Paul Hoffmann
Die Römische Perestrojka
Päpstlicher Absolutismus und die Freiheit eines Christenmenschen

Der Bamberger Professor für Neues Testament Dr. Paul Hoffmann veröffentlichte 1991 in der Weihnachtsausgabe der Süddeutschen Zeitung einen Aufsatz, der seine exegetischen Forschungen kompakt zusammenfasst (vgl .bes. „Das Erbe Jesu und die Macht in der Kirche. Rückbesinnung auf das Neue Testament“, Mainz 1991, Topos Taschenbuch 213, besprochen in imprimatur 1/1992 und „Jesus von Nazareth und die Kirche. Eine Spurensicherung“. 2009) und auf die gegenwärtige Kirche anwendet. Er ist – leider – immer noch aktuell, gerade jetzt nach dem Memorandum, das eine Erneuerung kirchlicher Strukturen in „Orientierung an der biblischen Freiheitsbotschaft“ fordert. Wir drucken diesen Text, mit Dank an den Verfasser, leicht gekürzt nach. Red.

Ich sehe vor mir das vertraute Bild der Peterskirche. In goldenen Lettern im Zentrum des Kirchenraums die Inschrift „Tu es Petrus …“ – und darüber die faszinierende Kuppel Michelangelos. Versammelt sind Vertreter aller christlichen Kirchen, Frauen und Männer aus aller Welt. Der Papst zieht ein, begleitet von Kardinälen, Prälaten, römischen Kurialen. Er besteigt die cathedra Petri. Nach einem kurzen Gebet wendet er sich an die Versammelten und gibt eine feierliche Erklärung ab: Unter Bezugnahme auf das Zeugnis des Evangeliums erklärt er den Verzicht auf den Absolutheitsanspruch, den der „Heilige Stuhl“ im Laufe der Kirchengeschichte – eher zum Schaden als zum Nutzen der Christenheit – an sich gezogen habe. Dann verlässt er den Thron. Er steigt die Stufen hinab und begibt sich zu den übrigen im Kirchenraum Versammelten. Dort nimmt er mitten unter ihnen Platz. Eine Ikone wird hereingetragen, eine Darstellung des mit Dornen gekrönten Jesus. Sie wird auf den Thron gestellt. Etwas verloren steht sie nun da, unter der gewaltigen Kuppel des Papstdomes im Schatten der hochaufragenden Säulen des Bernini-Altars. Für alle Zeiten soll sie hier stehen bleiben zum Zeichen dafür, dass die Kirche keinen anderen Herrn als den Gekreuzigten kennt und ER das alleinige Haupt der Kirche ist.

I.

Die Geschichte ist eine Kontrast-Geschichte. Paradoxerweise würde der Papst gerade dem von ihm und seinen Vorgängern so oft erhobenen Anspruch, der „Stellvertreter“ Christi zu sein, damit näher sein als je zuvor – jenes Jesus von Nazaret, der im Verzicht auf jegliche Macht zum Diener aller wurde und so ein für allemal klargestellt hat, dass es Herrschaft von Menschen über Menschen in seiner Kirche nicht geben kann.

Die römisch-katholische Wirklichkeit sieht anders aus: Autoritäre Eingriffe der Zentrale in Ortskirchen und ganze Regionen machen hoffnungsvolle Aufbrüche der Ortskirchen zunichte.

Reaktionäre Kräfte und Gruppen werden, etwa bei Bischofsernennungen, favorisiert, um so den eigenen Machtanspruch oft gegen den erklärten Willen der Ortskirche durchzusetzen.

Die Maßregelung einzelner Theologen sowie ein allgemeines Klima der Denunziation schränken die Meinungsfreiheit in theologischer Wissenschaft und kirchlicher Öffentlichkeit ein. Die persönliche Gewissensfreiheit der einzelnen wird, z. B. in der Sexualmoral, ausgehöhlt…

Der öffentliche Einfluss der Kirche geht zurück, Kirchenaustritte mehren sich, immer größere Teile des „Kirchenvolkes“ und auch des Klerus entziehen sich kirchlichen Reglementierungen. Doch gerade dieser Hintergrund gibt der päpstlichen Politik eine fatale Plausibilität: Sie ist Reaktion der Angst.

Was jeder von uns in seinem Umfeld beobachten kann, erscheint hier in großkirchlichem Maßstab. Statt Krisen als Herausforderungen zu begreifen, sucht man „kindliche“ Geborgenheit im Schutz vergangener Autoritäten. Die Angst besiegt die kleine Chance der Freiheit, die uns in den Wechselfällen unserer Geschichte zugespielt wird, und allenthalben stehen „Führer“ bereit, geistliche und andere, die Gunst der Stunde zu totalitärem Zugriff zu nutzen. Die zunehmende Akzeptanz fundamentalistischer Gruppierungen belegt dies eindrucksvoll und ist nur die christliche Variante eines allgemeingesellschaftlichen Trends. Dabei verstärken sich die Erfahrung der Vereinzelung und Vereinsamung in der modernen Gesellschaft und die mit der Aufklärung ausgelöste Verunsicherung des traditionellen christlichen Selbstverständnisses gegenseitig. Bis heute ist es nicht gelungen, allgemein in den Gemeinden ein Glaubensbewusstsein zu etablieren, das mit dem intellektuellen Niveau und dem Freiheitsbewusstsein eines normal gebildeten „Mitteleuropäers“ vereinbar wäre. Nach wie vor beherrscht ein unaufgeklärter Absolutismus das kirchliche Klima. Mögen auch die Kirchenmitglieder in den immer noch verlesenen Texten des Neuen Testaments „abstrakt-theologisch“ als Gottes freie Töchter und Söhne angesprochen werden, so erleben sie sich in der offiziellen Kirche nur als Objekt klerikaler Machtausübung. Diese schizoide Situation lässt nur die Alternative totaler Unterwerfung mit der Folge einer autoritären Deformierung des Charakters oder aber die Emigration zu. Es sei denn, man entschließt sich zum Widerstand.

Dass die römische Kirchenleitung offensichtlich auf die erste Karte, also auf Unterwerfung setzt, macht die Situation so fatal. Dabei könnte man schon aus der Geschichte der letzten hundert Jahre lernen: 1870 fand in der Dogmatisierung des Unfehlbarkeits- und obersten Leitungsanspruchs des römischen Bischofs auf dem Ersten Vatikanischen Konzil eine jahrhundertelange päpstliche Machtpolitik ihren ideologischen Abschluss. Die damit verbundene Etablierung einer „diktatorischen Bürokratie“ und die Verketzerung der demokratischen Errungenschaften und wissenschaftlichen Erkenntnisse des Jahrhunderts (im sogenannten Antimodernismus) brachte bestenfalls eine Schein-Stabilisierung kirchlicher Machtstrukturen – mit der Folge einer geistigen Verödung der kirchlichen Landschaft und der Ghettoisierung des Katholizismus….
Die gegenwärtige Kirchenführung steht mit ihrem Programm so eklatant im Widerspruch zum Erbe des Jesus von Nazaret, dass sie selbst es ist, die die Frage nach der Legitimität ihres Machtanspruches provoziert. Der zur Rechtfertigung des römischen Kirchensystems beschworene „Stiftungswille Jesu“, der das „göttliche Recht“ und damit die „überzeitliche“ Gültigkeit der hierarchischen Verfasstheit der Kirche und des päpstlichen Absolutheitsanspruchs erweisen soll, beginnt sich auch im allgemeinkirchlichen Bewusstsein gegen sie zu kehren. Umfragen zeigen, dass von vielen in der vorfindlichen Kirche der Gott Jesu – jener Gott, der „weiß, was sie brauchen“ (Mt. 6,8) – nicht mehr als gegenwärtig erfahren wird. Die Devise lautet: „Jesus ja – Kirche nein!“

II.

Hat Jesus Kirche so gewollt? … - Wer mit den Ergebnissen neutestamentlicher Forschung vertraut ist, weiß, dass man sich zur Rechtfertigung der absolutistischen römischen Kirchenfassung weder auf den geschichtlichen Jesus noch auf das Zeugnis des Neuen Testaments berufen kann. Sie ist das Produkt der spezifisch abendländischen Kirchenentwicklung. Der päpstliche Universalanspruch wurde von den Kirchen des Ostens nie anerkannt; er war auch im Westen umstritten und wurde vor allem von den reformatorischen Kirchen abgelehnt. Schon dies lässt uns die geschichtliche Bedingtheit der römischen Kirchenstruktur erkennen.

Solche geschichtliche Bedingtheit gilt jedoch bereits für die Entstehung der Kirche. Jesus verkündigte den Anbruch der Herrschaft Gottes. Die Gründung einer „Sondergemeinde“, wie sie etwa der „Lehrer der Gerechtigkeit“ in Qumran intendierte, oder die Stiftung einer von Israel unterschiedenen „Kirche“ lag nicht in seinem Gesichtskreis. Seine Sendung galt ganz Israel. Der „Kreis der zwölf Jünger“ gibt diesem Anspruch symbolisch Ausdruck. (Verweis auf Lit.) … Mit der bewussten Trennung von der Synagoge kommt es schließlich zur Konstituierung jener weltweiten, alle Völker umfassenden Kirche, die Ursprung aller christlichen Kirchen ist.

Die damit einsetzende Entwicklung ist alles andere als einheitlich. Die neutestamentlichen Schriften dokumentieren, wie vielfältig das Selbstverständnis und die Organisationsformen der nun im römischen Weltreich entstehenden Gemeinden waren. Bis ins 2. Jahrhundert sind es vor allem wandernde Apostel und Propheten, die kraft ihrer persönlichen Berufung die Missionsbewegung tragen. Unter ihnen wirken gleichberechtigt auch Frauen: so werden in der Grußliste (Röm. 16) Andronikos und seine Frau Junia ausdrücklich zum Kreis der Apostel gezählt (Vers 7), werden Priska und ihre Mann Aquila als Mitarbeiter des Paulus vorgestellt (Vers 3). Die Ortskirchen sind in der Regel bruderschaftlich organisiert. Paulus, einer der entscheidenden Träger der Missionsbewegung, lässt uns das Selbstverständnis der Gemeinden seines Traditionsbereichs erkennen. Die die antike Gesellschaft bestimmenden ethnischen und sozialen Gegensätze von Juden und Heiden, Freien und Sklaven, Mann und Frau und die damit verbundenen Diffamierungen gelten als überwunden. „Ihr seid alle einer in Christus“ (Gal 3,28): Die christlichen Kirchen – eine von jeder Unterdrückung freie Solidargemeinschaft.

Natürlich gab es und musste es in diesen Gruppen auch für die Organisation Verantwortliche geben. Solche „Diener“ entstanden von der Basis der Gemeinde aus, durch das Engagement einzelner. Es waren Männer wie Frauen, die dank ihrer Begabung und Möglichkeiten Aufgaben wahrnahmen, die prinzipiell allen zukamen. So erfahren wir vom besonderen Einsatz des „Hauses des Stephanas“ in Korinth (1 Kor 16,15f) oder der Geschäftsfrau Phoibe als Leiterin der Gemeinde in Kenchreae (Röm 16,1), deren Hilfe Paulus in Anspruch nahm. Paulus wirbt mit Nachdruck um die Anerkennung und Respektierung solcher Dienste. Ein „amtlicher Sonderstatus“ kam ihnen deswegen nicht zu. Ihr Dienst stand vielmehr gleichwertig neben den Diensten anderer, die andere Fähigkeiten in das Gemeindeleben einbrachten. In Korinth muss sich Paulus mit einigen Gemeindemitgliedern auseinandersetzen, die sich aufgrund besonderer geistlich-religiöser Begabung als Elite verstanden und den Rest der Gemeinde abqualifizierten. Zum erstenmal taucht hier in der Kirchengeschichte die Gefahr des „Schismas“, der Spaltung der Gemeinde, durch ein innerkirchliches „Zwei-Klassen-System“ auf. Angesichts dieser Gefahr entwirft Paulus sein Gemeindekonzept (1 Kor 12; ähnlich auch in Röm 12), nach welchem alle in der Gemeinde als „Geistbegabte“ zu gelten haben. Jeder Dienst ist gleichwertig und verdient die Akzeptanz durch die anderen. Mit dem der Antike vertrauten Bild des „Leibes“ sucht er klarzumachen, dass Pluralität und Solidarität – Sympathie – das gemeindliche Miteinander zu bestimmen haben. Auch die Gabe der „Steuermannskunst“, die die „Vorstehenden“ und „Episkopen“ für ihre Aufgabe qualifiziert, ist diesem Konzept eingeordnet.

Die verbreitete Vorstellung, die Apostel hätten diese Organisatoren als ihre „Nachfolger“ eingesetzt, entbehrt jeder historischen Grundlage. Nach dem Epheserbrief, der in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts auf die kirchliche Gründerzeit bereits zurückschaut, ist die Kirche als ganze auf dem Fundament der Apostel und Propheten aufgebaut (2,19-22). Wenn der Verfasser den Diensten, die für den Bestand der Gemeinden konstitutiv waren, eine besondere Rolle zuweist, deutet sich hierin bereits die allmähliche Konsolidierung der Gemeindestrukturen an. Es sind für ihn die Evangelisten (die Wanderprediger), die Hirten (als Gemeindeleiter) und die Lehrer. Doch auch sie bleiben noch eingebunden in den alle umfassenden Leib der Gemeinde, dessen Haupt allein Christus ist (Eph 4,4-16). Gegen Ende des 1. Jahrhunderts beginnen sich in Anlehnung an die Synagoge mit dem Presbyter-/Ältesten-Rat kollegiale Leitungsgremien allgemein durchzusetzen. Sie geben dem freien Gemeindeleben einen institutionellen Rahmen. Diese Organisationsform wird in zahlreichen Varianten bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts vorherrschen. …

Die Idee der Gemeindeleitung durch einen für alles zuständigen „Bischof“ taucht erstmals um 100 n.Chr. in den sog. Pastoralbriefen auf. Ein unbekannter Autor gibt hier unter dem Namen des Paulus fiktiv dessen einstigen Mitarbeitern Timotheus und Titus Anweisungen für die Gemeindeleitung. Es handelt sich um den Entwurf eines besorgten Kirchenmannes, der so eine durch Lehrstreitigkeiten ausgelöste Krisensituation in den Griff bekommen möchte. Sein „Kirchentraum“ gerät schon hier zum „Albtraum“: Der Preis für die Stabilität ist die Entmündigung der Gemeinde, die Diffamierung der Frauen, die Verweigerung des Dialogs, die Verkümmerung der Verkündigung zur bloßen Wiedergabe tradierter Lehre. Dieser Entwurf ist in jener Zeit zweifellos noch nicht Realität, dennoch sind hier bereits einzelne Motive erkennbar, die zur allmählichen Durchsetzung dieser „monarchischen“ Organisationsform in nachneutestamentlicher Zeit führen werden. …

III.

Alles in allem spiegelt dieser Befund die allmähliche Umbildung der ursprünglich charismatisch-prophetischen Jesusbewegung zur Kircheninstitution wieder. Das ist, wie vor allem Max Weber aufzeigte, ein notwendiger Prozess. Charismatische Aufbrüche, in denen Weber die „spezifisch ‚schöpferische‘ revolutionäre Macht der Geschichte“ sieht, lassen sich nur als „freie Gnadengabe außerordentlicher Zeiten und Personen“ verstehen. Sie bedürfen der Institutionalisierung, sollen sie die Zeiten
überdauern. Die Kirchengeschichte zeigt jedoch auch, dass die Institutionsformen prinzipiell variabel, in ihrer faktischen Gestalt abhängig von historischen Situationen und soziokulturellen Vorgaben sind. Die am Rande des Neuen Testaments in den Pastoralbriefen sich abzeichnende Weichenstellung zu „monarchischen“ Gemeindestrukturen führt also kaum zu der einzig möglichen Gestalt christlicher Kirche. Das gilt erst recht für die „Papst-Kirche“, in der jenes monarchische Amtsverständnis universalkirchlich ausgeweitet und in seinem Machtanspruch potenziert ist und die insofern selbst die Kirche-Idee der Pastoralbriefe weit hinter sich lässt. Die Mehrzahl der neutestamentlichen Gemeindemodelle dokumentiert, dass die Ausbildung demokratisch-kollegialer Verfassungsformen dem urchristlichen Selbstverständnis mehr entsprochen hätte und theologisch auch angemessener gewesen wäre.

Das Gewordene ist nicht schon dadurch im Recht, dass es sich durchgesetzt hat. Die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der Kirchenstrukturen zwingt dazu, jede gewordene und entstehende Form daran zu messen, ob sie in ihrer Zeit tatsächlich dem Erbe Jesu – seinem „Stiftungswillen“, wie man theologisch gerne sagt – dient. Das kann aber nur meinen, ob sie Menschen ermöglicht, der Würde und Freiheit eines Christenmenschen gemäß mit ihr zu leben. Solche Anfrage muss sich auch die römische Kirche heute gefallen lassen. Wird es in ihr einmal einen Papst geben, der jenen in der einleitenden Geschichte beschriebenen Schritt wagt?


© imprimatur Juni 2011
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und schon hat uns Ihre Post erreicht.

Zuerst Ihre Adresse (wir nehmen keine anonyme Post an!!):
Name:

Straße:

PLZ/Ort:

E-Mail-Adresse:

So und jetzt können Sie endlich Ihre Meinung loswerden: