Statt einer Rezension:

In der Forschergruppe Inârah. Institut zur Erforschung der frühen Islamgeschichte und des Koran e.V. haben sich Wissenschaftler aus aller Welt und unterschiedlichen Disziplinen zusammengeschlossen, um die Entstehung und Frühzeit des Islam anhand von zeitgenössischen Quellen und einer methodisch exakten Philologie zu beschreiben. Ihre Beiträge wurden in bisher fünf Sammelbänden (alle im Verlag Hans Schiler, Berlin) veröffentlicht. Vor einigen Wochen ist der fünfte dieser Sammelbände erschienen: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Die Entstehung einer Weltreligion I. Von der koranischen Bewegung zum Frühislam, Berlin 2010. Diese Forschungen stellen die Thesen der traditionellen Islamwissenschaft und auch der islamischen Theologie in Frage, und sie werden deswegen von dieser Seite polemisch zurückgewiesen. Statt einer Buchbesprechung druckt imprimatur den unten stehenden Beitrag ab, der sich mit dieser Kritik auseinander setzt.

Markus Groß, Karl-Heinz Ohlig
Zum Echo auf die Veröffentlichungen von Inârah in Presse und Fachwelt


1. Eine verweigerte fachliche Diskussion

Bereits in den vorangegangenen Sammelbänden wurde darauf hingewiesen, dass von der in Deutschland etablierten islamwissenschaftlichen Fachwelt die Publikationen von Inârah nur in unwissenschaftlichen Presseartikeln „abgehandelt“ werden, wobei auf ihre Thesen und deren Begründungen in den Publikationen kaum je eingegangen wurde. Stattdessen wurden die Arbeiten meist pauschal als bereits widerlegt oder unwissenschaftlich abgetan, ohne sich der Mühe zu unterziehen, Sachargumente anzuführen.

Nun sind in allen Wissenschaften Veröffentlichungen, die einen Paradigmenwechsel zur Konsequenz haben würden, eine Herausforderung an die Fachwelt - im Sinne einer Aufforderung zum „Kreuzen der argumentativen Klingen“: Wer zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Astronomie eine neue Galaxie entdeckt hat, hat das vorhandene Wissen sozusagen in die Breite vergrößert, wer aber – wie Albert Einstein im Jahre 1905 - die Lichtgeschwindigkeit als konstante, nicht zu übertreffende Größe betrachtete und stattdessen die Zeit als etwas, was bei verschiedenen schneller oder langsamer Eigenbewegungen schneller oder langsamer abläuft, tat dies nicht. Durch die Akzeptanz dieser völlig neuen Sehweise musste das gesamte damalige physikalische Weltbild in seinen Grundfesten erschüttert werden. Hier handelt es sich nicht um die Verbreiterung des vorhandenen Wissens, sondern um dessen Anheben auf eine andere Stufe, eben um einen Paradigmenwechsel.

Einstein, der zu dem Zeitpunkt, als er die Relativitätstheorie aufstellte, als Beamter 2. Klasse in einem Schweizer Patentamt saß und gegen die Anordnung seines Chefs an seiner Publikation arbeitete, war kein Mitglied der damals etablierten Naturwissenschaft – er hatte noch nicht einmal eine Assistentenstelle an einer Universität bekommen. Wenn er heute leben würde, hätten seine Ausführungen wahrscheinlich noch nicht einmal in den damals renommierten „Annalen der Physik“ erscheinen dürfen, da durch das Vorschalten von Begutachtungen durch Fachkollegen („peer reviewing“) solchen Paradigmenwechseln heute ein prinzipieller Riegel vorgeschoben wird, vor allem wenn es um die Vergabe von öffentlichen Fördermitteln geht[1] . Auch bei den heutigen Vorgaben der Exzellenzförderung hätte er bei seinen damaligen Referenzen keine Chance auf ein Stipendium gehabt.

Es wäre nun sicherlich vermessen, die Bedeutung der Arbeit der Forschergruppe Inârah für die Menschheit mit der von Einsteins Relativitätstheorie zu vergleichen, für die Islamwissenschaften und für das Bild der Geschichte des frühen Islam stellt sie aber einen sicherlich ebenso bedeutenden Paradigmenwechsel dar wie Einsteins Erkenntnisse für die damalige Physik: Das Bild des frühen Islam würde auf den Kopf gestellt.

Natürlich wurde auch Einsteins Theorie nicht sofort von der gesamten Fachwelt akzeptiert; was man aber der damaligen Physikerwelt zugute halten muss, ist die Tatsache, dass auch seine Gegner die Theorie ernst nahmen, mit anderen Worten, die Herausforderung annahmen.

Dies ist im Falle der heutigen Islamwissenschaft in Deutschland leider nicht der Fall. Statt auf die auf mittlerweile mehreren Tausend Seiten von Fachleuten aus verschiedendsten Disziplinen vorgelegten Beweismittel im Rahmen einer wissenschaftlichen Diskussion einzugehen, wurde die Taktik totschweigen oder besser noch die Satisfaktionsfähigkeit absprechen gewählt: Adlige und Offiziere duellierten sich nicht mit Angehörigen niederer Klassen, und als solche – in der Terminologie einiger Kritiker: Nicht-Wissenschaftler, mit denen man es gar nicht nötig habe, sich auseinanderzusetzen - wurden die Angehörigen von Inârah anscheinend angesehen. Dies ist umso erstaunlicher, als zu den „Inârah-Autoren“ international angesehene Vertreter der Islamwissenschaft, der Semitistik, Indogermanistik, Romanistik, der Religionswissenschaft und Theologie gehören.

Ein wissenschaftliches Eingehen auf Argumente von Inârah-Mitgliedern gibt es bisher nicht. Ein besonders krasses Beispiel ist die neu erschienene und bereits hochgelobte neue Koranübersetzung von Hartmut Bobzin, die eingehend in einem eigenen Beitrag des vorliegenden Sammelbandes behandelt wird. Obwohl sie den Anspruch erhebt, den derzeitigen wissenschaftlichen Stand der Koranforschung zu repräsentieren, werden sämtliche Publikationen von Inârah-Mitgliedern einfach ignoriert.

Wenn Inârah-Publikationen überhaupt zitiert werden, dann wird meist schnell klar, dass sie nur im Sinne eines „Name-dropping“ zitiert, nicht aber wirklich gelesen wurden.

2. Zur inneren Abschottung der gegenwärtigen Islamwissenschaft

Die deutsche bzw. westliche Islamwissenschaft hat im 19. und frühen 20. Jahrhundert großartige Forschungsbeiträge hervorgebracht. Weil es bei den Anfängen des Islam und bei der Entstehung des Koran um Phänomene geht, die in der sprachlich, religiös, kulturell und politisch äußerst komplexen vorderen und mittelasiatischen Welt zu verorten sind, hat man damals versucht, sie aus diesen Kontexten zu verstehen.

Mit dem Zweiten Weltkrieg war diese Phase anscheinend beendet. Die Islamwissenschaft verengte sich auf arabische Philologie, aus der keine nennenswerten Theoriebildungen erwachsen sind. Dass auch die arabische Koransprache nicht zu verstehen ist ohne die Kenntnisse der damaligen syrischen Dialekte, der persischen Sprachtraditionen und weiterer orientalischer Sprachen, wurde nicht beachtet. Sprachwissenschaftliche Forschungen sind gänzlich unbekannt. Mit anderen Worten: das in der Islamwissenschaft betriebene philologische Geschäft ist zu einseitig.

Vor allem aber weist die Islamwissenschaft ein Defizit an historischem Verstehen und historisch-kritischer Methodik auf, die zur Erfassung und Analyse des Quellenmaterials und zum Verständnis der damals abgelaufenen religionsgeschichtlichen Prozesse unabdingbar ist. Wegen der Unterschiedlichkeit der zu untersuchenden Quellen und der hierfür erforderlichen Methoden kann eine solche historische Forschung nur interdisziplinär betrieben werden: Epigraphiker, Numismatiker, Historiker, Religionswissenschaftler, Theologen, Hispanisten, Rechtshistoriker und Archäologen mit ihren spezifischen Methoden und Ergebnissen müssen zum Verstehen der damaligen Konzepte und Abläufe beitragen.

So fehlen einmal die philologischen Voraussetzungen, um die Arbeiten z.B. von Christoph Luxenberg, aber auch von Jan M. van Reeth, Manfred Kropp, Markus Groß oder Robert M. Kerr, die in unseren Bänden publiziert wurden, zu verstehen und zu diskutieren sowie, wenn ihre Thesen abgelehnt werden, detailliert zu widerlegen. Auch die Methoden einer Koranexegese, wie sie z.B. Geneviève Gobillot oder Frank van der Velden vortragen, sind ihnen nicht vertraut.

Weil historisch-kritisches Denken in seinen Mustern nicht erfasst wird, stehen viele Islamwissenschaftler ratlos z.B. vor der für jeden Historiker auf Anhieb plausiblen Feststellung, dass aus zwei- bis dreihundert Jahre jüngeren Quellen, die zudem noch kerygmatisch geprägt sind, keine Auskünfte über die in ihnen geschilderten Ereignisse und Zusammenhänge gewonnen werden können. Historische Gewissheit auf postulierte, d.h. ebenfalls nicht dingfest zu machende mündliche Überlieferungen zu stützen, ist eine in der Geschichtswissenschaft längst falsifizierte Schutzbehauptung. Der kritische Hinweis auf die durchaus vorhandenen zeitgenössischen Quellen findet keine Resonanz.

Insofern stellt sich die heutige Islamwissenschaft außerhalb der westlichen wissenschaftlichen Standards. Sie kann nur innerhalb einer Art von Ghetto überzeugen, und natürlich auch innerhalb der islamischen Welt, die ihnen – den „Orientalisten“ – dennoch selbst kleinste Fraglichkeiten, vergleiche unten (Abschnitt 5), übelnimmt.

Die Beschränkung dieser Wissenschaft auf ihre eigenen Zirkel wird dadurch sogar empirisch nachweisbar, dass sie offensichtlich wissenschaftliche Beiträge und Thesen, die den Rahmen der liebgewonnenen Vorstellungen problematisieren, nicht zur Kenntnis nimmt. Ihre Matadoren lesen nicht. Sie lesen und diskutieren nicht die Arbeiten ihrer eigenen islamwissenschaftlichen Vorfahren, sie lesen nicht, was ansonsten weltweit an Beiträgen publiziert wird, die den Kern ihrer eigenen Arbeiten in Frage stellt. Wo bleibt z.B. eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Thesen des früh verstorbenen Suliman Bashear, Professor an der Universität von Nablus, dass der Islam sich schrittweise im Kontext von Judentum und Christentum entwickelt habe und nicht auf die Offenbarung eines Propheten – ein „Mythos“ – zurückgehe[2]? Wird irgendwo diskutiert über die schon mehr als 50 Jahre zurückliegende Endeckung von Alessandro Bausani, dass sich im – relativ gleichzeitig mit dem Koran entstandenen – zoroastrischen Denkart zwei Zitate koranischer Passagen finden?[3]

Dies alles wird nicht beachtet, weil ja dann die bequemen tradierten Überzeugungen zumindest einmal, mit Argumenten, neu diskutiert werden müssten. Von daher wundert es nicht, das die quellengestützten Arbeiten der Inârah-Forschergruppe nicht aufgegriffen – was will man auch dagegen anführen? –, sondern lediglich polemisch zurückgewiesen werden. Und auch das, wie schon im vergangenen Sammelband beschrieben, offensichtlich ohne nähere Lektüre.

In diese Art, Wissenschaft zu betreiben, reihen sich neuerdings auch Theologen ein, wenn sie sich mit dem Thema Islam befassen, so – er soll als Beispiel dienen – der Bamberger Katholische Theologe und Kirchenhistoriker mit Schwerpunkt Patristik Peter Bruns. Er ist auch Kenner der syrischen Theologie, hat über Afrahat gearbeitet und ihn übersetzt. In einem Aufsatz „Der Islam – eine (juden-)christliche Sekte?“[4] , deren (seltsamen) theologischen Tendenzen hier nicht diskutiert werden sollen, greift er verdienstvoller Weise auf Thesen des Inârah-Kreises zurück, z.B. vom „immensen Abstand zwischen dem Leben Mohammeds und der Darstellung seiner Biographen“ (S.3), oder, noch deutlicher:

„In der Tat verwundert die ungeheure Naivität westlicher Islamkundler, mit der bis dato an der muslimischen Mär von der Redaktion des Korans unter dem «rechtgeleiteten» Kalifen ’Utmân um 653 festgehalten wurde“ (S. 4.5). Usf.

Dabei aber vermeidet er, außer der bloßen Angabe des Titels von „Die dunklen Anfänge“ und des Buchs von Christoph Luxenberg, „Die syro-aramäische Lesart des Koran“ Verweise auf diese Arbeiten und sucht seine Belege – nicht überzeugend – an anderer Stelle.

Aber selbst die von ihm angeführten Arbeiten hat er offensichtlich nicht gelesen. So behauptet er z.B., Christoph Luxenberg habe die Thesen Lülings „zur Rekonstruktion einer nicht-arabischen, syrischen Grundschrift“ des Koran, „eines syrischen «Urtextes», ausgebaut“ (S. 6). Zwar hat Luxenberg aufgewiesen, dass in die Koransprache sehr viele Elemente der syrischen Sprache eingeflossen sind, aber er hält die koranische Tradition von ihren Anfängen an für – sprachlich – arabisch, wenn auch zunächst ein Arabisch mit großer Nähe zum Syrischen und in syrischen Buchstabenzeichen aufgeschrieben (Letzteres aber erst in einem von Bruns nicht angegebenen Sammelband). Wenigstens die Grundthese eines Autors sollte nicht vom Hörensagen, sondern richtig wiedergegeben werden, wünschenswert wäre dabei auch die Angabe von Seitenzahlen bei den Verweisen.

Dem angeblich radikal entmythologisierenden Ohlig unterstellt er unredliche Interessen. Die Beschäftigung mit dem frühen Islam diene nur als „Vorwand“, hier ein antitrinitarisches Christentum zu entdecken, „das für Ohlig – man weiß nicht auf Grund welcher Kriterien – das authentische gewesen sein soll“, was er, für den Beschuldigten überraschend, „von Lüling entlehnt“ habe (S. 8). Zwar gibt Bruns an dieser Stelle diesbezügliche Monographien von Ohlig an. Wenn er sie aber gelesen hätte, wüsste er durchaus Bescheid über die relevanten Kriterien: sie basieren schlicht, wie bei den islamwissenschaftlichen Untersuchungen, auf historisch-kritischen Methoden und den daraus resultierenden Ergebnissen und dem historischen Interesse zu verstehen, wie es damals wirklich war.

Dann behauptet er, dass diese Thesen an der auch von Islamwissenschaftlern bemängelten „philologischen Kompetenz“ des Autors (S. 9) kranken. Er verzichtet großzügig auf auch nur einen einzigen Beleg, an dem von Ohlig arabisch-philologische Erörterungen vorgelegt wurden, die dann falsch sein könnten. Solche wurden aber von den in Inârah mitarbeitenden ausgezeichneten Arabisten vorgetragen – haben sie sich geirrt? Man wüsste es lieber ein wenig genauer. Erörterungen Ohligs kann man nur finden zur lateinischen und griechischen Philologie. Aber immerhin reichten die syrischen Sprachkenntnisse dazu aus, einer Reihe von Übersetzern syrischer Quellen falsche und tendenziöse Übertragungen nachzuweisen[5] , zur Sicherheit mit zusätzlicher Überpüfung durch Christoph Luxenberg.

Zwar äußert Bruns vorsichtige Anfragen zum geplanten Corpus Coranicum, kritisiert aber die neuerdings (auch von Angelika Neuwirth) aufgegriffene Bezeichnung des Koran als „spätantikes Dokument“: „Mit einer Redaktion (des Koran, Verf.) im achten oder frühen neunten Jahrhundert ist das Mittelalter erreicht“. Das mag er halten, wie er will, und die zeitliche Parallelität trifft durchaus zu. Er umgeht aber die Beobachtung – für einen Patrologen erstaunlich –, dass es in der byzantinischen und auch orientalischen Welt so etwas wie ein der abendländischen Entwicklung vergleichbares Mittelalter nicht gegeben hat.

Wo man also hinsieht, lässt sich bei Islamwissenschaftlern und anderen, die sich mit dem Thema befassen, nur die Verwendung ungefährer Schlagworte feststellen, die dann nach Belieben karikiert und zurückgewiesen werden können. Es fehlt der labor improbus des exakten Lesens, Voraussetzung jeglicher sich wissenschaftlich nennenden Diskussion.

3. Zum Projekt „Corpus Coranicum“ und seinen Publikationen
3.1 Ziel und Methode des Projektes

Im März dieses Jahres (2010) erschien in der „Welt“ ein größerer Artikel, in dem neuere Forschungen zum Koran vorgestellt werden. Unter dem Titel „Wie viel Wahrheit steckt im geheimnisvollen Koran?“ ist der reichbebilderte Bericht unter der Rubrik „Deutsches Forschungsprojekt“ auch im Internet zu lesen[6] . Gleich zu Beginn fällt ein Satz, der einen Philologen stutzen lässt:

„In Potsdam an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wird seit einem Jahr an der ersten vergleichenden Edition der wichtigsten Koranhandschriften aus den ersten Jahrhunderten der islamischen Zeitrechnung gearbeitet. Das Projekt heißt „Corpus Coranicum“. Es soll den Weg zu einer quellenkritischen Gesamtausgabe des Koran ebnen;“

Das Projekt soll also nicht eine quellenkritische Gesamtausgabe herstellen, sondern nur den Weg dazu ebnen. Für ein Projekt, das bei mehreren Mitarbeitern auf 18 Jahre geplant ist, erscheint das doch als etwas dürftiges Ziel. Weiter lesen wir:

„Die Fragen, die sie stellen, sind brisant: Ist das Buch des Islam göttliches Wort, christliche Häresie oder falsche Übersetzung?“

Auch dies verblüfft einen Philologen. Es ist nicht Aufgabe der Philologie, zu entscheiden, ob ein Satz „göttliches Wort“ ist, sondern bei textkritischer Arbeit geht es nur darum, aus den verschiedenen Überlieferungen einen dem Original möglichst nahe kommenden Urtext zu rekonstruieren. Aber nehmen wir wohlwollend an, dass hier die Aussagen der interviewten Wissenschaftler etwas reißerisch verändert wurden. Weiter lesen wir:

„Was man über die Entstehung des Koran sicher weiß (Hervorhebung Verf.), ist in etwa Folgendes: Zu Beginn des 7. Jahrhunderts lebte ein Kaufmann namens Mohammed in der Stadt Mekka im Südwesten der Arabischen Halbinsel. Um ihn herum lebten Beduinen, die viele heidnische Götter gleichzeitig verehrten, aber auch Juden und Christen. Im Alter von vielleicht 40 Jahren ...“

Was in diesem Zitat, dem daruffolgenden Text sowie in der separaten Chronologie am Ende des Artikels zu lesen ist, ist die Zusammenfassung der islamischen Frühgeschichte, genau so wie sie in der islamischen Traditionsliteratur beschrieben ist. Noch nicht einmal der Hauch eines Zweifels an der Historizität selbst der Details – den man z.B. durch eine Wortwahl wie „soll gelebt haben“, „hat angeblich gelebt“, „hat der Überlieferung nach gelebt“ hätte ausdrücken könnte, ist hier zu spüren.

Im Folgenden werden dann die Schwierigkeiten beschrieben, den angeblich unter dem Kalifen ?U?man kanonisierten Koran zu rekonstruieren. Bei dem Besuch der Institutsräume scheint die dortige Atmosphäre ihre Wirkung auf den Autor aber nicht verfehlt zu haben:

„Der Arabist Michael Marx sitzt in seinem Potsdamer Büro, das zum Forschungsprojekt „Corpus Coranicum“ gehört. Er bietet Mokka in henkellosen Tässchen an, an der Wand hängt ein Hochglanzposter von der Hagia Sophia in Istanbul. In den Regalen stehen bunte Bücher mit arabischen Schriftzeichen auf den Rücken, rot, grün, golden. Im Nebenraum sitzen Assistenten und Hilfskräfte vor Computern und tippen spätantike Handschriften ab, an den Wänden hängen Fotokopien steinalter Codices mit arabischen Zeichen. Etwa 12000 Fotos der zehn wichtigsten Koranhandschriften des 10. bis 12. Jahrhunderts werden hier ausgewertet, die Forscher schreiben die Verse der verschiedenen Handschriften zum Vergleich untereinander und stellen sie dann ins Internet.“

Die Schilderungen der zweifellos ästhetisch und kulinarisch ansprechenden Errungenschaften des Orients kann hierbei jedoch nicht über einen problematischen Punkt hinwegtäuschen: Der Koran soll unter dem Kalifen ?U?man bereits im 7. Jahrhundert kanonisiert worden sein. Wie aussagekräftig sind dann aber Manuskripte, die rund 300 Jahre später verfasst wurden, vor allem, wenn man bedenkt, dass es wesentlich ältere Koranhandschriften gibt, von denen einige schon als Faksimile veröffentlich sind und auch in San?a? erheblich ältere Manuskripte gefunden wurden, die es zu editieren gäbe.

„Michael Marx sagt, die Wissenschaft habe sich bislang kaum um Handschriften und die Rekonstruktion des Korantextes gekümmert, die muslimische sowieso nicht.“

Dies stimmt auf jeden Fall nicht für Inârah, das schon vor mehr als zehn Jahren Anträge auf Förderung einer kritischen Koranedition gestellt hatte, besonders nicht für die Inârah-Mitglieder Elisabeth Puin, Gerd R. Puin und Thomas Milo, die in verschiedenen Sammelbänden auch bereits methodologisch einen Weg gezeigt haben, wie man eine textkritische Ausgabe des Koran machen müsste, hier aber in bewährter Manier nicht einmal erwähnt werden. Ob wenigstens die Ergebnisse ihrer Forschungen in den geplanten Publikationen ihren Niederschlag finden, wird sich zeigen.

Im Folgenden wird von Michael Marx aber klar gemacht, wo die Grenzen ihrer Freiheit gezogen sind:

„Marx und sein Team dürfen nicht den Eindruck erwecken, den Koran zu relativieren. „Der Koran war etwas ganz Neues, Eigenständiges“, sagt Marx. „Er hat das Vorgefundene kommentiert und weiterentwickelt.“ Aber diese Differenzierung kann leicht überhört werden. Viele Muslime schätzen es nicht, wenn man ihr heiliges Buch nach Parallelen zu älteren Religionen absucht. Sie argwöhnen, dass man ihnen ihren Koran wegnehmen will. Dass man ihn zum Abklatsch christlicher und jüdischer Ideen umdeuten will, so wie es die kirchliche Islamkritik seit Dantes „Göttlicher Komödie“ immer wieder getan hat.“

Dass in allen Artikeln zum Koran immer – neben der Beteuerung größter Hochachtung für den Islam – auch das obligatorische Quäntchen Kirchenkritik enthalten sein muss, überrascht nicht, wenn auch die Neigung zur Gewalt gegen Wissenschaftler durchaus erwähnt wird:

„Der Islam als christliche Häresie. Die Muslime als Ketzerverein, der nur deshalb zu einer neuen Religion werden konnte, weil Mohammed ein paar Bibelstellen in den falschen Hals bekommen hat. Alles, was in diese Richtung weisen könnte, wird von vielen Muslimen äußerst kritisch betrachtet und kann sogar Extremisten auf den Plan rufen. Mancher westliche Forscher veröffentlicht seine Erkenntnisse deshalb unter falschem Namen, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Der Libanese Samir Kassir forderte als einer der ersten muslimischen Gelehrten, den Koran vor dem Hintergrund der christlich-jüdischen Spätantike zu erforschen. Er wurde im Sommer 2005 in Beirut ermordet.“

(wird fortgesetzt)


© imprimatur März 2011
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[1]Auch die Veröffentlichung der „Syro-aramäischen Lesung des Koran“ von Christoph Luxenberg wäre um ein Haar an einer solchen Begutachtung gescheitert. Das Buch war, bevor es vom Schiler-Verlag veröffentlicht wurde, einem namhaften anderen Verlag angeboten worden, der es ohne Absprache einem „Fachkollegen“ vorlegte, dieser lehnte es in ausgesucht beleidigender Weise, unter anderem mit der Begründung, er habe bei der Lektüre nicht gewusst, ob er lachen oder weinen solle, der Autor habe noch nicht einmal Grundkenntnisse des Arabischen. Aus dem weiteren Begutachtungsschreiben, das Christoph Luxenberg seinerzeit übermittelt wurde, ging dann hervor, dass die einzige Qualifikation des „Fachkollegen“ anscheinend darin bestand, dass er arabischer Muttersprachler war. Anscheinend wusste er noch nicht einmal, dass in den ältesten Koranmanuskripten keine diakritischen Punkte gesetzt wurden und hielt den Kairiner Koran für das Original.
[2]Vgl. z.B. Suliman Bashear, Muqaddima fi l-tari? al-a?ir: na?wa qira?a gadida li-l-riwaya al-islamiya (An Introduction to the other history: Towards a new reading of Islamic tradition]. Jerusalem, 1984; ders., Studies in Early Islamic Tradition, Jerusalem 2004; ders., Arabs and Others in Early Islam, Princeton, New Jersey 1997; ders., Abraham’s Sacrifice of his son and related issues, in: Colin Turner (ed.), The Koran. Critical Conceps in Islamic Studies, London, New York 2004, 219-248.
[3]Alessandro Bausani, Due citatione del Corano nel Denkart, in: RSO (revista degli studi orientali) 32, 1957, 455-462.
[4]Peter Bruns, Der Islam – eine (juden-)christliche Sekte? Eine kurze dogmengeschichtliche Betrachtung, in: Forum Katholische Theologie 26, 2010 (Heft 1), 1-23.
[5]Vgl. hierzu vom Verf., Hinweise auf eine neue Religion in der christlichen Literatur „unter islamischer Herrschaft“?, in: K.-H. Ohlig (Hrg.), Der frühe Islam ..., Berlin, erste Aufl. 2007, zweite Aufl. 2010, 223-325.
[6]http://www.welt.de/kultur/article6719414/Wie-viel-Wahrheit-steckt-im-geheimnisvollen-Koran.html; Bericht vom 10.3.2010; Zugriff Ende August 2010.