Paul Petzel
Bild’ dir „nix“ ein! Zur Relevanz des Bilderverbots in Zeiten des Bilderrauschs
Ein unausgewogenes Statement

Keine Frage: Wir leben in Zeiten einer technologischen Revolution. Die elektronische Datenverarbeitung ist nur dem Buchdruck oder der Erfindung des Alphabets vergleichbar. Berufe wie der des Setzers sind verschwunden, andere neu entstanden. Gesellschaft organisiert sich spürbar anders; das Kapital rast dank digitaler Logistik nahezu in Echtzeit um den Globus: eine Voraussetzung für die Blasenbildung an den Börsen…. Unsere Gefühle, ja selbst die Intimität werden modelliert: Dass Menschen wie die Mitglieder von Facebook aberhunderte wenn nicht tausende Freunde in der ganzen Welt haben, ist neu. In einer jungen Generation Porno wachsen Verrohung; Verlebtheit und sexuelle Abgebrühtheit scheinen schon manche Jugendliche zu beschleichen und Versagensängste vor sexuellen Hochleistungsansprüchen quälen nicht wenige … Ein bedeutsames Merkmal dieser neuen Situation: die Präsenz von Bildern in einem menschheitsgeschichtlich ungekannten Ausmaß. Bilder entstehen im Handumdrehen, kinderleicht und fast ohne Kosten und genauso leicht und schnell geschieht ihre Verbreitung. Der Grenzwert von Produktion und Verbreitung heißt: Alles wird Bild, überall und sofort! Noch nie waren die Lebenswelten so visualisiert wie heute. Drastisch steigt die Bebilderung in Lehrbüchern; kein Wissen mehr ohne Visualisierung. Unser Alltag ist von Bildern durchströmt und wir treiben in diesem Strom.

Bislang galt das Ohr als der Sinn, der uns der Außenwelt unaufhebbar aussetzt, kann es doch durch sich selbst nicht geschlossen werden wie das Auge durch seine Lider. Diese somatische Verfassung hat sich in den Verhältnissen des iconic turn geändert. Bildern und ihren Appellen ist nicht zu entkommen. Allgegenwärtig wie sie sind, geriete in Lebensgefahr, wer sich ihrem „Anblick“ durch Augenschließen zu entziehen suchte. Denn wer eine Stadt durchqueren und dabei etwa Werbung nicht sehen wollte, käme kaum ans Ziel. Das Unfallrisiko stieg exponentiell. Paul Virilio spricht vom „kulturellen Zwang zum Bild“, der existiert. Doch wer führt die Bildregie? Ists nicht die Werbung, die am offensivsten und hartnäckigsten die realen und virtuellen Räume bebildert, die größten Mittel zur Produktion und Diffusion suggestiver Bilder aufbringt? Sind nicht selbst Suchmachinen, soziale Plattformen und andere letztlich werbefinanziert? Gehört die Werbung, wenn nicht „notwendig“, so doch faktisch entscheidend zur Matrix dieser technologisch-medialen Revolution? Und Technik ist, so Neil Postman, nie neutral. Sie modelliert Bewusstsein und soziale Verhältnisse; eine visualisierte Lebenswelt hinterlässt, das darf zudem angenommen werden, hirnphysiologische Spuren, sie formt Wahrnehmung und Beziehungen … Deshalb: Achte darauf, was du dir einbildest!

Überall Bilder von nahezu allem: Alles wird animierbar: die Zeugung und die Doppelhelix der Keimzelle; Sterben in jeder Variante, inclusive des aufgenommenen und ins Netz gestellten Suizids. Alles wird sichtbar: jede unsichtbare Pore im Großformat und die Haustür und der Hinterhof „wildfremder“ Häuser via Google street view... Benetton zeigte auf Kampagnen der 90er Jahre ganz groß sterbende Kinder in Afrika, blutverschmierte T-Shirts aus dem Kosovo – in Echtzeit zu den Raketenangriffen beim ersten militärischen Einsatz auch der deutscher Armee nach dem zweiten Weltkrieg ; das Sterben eines Aidskranken in Jesus-Pose…

Die Elenden der Unterschicht vor allem entblößen sich Nachmittag für Nachmittag. Gucken ist geil und geguckt werden ebenso. Voyeurismus und Exhibitionismus, bislang Dispositionen und Neigungen, die das Subjekt vielleicht mühsam zu integrieren und sublimieren suchte, sind spannungsfrei zu kulturellen Basishaltungen avanciert. Ihnen wird applaudiert und sie werden verlangt. Marcuse hat recht behalten mit seinen Prognosen aus den 60er Jahren: Die repressive Entsublimierung war erfolgreich; allein ihre Chuzpe und Drastik mag er so nicht vermutet haben. Gucken und geguckt werden sind Attituden, die sich durchaus „logisch“ aus einer durchbilderten Welt ergeben.

Paradox genug: unterhalb der digitalen Bildproduktion, wenn, wie zu vermuten bleibt, auch nicht unabhängig davon, scheint ein Gunter van Hagen, der Welt bekanntester Leichenpräparator, eine der dunklen Möglichkeiten digital Bildkulturen zum Exzess getrieben zu haben: die Entblößung. Er häutet die Leichname, präpariert sie und setzt sie in Pose. Und Abertausende gucken. Er schneidet sie in diaphane Scheiben und serviert: Menschenaufschnitt, der breit konsumiert wird...

Ethiker und Juristen haben manches zu diesen Bildern erwogen, doch was ist theologisch dazu zu sagen?

Zumal die katholische Theologie einiges in Sachen Bildrhetorik und -suggestion, -gebrauch und -missbrauch beisteuern könnte, hat doch die Gegenreformation ganz auf dieses Medium gesetzt… Doch das dürfte die heutigen Verhältnisse nicht in ihren Grundstrukturen erfassen lassen.

Treffender scheint da die biblische Erzählung zum Thema Bild: der Tanz ums goldene Kalb (Ex 32). Sie ist mit Blick auf unsere Verhältnisse nachzuerzählen. Vielleicht so: Der große Anführer Mose verschwindet auf dem Berg, jetzt so unsichtbar wie der Gott, in dessen Name der Auszug aus Ägypten erfolgte. Diese Leere, Orientierungslosigkeit wird unerträglich: ein horror vacui beschleicht die Seelen. Ein Gott muss her! Einer zum Anfassen! Dafür geben sie ihr Bestes. Ein Kalb ist daraus offenbar schnell gemacht; ihr Gold ist für sie nicht mehr wiederzuerkennen. Dafür fällt sein goldner Schein tröstlich auf ihr glanzloses Leben. Die Trivialitäten und Banalitäten, der Trott und die Bedeutungslosigkeit erscheinen in diesem Glanz viel tröstlicher… Verehrung, endlich, wird möglich: Aufschauen zum Stier lässt die Dumpfheit eines grauen Alltags im toten Winkel verschwinden. Der Tanz geht los, starke Gefühle - gucken ist geil - versetzt in Ekstase… Wo das eigene Leben zu kompliziert geworden ist, wo die Verhältnisse, in denen man steckt, undurchschaubar geworden sind, haben Bilder große Chancen: Mit einem Blick machen sie - scheinbar - klar, was Sache ist. Das Kalb lächelt freundlich...; es hat gut lachen! Der wilde Tanz um diesen Bildgötzen ist ein Teufelskreis: je ärmer das eigene Dasein, umso bereitwilliger wird das Beste geopfert; je trüber das Leben, umso ersehnter der Glanz des Kalbs… Dieser Tanz kann rauschhaft werden. Bild dir deine Meinung!
Und Mose? Der empört sich; zertrümmert das Bild und seinen schönen Schein. Bild und Wahrnehmung werden bis ins Kleinste zerlegt, pulversiert: die Armseligkeiten und Sehnsüchte, das Elend in all seinen Facetten, das Graue und Stumpfe, kurz: die „Wüstenei“, aus der das Kalb sich genährt hat, wird, ja, muss ansichtig werden. Dann lässt Mose die berauschten Tänzer und Tänzerinnen die Bestandteile ihres vergoldeten Elends trinken… Setzen wir voraus, was der biblische Text nicht mehr erzählt: dass sie dieses Gebräu verdauen, dann auch ausscheiden. Dann wäre aus dem Gold Kot, aus dem Fetisch Dung geworden… Voraussetzung dafür, dass der Wüstenboden fruchtbar wird…

Das Bilderverbot, das in dieser Erzählung dramatisch und kämpferisch zur Geltung gebracht wird, enthält zumal für eine Bildkultur wie die unsere eine ungeheure Zumutung: Es entzieht allen Bildinszenierungen die Achtung, sofern sie sich dem Elend verdanken, dessen blöden Schein sie abgeben. Es setzt auf Entzug: Die überblendete Leere muss ertragen werden. Und zugleich enthält sie ein Versprechen: Es bleibt auf diese Weise, im ausgehaltenen Schmerz wie der Empörung, die sich jenseits des Scheins regen kann, eine Leerstelle, die für ein größeres Glück steht: den Gott realer Befreiungen. Nur wenn seine Stelle freigehalten wird, hat die Wüste eine Chance auf fruchtbaren Garten. Also, mach dir kein Bildnis – bild´ dir nix ein!


© imprimatur Juni 2011
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