Hermann Häring
Mehr als nur Reparaturen?
Mannheim in Rück- und Vorschau

Es ist nicht zu leugnen: In Deutschland geriet das Jahr 2010 für die römisch-katholische Kirche – ich nenne sie im Folgenden „wir“ oder „unsere Kirche“ - zu einem unerhörten Ansehensverlust, zur Image-Katastrophe nach innen wie nach außen. Über 180.000 Mitglieder traten aus; das waren fast 50% mehr als im vorhergehenden Jahr. Einen Vorteil hat dies eingebracht: Wer über den Verfall unserer Kirche spricht, wird nicht mehr als Nestbeschmutzer abserviert, sondern von den Bischöfen vielfach bestätigt. Doch umso entschiedener sollte im Sommer 2011 eine groß angelegte Wende beginnen, die uns wieder aus den Schlagzeilen bringt. Ein breites Szenario von bischöflichen Interviews, Gesprächsoffensiven und eine strahlende Papstpräsenz sollen es möglich machen. Wie entfaltet sich dieser Schirm von Initiativen und warum bleibt es – vorläufig - dennoch so still? Im Folgenden widme ich mich dem Mannheimer Treffen und der Hypothek, die sich die Bischöfe damit aufgeladen haben.

Ein zögerlicher Beginn

Manche haben es schon wieder vergessen: Am 8./9. Juli trafen sich 300 Delegierte (vornehmlich aus Diözesen und Verbänden) im Mannheimer Congress Center Rosengarten zu einem Gespräch über die Erneuerung unserer Kirche. Geladen hatte die Deutsche Bischofskonferenz, ein gutes Drittel von ihnen, vornehmlich die konservativeren Herren, glänzten allerdings durch Abwesenheit. Gedacht war das Treffen als Startschuss für ein tiefgreifendes fünfjähriges Erneuerungsgeschehen, das alle einbinden soll. Schon im September 2010 sprach R. Zollitsch als Vorsitzender der Bischofskonferenz von einem Gesprächsprozess, den die Bischöfe anstoßen sollten[1]. Allerdings nannte er sofort als Bedingung, „dass wir [Bischöfe] eine kommunikative Initiative solcher Art ergreifen wollen, … dass wir auch diejenigen sind, die Verantwortung übernehmen für Form und Gestalt und Konsequenzen dieses Prozesses“. Dabei solle es „um mehr als bloß Reparaturen“, nämlich „um die Verlebendigung des kirchlichen Lebens“ gehen. Dem Vernehmen nach hat die Bischofskonferenz auf ihrer Herbsttagung 2010 über das Referat von Zollitsch kontrovers diskutiert. Zu einer gemeinsamen Aktion sahen sie sich nur mühsam bereit. Im März 2011 kündigte Zollitsch endlich eine fünfjährige Gesprächsoffensive für Gesamtdeutschland an und konnte sich zugleich noch als Vorläufer für neuartige Dialogaktivitäten in den einzelnen Diözesen verstehen[2]. Doch so neu war die Sache schon nicht mehr. G. Fürst von Rottenburg-Stuttgart hatte schon am 6. Januar 2011 den Gedanken eines „dialogisch angelegten Erneuerungsprozesses“ aufgegriffen[3]. Die Diözesen Köln, vor allem Osnabrück und München-Freising stießen nach[4] , allerdings geschah alles recht zögerlich.

Inzwischen hat der gesamtkirchliche Gesprächsprozess in Mannheim die zögerlichen und wenig koordinierten Initiativen der einzelnen Bistümer überrundet. Am 17. März legte Zollitsch den Fünfjahresplan eines Prozesses vor, der die innerkirchliche Kommunikation wieder in Gang bringen soll[5]. Welche Schwachpunkte in Angriff zu nehmen und welche Missstände genau auszuräumen sind, was genau man von den KatholikInnen Deutschlands erwartet und was die Bischöfe zu lernen bereit sind, darüber herrscht kaum Klarheit. Wichtig werden wohl zwei Projekte von Bischofskonferenz und Zentralkomitee sein[6]. Auch die Katholikentage von 2012 und 2014 könnten eine Rolle spielen. Die mehr symbolische Hinzufügung von Papstbesuch, Eucharistischem Weltkongress und anderen Feierlichkeiten (etwa der Heilig-Rock-Wallfahrt von Trier) nährt die Vermutung, dass man von Erneuerungszielen und -strategien eine höchst amorphe Vorstellung hat. Konkretisierungen wären aber notwendig, wenn man nicht die alten Klischees der bösen Welt, die Verschärfung bestehender Regeln, die Intensivierung des Althergebrachten und den hilflosen Ruf nach mehr Priestern überschreiten will. Noch überwiegen inhaltsleere formale Parolen wie geistlicher Prozess, Besinnung, Erneuerung, Gespräch, innere Stärkung oder lebendiges Zeugnis. Daran kranken auch die genannten, in keiner Weise strukturierten Jahresthemen, unter denen man sich alles, also nichts Bindendes vorstellen kann: „Im Heute glauben: Wo stehen wir?“ (2011), „Unsere Verantwortung in der freien Gesellschaft“ (2012), „Die Verehrung Gottes heute“ (2013), „Den Glauben bezeugen in der Welt von heute“ (2014), Abschluss und Feier des Konzilsjubiläums (2015).

Unter diesen Bedingungen kamen also 300 Delegierte zusammen. Nach außen gesehen war es ein gespenstisches Verfahren: Freundlich verschwanden die GlaubensgenossInnen im massiven Kongressgebäude. Sie blieben abgeschirmt und abgeriegelt. In Stuhlkreisen sitzend entfalteten sie (nach der Methode des World-Café) ihre Murmel- und Kommunikationsaktionen, präsentierten in gebotener Kurzform ihre visionären Mottos und verließen mit großer Genugtuung das Arbeitsfeld. Die meisten reagierten über die gegenseitige Offenheit und das gute Einvernehmen euphorisch. Man konnte ungeniert reden; niemand verweigerte sich oder brach einen Streit vom Zaun. Offensichtlich wunderte sich jede Partei über die Friedfertigkeit der jeweils anderen, gleich ob dies nun die Bischöfe, reformgesinnte 68er, die Linken oder andere Angstgegner waren. Nur eine oder zwei Gruppen hatte man allgemein vermisst. Das waren die „Fundamentalisten“ und – wie schon gesagt – gut ein Drittel der Bischöfe, darunter vor allem solche, die als streng konservativ gelten. Für ein zukünftiges Einvernehmen wäre es genau auf sie angekommen. Der aktuellen Atmosphäre hat es aber gut getan, denn in dieser Konstellation wurde die Teilnahme von Bischöfen zum Bekenntnis für Erneuerung, und man konnte sich vom Erfolg des Treffens bestätigt fühlen. Dass in dieser Kürze nur eine Tuchfühlung und kein wirklicher Austausch stattfinden konnte, hat man geflissentlich übersehen.

So reagierte R. Zollitsch in einem ersten Rückblick geradezu euphorisch. Als einziger goss der Vorsitzende des ZK, Alois Glück, etwas Wasser in den Wein der Freude. Er warnte vor einer „Kultur der Folgenlosigkeit“. Zollitsch versuchte diesen Eindruck zu verwischen, indem er ein Treffen zwischen ihm, den Mitgliedern der bischöflichen „Steuerungsgruppe“ und dem Papst in Castel Gandolfo ankündigte[7]. Dies war eher ein Signal der Ernüchterung. Im schmallippigen Communiqué zum Treffen am 13. August war nur zu hören, der Papst habe sich „sehr interessiert an diesem Prozess gezeigt, der wichtige Impulse für den Weg der Kirche in die Zukunft geben soll“[8].

Doch die inner- und außerkirchliche Öffentlichkeit reagierte auf Mannheim kaum. Der Grund dafür liegt in der wohltemperierten Inhaltsleere des Geschehens. Den offiziellen Vorbereitungspapieren war eben nichts Konkretes zu entnehmen und dem Treffen fehlt eine jede bindende Kraft. Die bekannt gewordenen Inhalte kann man kaum interessant nennen, denn sie waren allesamt vorhersehbar. Reformgruppen können sich zwar darüber freuen, dass die klassischen Reformforderungen in unserer Kirche angekommen sind, aber sie konnten hier nur auf dem didaktischen Spiel-Niveau der Café-Haus-Methode („jetzt lernen wir, wie man miteinander redet“) zum Ausdruck kommen. So führt man keine zielführenden Debatten, den Schlussthesen fehlt eine jede Dringlichkeit und Leidenschaft. Langweiliger hätte es in einem Parlament wohl nicht zugehen können[9]. Euphemistisch wurde von einer „Pastoral der Barmherzigkeit“ und nur verhüllend gegen den Ausschluss der Frau oder den Zölibat geredet[10]: Wirklich ins Mark unserer real existierenden Kirche gehende Fragen wurden nicht gestellt und die Bischöfe hat man nicht nach ihrer Verantwortung gefragt. Ihr Autoritarismus und die Gesprächsverweigerung Roms waren kein Thema. Vor allem gewannen die Fragen in Schärfe und Dringlichkeit keinerlei Tiefenstruktur. Keine Bedingungen, keine Frustration, kein Ärger über Vergangenes wurde thematisiert. Dies war unverständlich für erwartungsvolle Reformgesinnte, die die Techniken der Vertröstungen und langen Bänke seit 40 Jahren kennen: Nicht eine/r der Anwesenden fragte: Wie soll es nun weitergehen und warum können wir nichts beschließen?

Warum hat man hier Leute aufgeboten, um sie nach 24 Stunden allein mit der Versicherung wieder nach Hause zu schicken, die Gesprächsergebnisse würden ins Internet gestellt? Fragen- und diskussionslos gab man so den Bischöfen freie Hand. Damit wurde die Chance dieses Jahrzehnts vertan[11]. Offensichtlich war es ganz im Sinne der Bischöfe, dass hier nichts das herkömmliche Bild von Kirche und kirchlicher Erneuerung störte. Dennoch zeigen sich auch unter ihnen erste Risse, deren Folgen noch nicht abzusehen sind.

Das vorgegebene Spannungsfeld

Der WJT in Madrid brachte noch einmal eine andere Kirchenvision zutage[12] ; er endete am 21.8. mit einem Mammut-Gottesdienst von 1,5 Millionen Teilnehmern. Masse bedeutet für Rom schon immer Erfolg. Auffällig war aber eine Folgerung, die vom polnischen Kardinal Dziwisz gezogen und in einem vatikanischen Organ veröffentlicht wurde[13] : faktisch bedeute dieses Superevent den Beginn der Neuevangelisierung Europas. Sie liegt dem Papst am Herzen und im September 2010 hat er dafür den „Päpstlichen Rat zur Förderung der Neuevangelisierung“ ins Leben gerufen[14]. Die Sache wird wohl vorangetrieben; im Jahr 2012 findet zu dieser Thematik eine Bischofssynode statt.

Diese Koppelung von Programm und Massenevent ist nicht zufällig. Sie zeigt eine von Rom lancierte Dynamik, die sich früher oder später mit dem deutschen Gesprächsprozess überkreuzt und zu Konflikten führen muss. Dies zeigt ein Vergleich mit dem oben genannten Impulsreferat von Bischof Zollitsch. Das Impulsreferat spricht zwar von den „Herausforderungen einer missionarischen Pastoral“, fühlt sich aber „in fremder Welt zu Hause“[15]. Rom kennt diesen Zwiespalt nicht, sondern spricht im Anschluss an Johannes Paul II. offensiv von einer Neuevangelisierung. Rom fordert die Kühnheit und den Mut, „Formen und Instrumente zu suchen, um Reden von Gott erarbeiten zu können, welche in der Lage sind, die Erwartungen und die Befürchtungen der Menschen von heute aufzufangen“. Schon Paul VI. habe gesagt: „Der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind.“ Zollitsch verbindet mit diesem Ziel einen selbstkritischen Blick auf die Kirche. Zumindest fordert er in aller Sensibilität eine „pilgernde, hörende und dienende Kirche“ ein[16]. Rom scheint sich eher auf den alten Triumphalismus zu verlassen, der seit dem vorhergehenden Pontifikat fröhliche Urständ feiert.

Ähnlich wie Rom sieht Zollitsch die erste Ursache der gegenwärtigen Gottferne darin, dass wir die Schwäche und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen übersehen.
Aber zweitens fügt er hinzu, dass die Bischöfe nicht mehr lernbereit sind. Selbstbesinnung ist also vonnöten. In diesem Sinn blickt er auf eine Kirche, die ihr göttliches Licht nicht unter den Scheffel stellen dürfe, schließlich sei sie „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“[17].

Verständlicherweise lassen an diesem Punkt die Ausführungen von Zollitsch mehr erhoffen als die höchst selbstbewussten Worte des Papstes, denn unter den Vorzeichen von Zollitsch konnten viele Delegierte unbefangen nach Mannheim fahren. Ganz anders klingt das in Rom. Ohne zu fragen, was die Kirche vielleicht falsch gemacht hat, fordert der Papst in ungebremster Glaubensfeier einen „erneuerten missionarischen Elan“, eine „hochherzige Offenheit für das Geschenk der Gnade“. So kann Rom zur Abhilfe auch massivere Mittel anbieten als Zollitsch. Gemäß Benedikt ist in erster Linie das päpstliche[!] Lehramt zu stärken, in zweiter Linie bezieht er neue, auf Rom ausgerichtete Gruppierungen heran[18] und baut drittens auf den Katechismus der Katholischen Kirche. Schon letzteres verspricht den Plänen wohl keinen großen Erfolg.

Schließlich stößt man auf einen weiteren, für die deutsche Situation wichtigen Kontrast. Gar nicht im Sinne des recht selbstgewissen römischen Tons weist der Text von Zollitsch darauf hin, dass es in den vergangenen Monaten „nicht selten die Medien waren, die den Opfern eine Stimme gegeben haben – was eigentlich unsere Aufgabe gewesen wäre“. Er hält es deshalb für geboten, „mögliche Gründe für einen Mangel an Vertrauen in die Kirche aufzudecken, die bei uns selbst gegeben sein könnten“.

Zeigt sich Rom unmittelbarer und unerschütterlicher, also siegessicher und missionarisch vom christlichen Glauben getragen, während sich Zollitsch von den Rückschlägen der Kirche beeindrucken lässt? Das gerade nicht. Indem sich Rom nämlich triumphalistisch als die unfehlbare Hüterin einer sieghaften Wahrheit versteht, lädt Zollitsch zu einem differenzierten Umgang mit der Krise ein. So reibt sich Rom nach dem Madrider Triumph mal wieder die Hände und übersieht seine eigene Chance, die Zollitsch als „Abschied von Illusionen und falschen Einschätzungen“ beschreibt und als „eine privilegierte Periode der Scheidung der Geister“ einschätzt. Dies ist eine für den Papst abwegige Perspektive, weshalb Zollitsch früher oder später zwischen die Mühlsteine gerät.

Eine modifizierte Stimmungslage spiegelt das „Wort der deutschen Bischöfe“ vom 17. März, also sechs Monate nach dem Impulsreferat unter dem Einfluss anderer Bischöfe geschrieben. Auch hier gilt kein selbstgefälliger Aktionismus; die deutsche Kirche bleibt bereit, sich kritisch den Spiegel vorzuhalten. Aber Elemente der Selbstverteidigung machen sich bemerkbar. Als Hauptfrage gilt nicht mehr selbstkritisch die Krise der Kirche, sondern neutraler das „Auseinanderbrechen von Evangelium und heutiger Kultur“. Wer wollte dieser Feststellung widersprechen? Gefragt wird deshalb nicht, ob die römisch-katholische Kirche Gottes Wort glaubwürdig bezeugt, sondern in objektivierendem Ton, ob Gottes Wort auch heute „Licht und Leben“ ist. Jetzt ruft Zollitsch dazu auf, in den erregten Debatten manche „Kirchenvision“ emotional abzurüsten und wieder einmal taucht das alte Klischee aller Konservativen auf, man wolle die Zumutungen des Evangeliums nur an die Gegenwart anpassen. Andere Situationsbeschreibungen erhalten einen ambivalenten Charakter. Immerhin werden auch jetzt noch Bereitschaft zu Umkehr, inneren und äußeren Reformen angemahnt.

Nach diesem programmatisch schon rissigen Dokument lässt sich nur noch bedingt nachvollziehen, dass die Delegierten mit offenem Herzen nach Mannheim gekommen sind. Noch haben sie – von der entlastenden World-Café-Methode wohl überrascht – bedingungslos geredet und in aller Verletzlichkeit ihre Erwartungen an eine Kirchenreform offengelegt. Aber die Angst vor zuviel Leidenschaft und eine Engführung der Thematik lassen sich nicht übersehen; diese wurde von den verengten Fragen wohl vorgegeben. Man rüstete im Sinne der Bischöfe ab und hielt sich an die Regeln bürgerlicher Höflichkeit, die gerne als Zeichen der Nächstenliebe interpretiert werden. Man hat aber eines übersehen: Von einer gemeinsamen Verantwortung für unsere Kirche und von unserer christlichen Zeugnispflicht nach außen her gesehen war das Ende unverantwortlich. Beinahe so skandalös wie die Tatsache, dass sich kein einziger der Bischöfe in der Pflicht spürte, sich zu den Folgen und inneren Verbindlichkeiten dieses Treffens zu äußern. Ich würde mich nicht wundern, wenn sich viele, die die Mühen einer kurzfristigen Reise auf sich nahmen, für eine Image-Verbesserung der Kirchenleitungen ausgenützt fühlten. Nähme Bischof Zollitsch sein eigenes, immer noch grundlegendes Impulsreferat ernst, müsste mindestens er für sein weiteres Handeln Rechenschaft ablegen, etwa konkret erklären, was er mit dem Bischof von Rom in Castel Gandolfo besprochen hat.

Wohin die Reise geht

Überhaupt lassen manche Signale die Frage stellen, ob alle deutschen Bischöfe begriffen haben, welche Erwartungen das Septemberreferat geweckt hat. Zur Not mag man die Diskrepanz gegenüber den Tönen des WJT mit dem Argument verschmerzen, die gegenwärtige Jugend suche ohnehin keine Diskurse oder Belehrungen mehr, sondern brauche Bilder und große Events. Auch lassen sich die globalen Triumphstrategien Roms nicht unvermittelt mit der bescheidenen Selbstbesinnung einer krisengeschüttelten Landeskirche vergleichen; der Papstjubel steht in keiner Korrelation zu einem besinnlichen Gespräch von 300 verantwortungsvollen ChristInnen. Auch nach den papstkritischen Demonstrationen in Madrid fühlte selbst der Papst - wie es scheint - keine bedenkenswerten Diskrepanzen[19]. Wenn sich die deutschen Bischöfe schon in diese Spannung stellen, also beim Papstbesuch glaubwürdig als Sprecher der Kirche Deutschlands und als Steigbügelhalter des Papstes zugleich agieren wollen, dann müssen sie schon klarstellen, auf welcher Seite sie wirklich stehen.

Erste Signale verheißen nichts Gutes. Bischof Overbeck, immerhin einer der Moderatoren des Gesprächsprozesses, hat von Zollitsch’s Ruf zur Demut nur wenig verstanden, wenn er nach Mannheim auf Grund seiner nachweisbar veraltet vorkonziliaren Theologie ungeniert erklärt, welche Kernforderungen zur Erneuerung „nicht verhandelbar“ seien[20]. Genau das war nicht die Ebene, auf der die Delegierten in Mannheim ihre Erfahrungen zum Ausdruck brachten. Um das Maß voll zu machen, erklärte er den Kritikern des WJT: „Kommt hierher und ihr werdet mit eurer Kritik feststellen, dass ihr nicht recht habt.“ Hier, in Madrid, gebe es eine typisch katholische[?] „große Erfahrung des Miteinander-auf-dem-Weg-Seins“. Diese Erfahrung gehöre „zu der Kraft[?], die wir[?] nicht nur in unseren Ländern, sondern auch in der Welt haben“, um dann triumphierend zu enden: „Die Weltkirche als solche ist größer und sprengt auch alle Dimensionen!“ In einer Zeit, da der eine Bischof die Krisensituation zur Kenntnis nimmt, stilisiert der andere Quantität und Massenbegeisterung zu fragwürdigen Kirchenbeweisen hoch. Dagegen wäre mehr als ein biblisches Argument anzuführen[21].

Vergleichbar herablassend und klischeehaft, wenn auch sublimer verpackt, ließ R. Marx in einem Artikel der Herder Korrespondenz - ohne genaue Nennung seiner Adressaten - verlauten, die Kirche sei kein „Verein, dessen Satzung man in der Vereinsversammlung ändern“, in der man also nach Belieben mit Zölibat und Sexualität umspringen kann[22]. Aus den Missbrauchs- und Vertuschungserfahrungen folgten keine strukturellen Änderungen, und überhaupt solle man nicht so „kleinkariert“ und „verbissen“ reagieren. Der Papst biete zudem eine weite und tiefe Theologie. Nach Madrid werden die Diskussionen wieder lauter; nicht ohne Grund berichtet die Presse von einem neuen Richtungsstreit, der auf dem Rücken der (doch so vorsichtigen) Mannheimer Voten ausgetragen wird[23].

Viele der gestellten Fragen sind umkehrbar, sobald man Rollenverständnis und Verhalten der Bischöfe mit ins Kalkül zieht. Genau dies wird von ihnen übersehen und verdrängt und genau dieser Mangel lässt die aktuelle Krise so aussichtslos erscheinen. Zunehmend ist ihr Selbstbewusstsein im Verlauf der vergangenen 150 Jahre monokratisch und autoritär geworden. Wesentliche Elemente des Neuen Testaments und der Alten Kirche werden so sträflich vernachlässigt, dass man an der Legitimität und Autorität solcher Amtsausübung, an den vorgetragenen Ansprüchen von Lehr- und Hirtenamt prinzipiell zu zweifeln beginnt. Wie bekannt, wird die berühmte Stelle von Matthäus 16,18 zwei Kapitel weiter konterkariert und ins Gleichgewicht gebracht: Letzte Instanz sind keine Bischöfe, sondern ist die Gemeinde (Mt 18,17). Dies gilt auch für Bischof und Papst: „Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner“, denn „alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ (Mt 18,17f)

Deshalb sind die Überlegungen des Paulus zu den Charismen für die Gegenwart so kostbar. Er bietet in 1 Kor 12-14 eine bunte Palette von (für ihn unbestreitbaren) Fähigkeiten, die Getaufte ihrer Gemeinde anbieten können. Vom Zölibat und vergleichbaren „heiligen Gaben“, die christliche Radikalität symbolisieren sollen, ist keine Rede. Es geht um Heilung, Zungenreden, Übersetzen, Lehre, Leitung, Prophetie. Die entsprechenden Konturen der Gemeindeordnung kennen keine offiziell beauftragten Amtsträger; hierin lässt Paulus der Gemeinde freie Hand[24]. Hans Küng sprach schon 1967 von einer „bleibenden charismatischen Struktur“[25]. Dagegen müsste eine Übertragung in die Gegenwart die zahllosen anderen Kompetenzen aufführen, die Menschen heute in ihre Gemeinden einbringen, so etwa ihre wissenschaftlichen und pädagogischen, ihre politischen und künstlerischen, sozialen und analytischen, ihre reichen exegetischen, spirituellen, ökumenischen und interreligiösen Erfahrungen. Lehre, Leitung und Prophetie sind in keinem leitenden Zentralamt kumuliert, wie im reichskirchlichen Bischofsamt geschehen, und prinzipiell hat eine jede im Geist getaufte Person ein Recht darauf, mit ihren Gaben ernstgenommen zu werden. Dem Geist dieses Kapitels entsprechend müsste eine jede Kirchenleitung (nach Wahl oder Bestätigung durch die kirchliche Gemeinschaft) begierig darauf sein, diese Fähigkeiten zu fördern und sich von ihnen bereichern zu lassen. Die Metapher vom Leib und den Gliedern zielt ja gerade nicht auf die typisch römische These von einem „mystischen Leib“, in dem alles dem einen Haupt unterstellt ist. Im Gegenteil, sie zielt darauf, dass wir letztlich alle aufeinander angewiesen sind und gegenseitig aus unseren Kompetenzen Nutzen ziehen können. Von diesem Geist ist gerade die Kirchenleitung nicht ausgenommen: „Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht.“ (1 Kor 12,21b).

Mag die Krise uns allen bis an den Hals steigen, in Sachen christlicher Lehre und Kirchenordnung tun die meisten Bischöfe noch immer so, als hätten weder die Lehrer noch die Praktiker des Alltags, weder die Liebenden noch die Kenner der säkularen Welt, weder die Verfechter der Rechte der Marginalisierten noch die prophetischen Rufer gegen Macht und Unterdrückung etwas zu sagen. Sie meinen immer noch, alle bräuchten ihre Hilfe und Stellvertreterschaft Christi. Genau darin täuschen sich die Bischöfe im Augenblick. Sie sollten endlich erkennen, wie sehr sie und ihre Amtsstrukturen ein wesentlicher Grund für die Krise sind, zu deren Überwindung wir alle antreten. Wenn sich die Bischöfe in den kommenden fünf Jahren diese christliche Erkenntnis nicht zu Herzen nehmen, haben sie ihre Autorität vollends verspielt. Die „Dreihundert von Mannheim“ stehen für einen Vertrauensvorschuss, den die Bischöfe – auf Gefahr ihres Vertrauensverlusts - bislang noch nicht eingelöst haben. Das Ziel der kommenden fünf Jahre ist nur erreichbar, wenn sie – wenigstens für diese Zwischenzeit – das Lehramt der Gesamtkirche ernstnehmen oder wegen grundlegenden Versagens auf ihre Ämter verzichten, nachdem sie seit 45 Jahren versuchen, den Impulsen des Geistes zu widerstehen. Sie sollten sich entscheiden und den Worten Taten folgen lassen.


Aus der Reihe „Aufgespießt“,
„wir-sind-kirche.de/eichstätt“


© imprimatur Oktober 2011
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[1]Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz hielt Bischof Zollitsch auf deren Herbsttagung ein viel beachtetes Impulsreferat zu einer neuen „missionarischen Pastoral“.
[2]So auf einer Pressekonferenz am 24.3.2011 in Freiburg i.B.
[3]Der Gedanke wurde am 6. Januar 2011 aufgegriffen und im März offiziell beschlossen. Seit 4. Juli 2011 existiert ein Flyer: „Zeit zu hören 2011“. Die Impulse aus den „Kirchengemeinden, den Seelsorgeeinheiten, aus kirchlichen Gruppen und Einrichtungen sollen festgehalten werden“. Allerdings entscheidet der Bischof allein über deren Umsetzung und Weiterbehandlung. Sie sind unter den Vorbehalt der geltenden kirchlichen Lehre und übernationaler Entscheidungsbefugnisse gestellt.
[4]In München reichten Gemeinden, Verbände und Gremien schon zahlreiche Reformvorschläge ein, doch erst am 25.7.2011 wurde – typisch für vergleichbare Initiativen - eine recht inhaltsleere Themenstruktur bekannt gegeben. Sie lautet: „Dem Glauben Zukunft geben“, „Gemeinsam Glauben lernen“, „Miteinander Glauben bezeugen“ und „Als Gemeinschaft Kirche sein“. Ob solch globale Themenstellungen die notwendige Klarheit bringen, sei dahingestellt. Konkrete, von der Basis vorgetragene Vorschläge wurden noch nicht veröffentlicht.
[5]„Wort der Bischöfe an die Gemeinden“. Eine genauere Analyse dieses Plans mit seinen Stärken und Schwächen steht noch aus. Die innerkirchlichen, um fünf globale Jahresgespräche gruppierten Jahresthemen werden von zwei Gesprächsprojekten zwischen Bischofskonferenz und Zentralkomitee begleitet. Ansonsten sieht man den gesamten Prozess von einigen Großereignissen flankiert, die ohnehin stattfinden und thematisch nur bedingt mit den geplanten Themen zu koordinieren sind: ein Papstbesuch (September 2011), zwei Katholikentage (2012 und 2014), ein Eucharistischer Weltkongress (Köln 2013), ferner einige diözesane Feiern und Wallfahrten (z.B. die Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 in Trier) und das Jubiläum zum Abschluss des 2. Vaticanums (2015).
[6]Die beiden Projekte lauten: „Priester und Laien in der Kirche“ und „Präsenz der Kirche in Gesellschaft und Staat“.
[7]Offiziell liegt die Verantwortung des Gesprächsprozesses in den Händen der Bischöfe F.-J. Bode (Osnabrück), R. Marx (München-Freising) und. F.-J. Overbeck (Essen). Diese Gruppe ist also laien- und frauenfrei.
[8]Pressestelle des Erzbistums Freiburg vom 13.08.2011.
[9]„1. Wir sind eine junge Kirche: authentisch, heilsbedürftig, lernbereit und sprachfähig.“
[10]„23. Frauen sind gleichberechtigt an der Leitung der Kirche beteiligt“; „7. Die Kirche 2015 geht ehrlich mit Problemen um und arbeitet transparent an ihnen, z.B. Priestermangel, Umgang mit Sexualität, lebbare Ökumene, falsch verstandene Macht ...“.
[11]Ein Protokoll der Mannheimer Tagung im Internet ist angekündigt. Man darf nur hoffen, dass es vor Erscheinen nicht inhaltlich entschärft und geglättet wird.
[12]Der WJT fand vom 15.-21.8.2011 in Madrid statt; der Papst reiste am 18.8. an. Feierlicher Abschluss war ein Mammutgottesdienst von schätzungsweise 1.5 Millionen Teilnehmenden. Gemäß dem offiziellen Programm „feiert der Papst mit Tausenden von Bischöfen und Priestern die Heilige Messe“. Man hatte einen 200 Meter langen Altar errichtet, 48 Lautsprechertürme, 20 Großleinwände und 4000 Toilettenhäuschen aufgestellt. Für Benedikt war es die größte Massenversammlung seines Pontifikats, lag allerdings weit unter dem Rekord seines Vorgängers auf den Philippinen mit etwa 4,5 Millionen BesucherInnen. Der aktuelle WJT wird von vielen als Beginn der Neuevangelisierung Europas gesehen, die Benedikt anstrebt.
[13]Kardinal Dziwisz „WJT ist Beginn der Neuevangelisierung für Europa“, in: Vaticanhistory-News-Kirchengeschichte bei VH vom 19.8.2011. Stanislaw Dziwisz war viele Jahre Privatsekretär von Johannes Paul II.
[14]Das entsprechende Motuproprio Ubicumque et semper wurde am 21. September 2011 unterzeichnet. Den Gedanken der Neuevangelisierung von ehemals christlichen Ländern hat der Vorgängerpapst schon im Jahr 1985 lanciert. Leiter des neuen Päpstlichen Rates ist Erzbischof Fino Fisichella. Für den 15. und 16. Oktober 2010 lädt der neu gegründete Rat alle „Gemeinschaften und Bewegungen ein, die mit im Dienst der Neuevangelierung“ stehen. Dazu gehört z.B. die Schönstattbewegung, die für diese Zusammenkunft die Werbetrommel rührt. Vgl. Norbert Scholl, Der Papst plant eine Neuevangelisierung – und wird damit scheitern. Der Plan und die ersten Schritte zur Durchführung in: Imprimatur, Juni 2011.
[15]Das ist der Titel einer Veröffentlichung von Manfred Entrich und Joachim Wanke: Anstöße für eine neue Pastoral, Stuttgart 2001.
[16]Die „arme Kirche“, von der der französische Theologe Congar schon 1965 sprach, wurde leider vergessen: Yves Congar, Für eine arme und dienende Kirche, Mainz 1965.
[17]Dies ist ein Schlüsselzitat aus der Kirchenkonstitution des 2. Vaticanums (Nr. 1).
[18]Die Rede ist von „Instituten des geweihten Lebens“ und „Gesellschaften apostolischen Lebens“, sowie „Vereinigungen von Gläubigen“ und „neuen Gemeinschaften“.
[19]Nach Auskunft des Madrider Kardinals war der Papst aus Freude über den geglückten WJT „den Tränen nahe“.
[20]„Wir wollen den Dialog führen, dazu gehört, verschiedene Positionen zu hören. Dass es die Forderungen gibt nach dem Ende des Zölibats, dem Diakonat der Frau, der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Eucharistie, das wissen wir. Ich sage aber klar: Es gibt Positionen der Kirche, die sind nicht verhandelbar. … Meine Aufgabe als Bischof ist, für die Tradition der Kirche einzustehen. Da bin ich im wörtlichen Sinne konservativ. Ich möchte nichts am Zölibat ändern und am Nein zum Frauenpriestertum, nichts an der Haltung zur Sexualität. Wir müssen aber einen neuen Stil finden, das überzeugend zu sagen.“ F.-J. Overbeck, Interview mit Matthias Drovinsk, SZ vom 30.7.2011.
[21]Der Kurienkardinal P. J. Cordes schreibt den Kritikern des päpstlichen Kirchenregimes ins Stammbuch, Søren Kierkegaard habe „heftig beklagt, dass große Auditorien und der Beifall der Menge zur ‚Unwahrheit’ verleiten“. Vermutlich hat er sich nur im Adressaten geirrt (P. J. Cordes, Den Geist nicht auslöschen. Charismen und Neuevangelisierung, Freiburg 1990, 145).
[22]Krise und Wende. Kardinal Reinhard Marx zur Lage der Kirche, Herder-Korrespondenz 65, 7/2011, 335-339.
[23]Erhellend dazu die Analyse von Gernot Flacius, Dialog ohne Denkverbot stockt, Die WELT vom 23.08.2011.
[24]Richard Giesriegl, Die Sprengkraft des Geistes. Charismen und Apostolischer Dienst des Paulus im 1. Korintherbrief, Thaur/Tirol 1989, 331-333.
[25]Hans Küng, Die Kirche, Freiburg 1967, 215-230. Lesenswert ist noch immer die Monographie von Gotthold Hasenhüttl, Charisma. Ordnungsprinzip der Kirche, Freiburg 1969.