Rainer Kampling
Auch heilige Bücher fallen nicht vom Himmel
Wie das Neue Testament zur kanonischen Schrift wurde

Zu den Legenden in den Zeiten medial aufbereiteter historischer Ereignisse, in denen man seine Informationen offensichtlich lieber aus Dan Browns „Sakrileg“ zieht als aus leicht zugänglichen Quellen, gehört die Annahme, Kaiser Konstantin habe sich mit Bischöfen verschworen, um unter Vernichtung aller missliebigen anderen Texte etwas zu erfinden, was es bislang nicht gegeben hatte: das Neue Testament. Konstantin, dem man so manches zutraut, habe dann dafür gesorgt, dass diese Schrift sich überall durchsetzte.

Wenn es einen geschichtlichen Kern für diese wirre Geschichte gibt, dann vielleicht den, dass Konstantin im Jahre 331 den Auftrag gab, für die wichtigsten Kirchen des Reiches vorzüglich gestaltete Bibelhandschriften anfertigen zu lassen, da zahlreiche Gemeinden durch die Verfolgung unter dem römischen Kaiser Diokletian nicht nur ihre Priester verloren hatten, sondern auch ihre Bibliotheken. Mit dem Codex Siniaticus, der in einer Glanzleistung internationaler Kooperation nun online zugänglich ist (www.codexsinaiticus. net), sowie dem Codex Vaticanus Graecus 1209 (www.csntm.org/Manuscript/ View/GA_03) liegen Bibelhandschriften aus dem 4. Jahrhundert vor. Wenn man sie nun mit den zahlreichen Papyrusfunden zum Neuen Testament vergleicht, deren älteste bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts zurückreichen, lassen sich zwar Textvarianten feststellen, aber keine gravierenden Änderungen oder Überarbeitungen. Darüber hinaus ist jenseits der Textkritik festzustellen, dass in der Zeit nach Konstantin sowohl die Debatten darüber, welche Texte zur Schriftsammlung des Neuen Testaments gehörten, als auch die literarische Ausgestaltung neutestamentlicher Stoffe anhielten.

Verschwörungstheorien und verbotene Bücher

Zu den immer wieder angeführten Apokryphen, den nicht in den Kanon aufgenommenen Schriften, die gern von Verschwörungstheorien mit dem Titel „verbotene Bücher“ geschmückt werden, ist festzuhalten, dass die Zahl der Werke, die überhaupt in den Gemeinden des Imperiums allgemein bekannt waren, verschwindend gering gewesen sein muss: Viele Schriften waren auf lokale esoterische Zirkel beschränkt oder entstanden sehr spät: Niemandem wäre es eingefallen, dass es sich um Schriften aus der Zeit der ersten Gemeinden hätte handeln können. Wie sehr die Gemeinden selbst aber von bereits existierenden Schriften inhaltlich und formal abhängig waren, zeigt der Umstand, dass es sich zumeist um literarische Imitationen der Evangelienliteratur bzw. der spezifischen Ausformung frühgemeindlicher Briefsammlungen handelt. Sie waren oftmals polemisch akzentuiert und eher als Kampfschriften verfasst worden denn als heilige Texte.

Die Herkunft und das plötzliche Auftauchen einzelner Schriften sind durch sog. Buchauffindungslegenden belegt – fehlen solche Hinweise, so herrscht zwischen Autor und Lesern Klarheit darüber, dass es sich nicht um eine authentische Schrift der apostolischen Zeit handelte. Wer als Prämisse solcher Thesen die Leichtgläubigkeit antiker Menschen anführt, geht schon am Anfang in die Irre.

Wechselnder Sprachgebrauch und mangelnde Trennschärfe

Freilich muss man zugestehen, dass die Theologie eine gewisse Verantwortung für die Verwirrung trägt, da sie selbst die Begriffe Kanon und kanonisch in mehrfacher Bedeutung gebraucht. Als kanonisch bezeichnet wird etwa – berücksichtigt man nur die Bibel und nicht das Kirchenrecht – sowohl die Sammlung der Schriften als auch der ihnen innerhalb der Glaubensgemeinschaft zukommende verbindliche Anspruch und der historische, theologische Weg von der Einzelschrift zum abgeschlossenen Ganzen. Der wechselnde Sprachgebrauch selbst begründete die mangelnde Trennschärfe in den ersten vier Jahrhunderten christlicher Theologie. Was zunächst als Glaubensregel verstanden wurde, entwickelte sich zur Bezeichnung eines Textcorpus, dem nun normative und normierende Autorität zugesprochen wurden. Am Ende der Entwicklung steht dann eine Verschränkung von Sache und Anspruch: Dass der unveränderliche Kanon die verbindlichen Schriften bewahrt, ist bereits in den Vollzug des Glaubens eingebettet. Es handelt sich dabei um eine Sakralisierung von Texten, da dem Kanon als Summe der verbindlichen Schriften ebenfalls Verbindlichkeit zugesprochen wird. Der Kanon selbst wird damit zum Gegenstand des Glaubens, den er begründet.

Um die Dinge nicht noch verschachtelter werden zu lassen, kann man zunächst festhalten: Meint man mit Kanon die Sammlung von Texten, wie sie heute im Neuen Testament vorliegt, dann ist sie, zwar noch mit Abweichungen, aber im Kern am Ende des 2. Jahrhunderts abgeschlossen: mit den vier Evangelien, der
Apostelgeschichte und den Sammlungen von Paulus- und übrigen Briefen. Meint man dagegen die verbindliche glaubensdefinierende und glaubenstrennende Zusammenstellung im Rahmen diskursiver und autoritativer Prozesse in der (Groß-) Kirche, wird man in die Zeit des 4. bis 6. Jahrhunderts verwiesen, in der sich diese Wahrnehmung und das Kanonprinzip durchsetzten.

Am Anfang hießen sie „Christianoi“

Den Beginn des Neuen Testaments prägt eines der interessantesten religiösen Phänomene der ausgehenden Antike, nämlich die literarische Produktivität einer Gruppe, deren Mitglieder von Außenstehenden zunächst als „Christianoi“ bezeichnet wurden. Während von Jesus von Nazareth nichts Schriftliches überliefert wurde, begannen diejenigen, die ihm nachfolgten, schon recht bald, die Schriftlichkeit als Medium für sich zu nutzen.

Kann man bei der Spruchquelle vermuten, dass ihr Primärzweck darin bestand, die Worte Jesu konservierend auswendig zu lernen, so sind die Briefe des Paulus Kommunikationsmittel mit den um das Mittelmeer verteilten Gemeinden, mit denen er auf ihre Praxis einwirken will – auch wenn etwa der Brief an die Römer das Briefformat sprengte und den Charakter eines Traktats annahm. Eben jene Briefe des Paulus wurden in Sammlungen zusammengestellt. Spuren davon kann man bereits in anderen neutestamentlichen Texten selbst finden. In 2 Petr 3, 15 f. heißt es: „Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht. In ihnen ist manches schwer zu verstehen, und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, verdrehen diese Stellen ebenso wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“

Das belegt nicht nur, dass die paulinischen Briefe früh Probleme des Verstehens aufwarfen, sondern auch, dass zur Zeit der Abfassung des zweiten Petrusbriefs, zwischen 100 und 110, schon eine Sammlung der Briefe vorlag. Um 180 n. Chr. werden Christen in Nordafrika bei einem Verhör gefragt, welche Schriften sie mit sich führen. Sie antworten: „Bücher und Briefe des Paulus, eines gerechten Mannes“.

Briefe mit theologischer Aussagekraft und Bedeutsamkeit

Doch ist mit dem Befund einer Sammlung noch nicht gesagt, dass damit der Gedanke einer absoluten Verbindlichkeit einherging. Gewiss wären die Briefe nicht gesammelt worden, wenn man ihnen nicht ein hohes Maß an theologischer Aussagekraft und Bedeutsamkeit zugesprochen hätte, aber das meint eben noch nicht dasselbe wie Kanonizität.

Denn die Heilige Schrift und der Kanon waren für alle Autoren des Neuen Testaments die Bibel Israels – in der griechischen Übersetzung, der Septuaginta. Hier fanden sie die Deutungsmodelle für das „Christusereignis“, das sie von diesen Schriften her lasen und auf die sie es bezogen. Der Kanon dieser ältesten durchgehenden Bibelübersetzung setzte sich mit leichten Modifikationen als verbindlich für die Kirche der Spätantike durch und prägt den Kanon des Alten Testaments, wie ihn die Orthodoxe und Katholische Kirche bewahren, bis heute. Die Kirchen der Reformation folgten dagegen der Hebraica. Es gab mithin in den christlichen Gemeinden niemals eine kanonfreie Zeit, wobei man freilich feststellen kann, dass die Gemeinden an einem Prozess beteiligt waren, der im Judentum noch nicht völlig abgeschlossen war, sodass eine Wechselwirkung angenommen werden kann. Der Kanon wurde von den Christen durch den Gebrauch im Rahmen der Verkündigung konstituiert und definiert. Für die neutestamentlichen Evangelien bilden diese Texte gleichsam die Folie der Erzählung; von einzelnen Worten bis hin zu ganzen Erzählmotiven prägen sie die Texte, die erst dadurch verständlich und theologisch aufgeladen werden. Die Autoren und Leser der Evangelien müssen über ein hohes Maß an Schriftkompetenz verfügt haben.

Die Evangelien im spannungsreichen Verhältnis zur mündlichen Überlieferung

Relativ rasch wurde den Evangelien eine höhere Bedeutung als anderen Schriften beigemessen, da sie nicht nur als Erinnerung an Jesus galten, sondern als Vergegenwärtigung des Herrn selbst. Sie traten damit in ein spannungsreiches Verhältnis zur mündlichen Überlieferung, in der tatsächliche oder vermeintliche Jesusworte bis zum Ende des 1. Jahrhunderts bewahrt und tradiert wurden. Dabei ging es nicht nur um unterschiedliche Tradierungsformen, sondern auch um die Frage der Kontrollierbarkeit der mündlichen Überlieferung, da die Berufung auf Zeugen Jesu bzw. Zeugen der Zeugen mit dem Abstand zu den Ereignissen immer fragwürdiger wurde. So hat einer der frühen Kirchenväter, Papias von Hierapolis, gestorben um die Mitte des 2. Jahrhunderts, ausdrücklich festgehalten: „Wenn aber irgendwo jemand, der den Presbytern nachgefolgt war, kam, erkundigte ich mich nach den Berichten der Presbyter: Was hat Andreas oder was hat Petrus gesagt, oder was Philippus oder was Thomas oder Jakobus oder was Johannes oder was Matthäus oder irgendein anderer der Jünger des Herrn (…) Denn ich war der Ansicht, dass die aus Büchern mir nicht so viel nützen würden wie die von der lebendigen und bleibenden Stimme.“ Dies schrieb er, obwohl ihm Evangelien bekannt waren und er selbst Erklärungen über die Worte des Herrn verfasst hatte.

Eusebius von Caesarea, oft bezeichnet als Vater der Kirchengeschichte, überlieferte diesen Text 200 Jahre später – und er hält Papias gleichwohl für einen recht beschränkten Mann, da er allem Möglichen aufgesessen sei: „Er hat auch anderes vorgetragen, was angeblich aus ungeschriebener Überlieferung zu ihm gelangt sei, gewisse fremdartige Gleichnisse des Erlösers und Lehren von ihm und einiges andere reichlich Fabelhafte.“

Es mag sein, dass Eusebius der Theologie des Papias gegenüber Bedenken hatte und er daher dessen Zeugnis abwertete, aber er hat doch wohl erkannt, dass der Wunsch nach Herrenworten diese wohl auch hervorrufen kann. Der subjektive Faktor spielt bei der Betonung der mündlichen Überlieferung sowohl beim Tradenten als auch beim Traditum sowie beim Rezipienten eine übergroße Rolle.

Vom Aramäischen ins Koine-Griechische und dann ins Lateinische

Allerdings geht es bei der Entscheidung, ob mündliche oder schriftliche Tradierung, auch um ganz grundsätzliche Probleme, wie das des Sprachenwechsels: Die neutestamentliche Überlieferung wurde vom Aramäischen ins Koine-Griechische und dann ins Lateinische transferiert - um nur die wichtigsten Übergänge zu nennen. Dabei musste es folgerichtig zu Bedeutungswandel und Änderungen kommen, die durch eine Vertextung abgemildert wurden. Das Indiz, dass sich im syrischen Raum die mündliche Überlieferung vergleichsweise lange gehalten hat, kann man durchaus verallgemeinernd auswerten: Mündliche Tradition vermag zwar allzeit möglich sein, doch sie bedarf des Kontinuums des gleichbleibenden Ortes, sei er nun real oder fiktiv. Die schriftliche Tradierung dagegen kann unabhängig von Zeit und Ort gelingen. Als fixierte Schrift wird sie zum transportablen Gedächtnis, das als Voraussetzung nicht die Nähe zum Ereignis, sondern zum Text hat, der eben dieses je neu zu Worte bringt. Als die Christen anfingen, die bislang mündliche Überlieferung niederzuschreiben, hielten sie sich nicht nur an antike religiöse und kulturelle Vorgaben – sie zeigten damit vor allem auch die Eigendynamik des Christentums als eine transethnische und transregionale Religion. Trotz aller kulturellen, sozialen und politischen Unterschiede bot die Schrift einen Kristallisationspunkt der Identität in der Verschiedenheit der Lebenssituationen.

Heute kennt man 5750 Bibelhandschriften

Dass die Zahl der heute bekannten Bibelhandschriften an die 5.750 beträgt, zeugt ebenso von dem Verbreitungswillen wie dem Umstand, dass im Christentum von Gläubigen nicht erwartet wird, die Schrift im Original zu lesen. Wenn auch die christlichen Gemeinden je anders ihre Praxis gestalten, so ist es die gemeinsame Schrift, die sie zur Kirche der Ökumene werden lässt. Dass nicht einmal 200 Jahre nach dem elenden Sterben des Jesus aus Galiläa bereits die Schrift mehr oder wenig abgeschlossen war, folgt nicht einem externen Zwang, sondern einer inneren Logik. Nun kann freilich Mehr oder Weniger im Rahmen einer Debatte darüber, welcher Grad an Verbindlichkeit einer Schrift zukommt, auch recht viel sein – selbst wenn es primär eigentlich um zwei Schriften ging: den Hebräerbrief und die Offenbarung des Johannes. Hier zu einer Einigung zu gelangen, war nicht nur aus schrifttheologischen Gründen notwendig, sondern vielmehr aus denen des Zusammenhalts. Denn während der Hebräerbrief der östlichen Kirche als apostolisch galt, lehnte ihn die westliche ab; bei der Offenbarung lag der Fall genau umgekehrt.

Die Begründung der Kriterien

Dass nun gerade im 4. Jahrhundert die Frage nach Umfang und Bedeutung des Kanons solches Gewicht bekam, hat nicht nur eine Ursache. Zwei Gründe spielten zweifellos ein große Rolle: die Notwendigkeit, sich nach den Wirren der Verfolgungen neu zu konstituieren, und die damit einhergehende Institutionalisierung innerhalb der Gemeinden. Folgt man dem Kirchenhistoriker Eusebius, dann existierten in den Gemeinden neunzehn bzw. zwanzig anerkannte Schriften, die homologoumenoi, wobei die Stellung der Johannesoffenbarung unklar bleibt. Dann gab es welche, über die diskutiert wurde, die antilegomenoi, wobei Eusebius erkennen lässt, dass es nicht zu schwerwiegenden Kontroversen kam. Schließlich noch eine Gruppe von Texten, die nothoi, die nicht zu den Heiligen Schriften gezählt wurden – wie etwa der Barnabas-Brief. Eusebius legt dabei drei Kriterien fest, die er als Grundlage für die Kanonizität einer Schrift ansieht: ihr Alter, ihre allgemeine Akzeptanz und ihre Wahrheit.

Das Kriterium des Alters ist ein notwendiges Wesensmerkmal einer verbindlichen Schrift; es sichert ihm Altehrwürdigkeit, die Nähe zum Anfang. In der Exegese des 19. und 20. Jahrhunderts wurde hier oft das Kriterium der Tatsächlichkeit eingebracht, so als bürge das Alter einer Schrift für faktische Genauigkeit. Das entspricht aber nicht dem Denken der Theologen der Spätantike. Das Alter war von Wichtigkeit, weil es an der Heiligkeit des Ursprungs teilhatte. Je älter eine Schrift war, desto näher war sie bei Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Wort Gottes, und desto größer war der Wahrheitsanspruch.

Nur zwei Evangelien werden Aposteln zugeschrieben

Da Jesus selbst nichts Schriftliches hinterlassen hatte, war die Zeit der Schriftwerdung die der Apostel. Dabei ging es nicht primär darum, dass die Schriften von Aposteln selbst verfasst worden waren – immerhin werden nur zwei Evangelien Aposteln zugeschrieben –, sondern dass die Verfasser selbst Zeugen des Apostolischen waren. Die apostolische Tradition war derart präsent, dass die zu dieser Zeit Schreibenden daran partizipierten.

Dass die zeitliche Begründung ein notwendiges, aber nicht ausschließliches Kriterium war, sieht man unschwer daran, dass der erste Clemensbrief, der gewiss nicht jünger ist als der zweite Brief des Petrus, eben nicht in den Kanon aufgenommen wurde.

Dass eine Schrift allgemein anerkannt sein musste, erklärt sich aus dem kirchlichen Selbstverständnis, dass sie eine Kirche in verschiedenen Kontexten war. Dies bezeugte sich auch in den gemeinsam anerkannten Schriften. Dabei ging es ebenso um einen Kompromiss, durch den Einheit im Wirken hergestellt wurde. Die allgemeine Anerkenntnis des Hebräerbriefes im Westen hat der Kirchenvater Hieronymus vorbereitet, indem er die Verfasserfrage überwindet und formuliert: „Es liegt nichts daran, von wem er stammt, wenn er denn von einem kirchlich gesonnenen Mann stammt und täglich in der Schriftlesung als Heilige Schrift verlesen wird.“ Der allgemeine Gebrauch sichert seine Kanonizität. Und wenn Dionysios von Alexandrien, einer der bedeutendsten Bischöfe des 3. Jahrhunderts, seine Bedenken gegenüber der Offenbarung des Johannes überwindet, so ist dies auch Ausdruck eines Bemühens um Gemeinsamkeit: „Ich aber möchte nicht wagen, das Buch zu verwerfen; denn viele Brüder halten große Stücke auf dasselbe. Ich möchte vielmehr glauben, dass das Urteil über die Schrift sich meiner Vernunft entzieht. Ich vermute nämlich, dass die einzelnen Sätze einen verborgenen und ganz wunderbaren Sinn in sich schließen (...) Ich verwerfe nicht, was ich nicht erfasst, bewundere es im Gegenteil umso mehr, eben weil ich es nicht begriffen.“ Die allgemeine Gültigkeit sicherte die Verbindlichkeit einer Schrift. Sie wurde als wahr erachtet, da die überwiegende Zahl der Glaubenden sie als heilig annahm. Dieses Kriterium war aber keineswegs ein subjektives oder addierendes – es musste erst durch den theologischen Gehalt und den Ertrag der Schrift erwiesen werden.

Die Schrift musste als Maßstab des Glaubens mit dem Glauben übereinstimmen

Hiermit ist das dritte und wichtigste Kriterium genannt: Die Schrift musste als Maßstab des Glaubens mit dem Glauben übereinstimmen, sie musste Gottes Wort aussagen. Die Schwierigkeit dieses Kriteriums ist evident: Logisch bewegte man sich in einem Zirkelschluss. Dass man es sich aber keineswegs leicht machte, zeigt der Umstand, dass eine Schrift auch dann als kanonisch erachtet wurde, wenn sie von Häretikern gebraucht wurde wie etwa das Johannes-Evangelium. Hier führte man heftigste Auseinandersetzungen über die wahre Lesart, aber man verzichtete nicht auf die Schriften, weil man sie als heilig erachtete. Eine Schrift wurde nicht durch den häretischen Gebrauch häretisch, ihrer Wahrheit konnte das nichts anhaben. Dass damit aber kein Ende der Diskussion über die Schrift und ihre Wahrheit herbeigeführt war, zeigen die nachfolgenden Jahrhunderte.

Athanasius und die 27 neutestamentlichen Bücher

Die weitere Entwicklung vollzieht sich innerhalb weniger Jahrzehnte. Nach einer Reihung der Schriften auf der Synode von Laodicea um 360 legte Athanasius, Bischof von Alexandria, in seinem Osterbrief des Jahres 367 eine komplette Liste der 27 neutestamentlichen Bücher vor, die von der ganzen Kirche als verbindlich angesehen werden und als Grundlage des kirchlichen Glaubens gelten. Bischöfe, Konzilien und Synoden erkennen diese Liste offiziell als verbindlich an, so etwa in Nordafrika die Städte Hippo (393) und Karthago (397 und 419). Damit ist der Prozess vom Text zur Heiligen Schrift und dann deren Kanonizität abgeschlossen. Die Frage, ob man sich dieser Kirche zugehörig wähnte, entschied sich nun neben anderem auch an der Frage, inwiefern man dem Kanon zustimmte.

Vehement sollte diese Frage wieder mit der Reformation aufbrechen, als die Kirchen der Reformation den Kanon der Hebraica übernahmen. Für den Bereich der römisch- katholischen Kirche wurde der Kanon der Heiligen Schrift in seinen beiden Teilen verbindlich und definitorisch auf der vierten Sitzung des Konzils zu Trient am 8. April 1546 festgelegt. Die Definition umfasste zwar auch die Schriften des Neuen Testaments, Hauptgegenstand jedoch war der Kanon der alttestamentlichen Bücher. Denn: Der Kanon Vulgata, die lateinischen Übersetzung des Hieronymus, wurde durch die Luther-Übersetzung infrage gestellt, die sich wiederum an der Hebraica orientierte.

So blieb es bis zum heutigen Tag; die römisch-katholische Kirche hat zwar den Kanon mit den Kirchen der Orthodoxie gemeinsam, nicht aber mit denen der Reformation.

Der Kanon kann historisch nachgezeichnet werden

Das Werden des Kanons ist historisch nachzuzeichnen; schwieriger aber ist es, die Entwicklung der Vorstellung der Kanonizität zu erfassen. Zweifelsohne kann man hier eine der Spätantike innewohnende Tendenz annehmen und auf Parallelen in den literarischen, philosophischen und religiösen Systemen hinweisen. Dennoch bleibt das Spezifische, dass hier einerseits um Kompromisse gerungen wird, Debatten geführt und Strategien entwickelt werden – zugleich aber der Anspruch erhoben wird, über eine heilige, unabänderliche, gottgewollte Causa zu reden. Bedenkt man, dass zu dem notwendigen Kompromiss eben auch gehören konnte, Schriften als kanonisch anzuerkennen, gegen die man kurz zuvor noch Einspruch erhoben hatte, muss man davon ausgehen, dass ein gewisses Maß an kognitiver Dissonanz stets gegeben war. Diese Spannung zwischen durchaus profanen Konflikten bei gleichzeitiger Sakralisierung führte unter anderem dazu, dass eine bleibende Unterscheidung zwischen der Heiligkeit des Textes und der Beschäftigung mit ihm bewusst blieb. Mochte die Schrift heilig sein, so waren es die Ergebnisse der Arbeit daran nicht: Sie blieben dem Diskurs ausgesetzt. Sie selbst konnten nicht Wahrheit beanspruchen, sondern allemal nur Wahrhaftigkeit. Diese nicht aufzuhebende Trennung war zumindest eine Folge der Kanon-Debatte.


© imprimatur November 2011
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