Ansgar Ahlbrecht
Das Zweite Vatikanische Konzil
Erinnerungen eines Zeitzeugen

Es gibt wohl schon genügend kirchengeschichtliche oder theologische Gesamtwürdigungen des Jahrhundertereignisses Zweites Vatikanisches Konzil. Dem möchte ich hier keine weitere Würdigung theoretischer Art hinzufügen. Ich möchte vielmehr einfach nur erzählen, wie ich das Zweite Vatikanische Konzil als Zeitzeuge erlebt habe. Und dieses Erzählen wird sehr subjektiv gefärbt sein, weil ich kein bloß objektiver „Beobachter“ des Konzils, sondern aktiv dabei mitarbeitendes Subjekt war. Um diese meine Subjektrolle ins Bild zu bringen, muss ich Ihnen einige autobiographische Informationen zumuten.

Ich hatte 1957 mein Theologiestudium in Innsbruck abgeschlossen. Konzilien waren während meiner ganzen Studienzeit ein bloßes Thema der Kirchengeschichte der Vergangenheit gewesen. Als dann der neu gewählte Papst Johannes XXIII. am 6. Januar 1959 ein neues „Ökumenisches Konzil“ ankündigte, haben wir das als einen Epochenwechsel empfunden: Zunächst schon der Wechsel im Stil von dem aristokratischen, fern-thronenden Pius XII. zu diesem großväterlich wirkenden Bauernsohn Angelo Roncalli, der den Menschen im Erzählen von Anekdoten nahekam, der sich selbst weniger als „Heiliger Vater“ verstand, sondern mehr als Bruder seiner Mitchristen. Als Epochenwechsel empfunden haben wir die Konzilsankündigung aber vor allem, weil das die Rückkehr zu einer Praxis gemeinsamen Ringens um die Gestaltung des kirchlichen Lebens war, die schon völlig vergessen, die überflüssig geworden schien, seit die Entwicklung der päpstlichen Monarchie mit dem I. Vaticanum durch die Dogmatisierung des Universalprimates und der so genannten „Unfehlbarkeit“ des Papstes ihren Höhepunkt erreicht hatte. Entsprechend aufsehenerregend wirkte nun die Ankündigung eines neuen Konzils, zumal sie von einem solchen aus dem Rahmen der letzten Pontifikate fallenden Papst kam.

Ich war damals Konventuale der Benediktiner-Abtei Niederaltaich in Niederbayern. Unsere Abtei war eines der wenigen katholischen Zentren, das sich seit mehr als zwei Jahrzehnten der ökumenischen Verständigung verschrieben hatte. 1953 hatte ein Mönch von Niederaltaich die Stelle des verantwortlichen Redakteurs der Quartalschrift UNA SANCTA übernommen. Die Zeitschrift war sozusagen das „Zentralorgan“ von an die zweihundert so genannten Una-Sancta-Kreisen, in denen katholische und evangelische Christen sich zusammengeschlossen hatten. Und sie war die erste katholische Zeitschrift, in der auch evangelische und orthodoxe Autoren Beiträge veröffentlichen konnten, und dies schon zu einer Zeit, in der katholischen Christen das Lesen theologischer Schriften nichtkatholischer Autoren nur mit besonderer Dispens ihres Bischofs erlaubt war! Aus aller Welt reisten seit Jahren evangelische, anglikanische und orthodoxe Theologen bei uns an und suchten das Gespräch mit uns. Alljährlich fanden bei uns „Tage geistlicher Einkehr“ statt, in denen nicht nur über Fragen der Lehre gesprochen wurde, sondern in denen zur Teilnahme an den Gottesdiensten der beteiligten Konfessionen eingeladen wurde, was damals noch äußerst ungewöhnlich war und überdies von kirchlichen Obrigkeiten beargwöhnt wurde. So war die Abtei zu einem Sammelplatz und zum Sprachrohr vieler ökumenisch engagierter Christen geworden.

Und so wurden wir am Abend nach der Konzilsankündigung aus allen Teilen Deutschlands telefonisch mit Fragen bestürmt: Ob wir Genaueres über diesen Plan wüssten? Nein! Ob wir an diesem Plan mitgewirkt hätten? Ebenfalls nein! Und man gratulierte uns, dass unsere Bemühungen endlich Erfolg gehabt hätten. Dabei hatten die Anrufer aber - wie viele Kommentatoren in den Medien - den Titel „Ökumenisches Konzil“ missverstanden, der doch nichts anderes besagte, als dass es sich nicht um ein Provinzial- oder Nationalkonzil handeln sollte, sondern um ein Konzil für die katholische Gesamtkirche, aber dennoch nur um eine innerkatholische Veranstaltung.

Wenn auch dieses Missverständnis schnell aufgeklärt war, stellte sich dennoch bald heraus, dass die Konzilsplanung diesem Ereignis eine ökumenische Dimension im heutigen Sinn verleihen würde, ja dass das Echo aus den nichtkatholischen Kirchen ihm eine solche Dimension bereits verliehen hatte, ehe es auch nur begonnen hatte. Und diese Erwartung wurde noch verstärkt, als der Papst ankündigte, dass die anderen christlichen Kirchen durch „delegierte Beobachter“ im Konzil mitarbeiten könnten. Auch seine Rede von einem fälligen aggiornamento, einem „Heutigmachen“ der Kirche, stärkte die Hoffnung, dass die römische Kirche sich in Zukunft nicht mehr wie in einer belagerten Festung gegen andere Kirchen und die böse Welt verbarrikadieren, sondern sich öffnen werde. Und immer wieder sprach Papst Johannes von seiner Hoffnung, dass das Konzil zu einem „neuen Pfingsten“ werden könne; und damit beschwor er das Bild von der Herabkunft des Geistes Gottes gleich einem Sturm und mit Zungen wie von Feuer, so dass die Versammelten in anderen Sprachen zu reden beginnen, so dass alle, die hinzukommen, sie in ihren Muttersprachen reden hören und verstehen. Ein Bild, das das Konzil als die konfessionellen Grenzen sprengendes Ereignis erhoffen lässt.

Auch für uns brachte die Konzilsankündigung einiges in Bewegung: Es reisten noch mehr als sonst Persönlichkeiten aus aller Welt bei uns an, die schon bald bei der Vorbereitung und der Durchführung des Konzils wichtige Rollen spielen sollten, und die ich dann in Rom wieder treffen würde: 1960 kam Prälat Jan Willebrands, der Vorsitzende der „Internationalen Konferenz katholischer Ökumeniker“, der bald darauf Geschäftsführer des neugebildeten römischen „Sekretariats für die Einheit der Christen“ werden sollte. Ihn interessierte, welche Wünsche und Anregungen im Blick auf das Konzil wir beisteuern könnten. So hatte das Konzil für uns eigentlich schon im Jahr 1960 begonnen.

Im selben Jahr konnten wir auch zwei weitere Persönlichkeiten bei uns begrüßen, die im Konzil eine Schlüsselrolle spielen sollten: Ich hatte als neu ernannter Leiter unseres Tagungshauses zu einem Treffen katholischer, evangelischer und jüdischer Theologen auch den aus einer Wiener jüdischen Familie stammenden und nun in den USA lehrenden Prälaten Johannes Oesterreicher eingeladen. Oesterreicher hat dann bald darauf für das Konzil die „Erklärung über die Juden“ entworfen, die schließlich den Grundstock der „Erklärung über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen“ bildete.

Im selben Jahr 1960 hatten wir beim Eucharistischen Weltkongress in München zwei Veranstaltungen organisiert, die wie ein öffentliches „Vorspiel“ zum Konzil empfunden wurden: Wir hatten erreichen können, dass der Blick der Kongressbesucher über die lateinisch-katholische Welt hinaus geweitet wurde. Bei einer Veranstaltung in der Universität München konnten wir vor Bischöfen aus aller Welt und vor ca. 10.000 Zuhörern, die das Auditorium Maximum, die Aula und die Treppen des Lichthofs füllten, die eucharistische Praxis und Frömmigkeit der Kirchen der Reformation zu Wort bringen. Im Urteil der Medien hatte neben den Missionsveranstaltungen diese Una-Sancta-Kundgebung größeres öffentliches Interesse gefunden als alle anderen Veranstaltungen des Kongresses. „Es war wie eine Wasserflut, wie eine Fontäne, die plötzlich aus dem Boden springt!“, urteilte der Schweizer Jesuit Mario von Galli, damals der wohl bekannteste katholische Publizist in den deutschsprachigen Ländern.

Wir hatten auch erreicht, dass das Oberhaupt der mit Rom unierten Kirche der Melkiten, Maximos IV., Patriarch von Antiochien, Alexandrien und Jerusalem, nach dem Papst der höchste katholische Würdenträger, zum Kongress eingeladen wurde. Nachdem er wenige Tage vor dem Kongress schon mit einigen seiner Bischöfe und anderen Mitarbeitern zu Gesprächen in unsere Abtei gekommen war und dort mit uns in griechischer, arabischer und deutscher Sprache die eucharistische Liturgie gefeiert hatte, konnten auch die Kongressgäste in München durch eine solche Liturgiefeier erleben, dass es für die katholische Einheit keiner einheitlichen lateinischen Liturgie bedarf: Ein eindrucksvolles Erlebnis, das schon wie eine Vorbereitung auf die demnächst vom Konzil ermöglichte Öffnung zur Liturgiefeier in den Muttersprachen empfunden wurde. Und Patriarch Maximos (übrigens der erste Konzilsvater, der sich weigerte, seine Reden in der Aula in lateinischer Sprache zu halten, sondern dabei unbehelligt Französisch sprach) wurde dann auf dem Konzil nicht nur zum führenden Sprecher der unierten katholischen Ostkirchen, sondern auch zum inoffiziellen Interessenvertreter der nicht zum Konzil eingeladenen orthodoxen Bischöfe und Patriarchen. Ja, sein Eintreten für die Respektierung der synodalen Struktur und des nicht völlig vom römischen Zentralismus beherrschten Eigenlebens der Ostkirchen ließ den Gedanken aufkommen, ob dies nicht auch ein Modell für eine neue Organisation der „lateinischen“ Kirche werden könnte. So würde den Kirchen in kulturell unterschiedlich geprägten Großräumen oder Kontinenten die Möglichkeit eröffnet, ihr Leben in einer relativen Autonomie selbst zu gestalten. Das würde dem „Subsidiaritätsprinzip“ entsprechen, das zwar schon von Papst Pius XII. zumindest für den Bereich der „weltlichen“ Gesellschaft betont worden war, das aber für den kirchlichen Bereich kaum Geltung erlangt hatte.

1961 besuchte uns auch Kardinal Bea, der Präsident des neu errichteten römischen Sekretariats für die Einheit der Christen. In einer Ansprache an unseren Konvent erwähnte er, dass er soeben den Primas der Anglikanischen Gemeinschaft, Erzbischof Fisher von Canterbury, getroffen habe, den er den „Nachfolger des großen heiligen Anselm“, nannte, was mich sehr überraschte. Denn 1955 hatte ich mich für meine erste theologische Publikation kritisch mit der Frage befasst, ob die anglikanischen Bischofs- und Priesterweihen wirklich, wie von einem römischen Dekret behauptet, ungültig seien. Nach dem Urteil dieses Dekrets standen also die anglikanischen Bischöfe nicht in der apostolischen Sukzession. Wenn Kardinal Bea nun den anglikanischen Erzbischof von Canterbury den legitimen Nachfolger des großen heiligen Anselm nannte, bedeutete dies vielleicht, dass Rom sein Urteil ändern könnte? Als wir nachher im kleinsten Kreis mit Kardinal Bea zu einem Acht-Augen-Gespräch zusammen saßen, habe ich es leider versäumt, ihm diese Frage zu stellen, weil es da um andere Themen, vor allem unsere konkrete Rolle in der ökumenischen Arbeit ging. Übrigens ist meine Hoffnung auf eine Änderung der römischen Wertung der anglikanischen Ämter später enttäuscht worden.

Mittlerweile hatte die Vorbereitung des Konzils begonnen. Dabei spielte immer noch die römische Kurie mit ihrem aus der Zeit Pius‘ XII. stammenden Personal die Hauptrolle. Das ließ Schlimmes für die vorbereiteten Texte befürchten. Und bald sickerte durch, dass die Texte tatsächlich weithin von der herrschenden römischen Schultheologie geprägt seien. Dies wirkte vor allem im französisch- und deutschsprachigen Raum alarmierend. Und hier formierte sich mehr und mehr Widerstand gegen diese Tendenzen. Kontakte wurden geschlossen, und so kündigte sich schon die Bildung einer konziliaren Opposition gegen die römische Kurie an, die dann schon bald zu einer reformorientierten konziliaren Majorität werden sollte.

In dieser Zeit vor dem Konzil war übrigens Kardinal Frings, der Erzbischof von Köln, einmal eingeladen, in Genua eine Rede zu halten. Er nutzte diese Gelegenheit zu einem Angriff auf die in den letzten Jahren als immer unerträglicher empfundene Politik des „Sacrum Officium“, der Behörde, die früher einmal den Namen „Inquisition“ gehabt hatte und später in „Kongregation für die Glaubenslehre“ umbenannt wurde. Den Text dieser Rede hatte Kardinal Frings sich von einem damals in Bonn lehrenden jungen Professor schreiben lassen. Nach seiner Rückkehr lobte Frings den Verfasser: „Herr Professor Ratzinger, die Rede, die Sie mir für Jenua jeschrieben haben, die hat dem Heilijen Vater sehr jefallen.“ Der Beifall des alten Papstes war sehr verständlich, denn er war ja als junger Mitarbeiter seines als „progressiv“ geltenden Heimatbischofs Graf Radini Tedeschi selbst einmal bei den römischen Behörden als des „Modernismus“ verdächtig denunziert worden. Und der junge Verfasser der Rede gegen die Methoden der römischen Inquisition wurde pikanterweise später selbst Chef dieser Behörde!

Noch ehe die Bischöfe als künftige Konzilsteilnehmer und ihre theologischen Fachberater mit der Arbeit an den vorbereiteten Texten befasst waren, war längst auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens eine Atmosphäre gespannter Erwartung entstanden: Das Konzil wurde Thema in der kirchlichen und weltlichen Presse, in Katholischen und Evangelischen Akademien und Bildungswerken sowie in zahllosen Ortsgemeinden.

Ich selbst habe in den Jahren der Vorbereitung und Durchführung des Konzils sowie im Jahr danach, nämlich von 1961 bis 1966, in fast allen Gegenden Deutschlands und auch in den Niederlanden und in Österreich ca. neunzigmal, also mehr als jeden Monat einmal, zu Konzilsthemen geredet und dabei ca. 15.000 Menschen ansprechen können, nicht mitgezählt viele Sendungen in Hörfunk und Fernsehen. Den ersten dieser Vorträge habe ich von der Bühne des dicht besetzten Stadttheaters in Straubing gehalten. Zu manchen Veranstaltungen kamen ca. 1.000 Zuhörer, und da reichten oft nur die größten Säle und Hallen, wie das Auditorium Maximum der TH Braunschweig oder die Nibelungenhalle in Passau. Und dabei war ich nicht der einzige „Wanderprediger“ in Sachen Konzil! Ich erwähne das nur, um einen Eindruck zu vermitteln von der erwartungsvollen Stimmung in katholischen und evangelischen Kreisen, aber auch in vielen nichtkirchlichen Milieus (z.B. in einer Sozialistischen [!] Bildungsgemeinschaft, von der ich einmal eingeladen wurde). In Frankreich redete man damals von der „église en état de concile“, der Kirche im Zustand des Konzils: Versammlungen und Beratungen allenthalben, und vor allem ein neuer Geist gemeinsamer Suche nach dem, was eint, der Suche nach neuen Wegen!

Dies zeigte auch, dass gerade jetzt der kairós, der rechte Zeitpunkt für ein Konzil gekommen war: Seit Jahren war das Bewusstsein gewachsen, dass die Kirche Reformen brauchte. Und dieses Bewusstsein war noch verstärkt worden dadurch, dass die letzten Jahre Pius‘ XII. die Zeit einer besonders krassen kirchlichen Stagnation waren, Jahre der Abwehr gegen neue Einsichten der besten zeitgenössischen Theologen, die mit Publikationsverboten und Verbannungen verfolgt wurden. 1950 hatte Pius XII. seine Enzyklika „Humanae generis“ veröffentlicht, einen späten Angriff auf alles, was als „Modernismus“ verdächtigt wurde.

Zugleich hatten nicht nur die verfolgten Theologen, sondern auch die Mitglieder des Kirchenvolks trotz alledem ihrer Kirche mit bemerkenswerter Geduld die Treue gehalten. Austrittswellen gab es damals noch nicht, wohl aber ein großes Aufatmen, als Papst Roncalli nun ganz neue Töne anschlug. Die Konstellation dieser doppelten Stimmung, nämlich des Bewusstseins der dringenden Notwendigkeit von Reformen einerseits und des Vertrauens in die neue Reformfähigkeit der Kirche andererseits kennzeichnet diese Zeit als einmaligen kairós für ein Reformkonzil.

So viel zu den Jahren der Vorbereitungszeit.

Nach mehr als drei Jahren Vorbereitungsarbeit wurde im Oktober 1962 das Konzil eröffnet. Schon die ersten Tage gaben Anlass zu guter Hoffnung. Zunächst die Rede des Papstes, „Gaudet Mater Ecclesia“, mit ihrem Leitmotiv eines „aggiornamento“, eines „Heutigmachens“ des Lebens und der Botschaft der Kirche. Der bemerkenswerteste Akzent in dieser Rede war das entschiedene Abrücken von den „Unglückspropheten“, „die immer nur Unheil vorhersagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstünde“. Die Aufgabe des Konzils sieht Papst Johannes nicht in der Verurteilung von Irrtümern. Viele Konservative hatten sich vom Konzil z.B. eine erneute Verurteilung des Kommunismus erhofft. Papst Johannes denkt nicht an solche neuen Verurteilungen, sondern nennt als Hauptaufgabe des Konzils einen „Sprung vorwärts“, eine Vertiefung des Glaubensverständnisses und die Übersetzung der Glaubensinhalte in die Ausdrucksformen des modernen Denkens. Und er spricht von einem Lehramt von vorrangig pastoralem Charakter.

Das war eine epochale Kurskorrektur nach Jahrhunderten einer auf Defensive gestimmten Kirchenpolitik. Zunächst hatte Rom sich gegen die protestantische Reformation gewandt, dann gegen alle modernen Denkströmungen nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Philosophie sowie gegen neue politisch-soziale Bewegungen: gegen Liberalismus, Demokratie, Sozialismus, gegen Ansprüche auf Religionsfreiheit und vieles mehr. Die in der Ansprache des Papstes zum Ausdruck kommende Abkehr von einem undifferenzierten Misstrauen gegenüber allen geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre war wohl auch einer der Impulse, die dazu führten, dass das Konzil in seiner Pastoralkonstitution über die Kirche in der modernen Welt („Gaudium et spes“) erklären konnte, dass „die Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, vor allem der Armen und Bedrängten aller Art, auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi sind“: Ein ganz neuer Ton der Solidarisierung mit den Menschen in der Welt von heute und des Vertrauens, das Gottes Geist weht, wo er will, nicht nur in der verfassten Kirche!

Die zweite Überraschung kam am ersten eigentlichen Arbeitstag des Konzils. Das von der Kurie gestellte Generalsekretariat hatte für diesen Tag eine Schnellwahl der Mitglieder der Konzilskommissionen geplant, deren Ergebnisse die Kurie dadurch zu manipulieren suchte, dass sie den Konzilsvätern Vorschlagslisten austeilen ließ, die vorwiegend die Namen der von der Kurie berufenen Mitglieder der Vorbereitenden Kommissionen enthielten. Damit wäre sichergestellt gewesen, dass die der Kurie genehmen vorbereiteten Texte unverändert dem Konzil vorgelegt werden könnten.

Und nun die große Überraschung: Der greise Kardinal Liénart, Erzbischof von Lyon, Mitglied des Präsidialrates, erhebt Einspruch gegen dieses Verfahren und erhält Unterstützung von Kardinal Frings aus Köln. Beide zusammen setzen eine Vertagung der Wahl durch. Dadurch erhalten die nationalen Bischofskonferenzen die Möglichkeit, während einiger Tage eigene Vorschlagslisten zu erarbeiten. Die Wahl in der folgenden Woche sorgt für völlig neue Konstellationen in den Kommissionen.

Damit haben die Bischöfe selbst die Regie des Konzils übernommen. Die Bischofskonferenzen gewinnen neues Profil als Gegengewicht zur Zentralmacht der Kurie. Der harte Kern der Kurie wird von da an zur Minderheit. Und zugleich wird damit schon ein inhaltlich neuer Akzent der Konzilsaussagen angebahnt: Die Bemühung um eine neue Rolle der Bischöfe in der kollegialen Leitung der Gesamtkirche und damit um eine Stärkung der Rolle der „Ortskirchen“ und ihres Selbstbewusstseins gegenüber der Zentrale. Allerdings eine Bemühung, die zwar Niederschlag in den Konzilstexten gefunden hat, nach Konzilsende aber von Rom durch systematische Missachtung unwirksam gemacht wurde.

Die erste Folge der „Selbstorganisation“ der Bischöfe war, dass sie den Mut fassten, viele der von Rom vorbereiteten Texte abzulehnen bzw. sie zu gründlicher Neubearbeitung an die neuen Kommissionen zurückzuverweisen. Als ersten Text für die Debatte nehmen sie sich den „Über die heilige Liturgie“ vor, einen scheinbar unverfänglichen Text, der aber andererseits schon das Thema „Erneuerung“ („aggiornamento“!) auf eine bis in die letzte Ortsgemeinde hinein nachvollziehbare Weise zum Klingen bringt.

So viel zum Start der ersten Sitzungsperiode 1962.

(Fortsetzung folgt.)


© imprimatur März 2012
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