahl der Überzeugten. Blickt man einmal auf die in Deutschland gelegentlich als Vorbild herangezogenen Verhältnisse in Frankreich mit seinen blühenden „Geistlichen Gemeinschaften“, dann stellt sich die Frage nach der Zahl. In der Menge der Gläubigen bilden sie trotz eindrucksvoller Entwicklungen letztlich eine marginale Größe. Diese Gruppierungen sind weit eher mit den zu allen Zeiten sich entwickelnden Orden und geistlichen Bewegungen zu vergleichen, neben denen immer die Aufgaben der bischöflich geleiteten Seelsorge für die Breite der Bevölkerung standen. In Deutschland sind die geschichtlichen und die gegenwärtigen Verhältnisse des kirchlichen Lebens von denen Frankreichs und anderer Länder sehr verschieden.

Kleine Gemeinschaften haben zudem häufig eine inhärente Tendenz zu Personalisierungen und Abschottungen. Die Aufgabe der innerkirchlichen Communio der Gemeinden mit dem Bischof und der Weltkirche wird mit einer Fülle sehr individueller Gruppierungen weit aufwendiger als dies mit der klassischen Pfarrgemeinde oder dem katholischen Verband der Fall ist.

Wie können Lösungsansätze aussehen? Dass es zur zentralen Frage des Priestermangels bei den Zugangsvoraussetzungen zum Amt einmal zu Änderungen kommen wird, steht mit Blick auf historische Langfristprozesse außer Frage, ist aber für die Lösung augenblicklicher Probleme keine aktuelle Option. Der Dialogprozess der deutschen Bischöfe, der jetzt begonnen wurde, wird kaum über Gutgemeintes und die eine oder andere neue Idee hinausgehen können, weil er weder eine repräsentative Struktur noch eine kirchenrechtliche Verbindlichkeit hat. Synoden nach Kirchenrecht haben in den meisten Bistümern mit dem Konzil aufgehört. Sie sind nicht durch neue verbindliche Organe unter Beteiligung der Laien ersetzt worden.

Die Erhaltung unserer Kirche wird aber nur mit einer stärkeren Selbstorganisation der Laien gelingen können. Dies hat zur Bedingung, dass sie in ihren Aufgabenfeldern eine wirkliche Letztverantwortung haben und in ihrem Engagement in Parallele zu öffentlichen Ämtern wirken können. Ein nur beratend konstruiertes Gremium wie die Pfarrgemeinderäte ohne Finanz- und Personalkompetenzen ist keine Lösung. Eher wäre für die Selbststeuerung der Gemeinden eine Ausweitung der Kirchenvorstände vorstellbar, die zumindest über klare Rechte verfügen. Die finanzielle Selbstbestimmung ist in vielen Gemeinden der Schweiz oder auch der Niederlande das Fundament von Selbständigkeit. Die Finanzen und die Eigentumsfragen könnten ein Lackmustest für die Selbstbehauptung der Laien in der Kirche werden.

Der Rückzug auf die kleine Herde kann jedenfalls keine Option für die Zukunft sein. Die mutige Evangelisierung der Welt und die Glaubensstärkung des Kirchenvolks, das sind die Aufgaben der Gegenwart. Dann wird eine trotz aller Rückgänge und Glaubensverluste, trotz gesellschaftlicher Säkularisierung, trotz Skandalen und Unzulänglichkeiten nach wie vor wichtige „Volkskirche“ den Kampf gegen einen immer aggressiver auftretenden, fundamentalistischen Atheismus bestehen können.

Thomas Sternberg (geb. 1952), Dr. phil., Dr. theol., ist seit 1988 Direktor des Franz-Hitze-Hauses in Münster, der katholischen Akademie des Bistums, und seit 2005 Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Er ist schulpolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion und kulturpolitischer Sprecher des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

Aus: Herder Korrespondenz, November 2011

© imprimatur Mai 2012
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