Irmgard Rech
Das süße Kindelein wird unser aller Richter sein
Die Theologie hinter der Poesie der lukanischen Weihnachtsgeschichte

Mein Vater hat an Heilig Abend stets großen Wert darauf gelegt, dass sich die Familie noch einmal unter dem großen Adventskranz versammeln sollte, der im Wohnzimmer von der Decke hing. Dort wurde dann ein letztes Mal „O Heiland, reiß die Himmel auf“ gesungen, wobei er uns erklärte, dass wir ja noch auf Jesus warten, der am Ende der Tage wiederkommen wird.

Wenn ein Kind heute fragt, warum wir uns in der Adventszeit auf die Geburt von Jesus Christus vorbereiten, da er doch längst geboren sei, wird ihm dann noch ein Vater oder eine Mutter sagen können, dass wir in der kirchlichen Deutung der Adventszeit von einer ersten und einer zweiten Ankunft Jesu sprechen und dass sich die freudige Erwartung der Christen auch auf das Kommen Jesu als Weltenrichter bezieht.

Heute hat uns das Weihnachtsgeschäft die totale Verniedlichung und Verkitschung des Christfestes beschert. Es lässt uns das „Süßer die Glocken nie klingen“ in allen Supermärkten um die Ohren schallen, und die niedlichen goldglänzenden Englein auf ihren Wattewölkchen und der elektrische Sternenglanz sind allgegenwärtig. Was würdest Du machen, wenn Weihnachten wär’,/ und kein Engel würde singen./ Es gäbe auch keine Geschenke mehr,/ kein „Süßer-die-Glocken-nie-klingen“./ Im Fernseher hätte der Nachrichtensprecher Weihnachten glatt vergessen. So beginnt ein irritierendes Weihnachtsgedicht von Jutta Richter. Welcher Engel ist gemeint, der sein Singen aufgäbe? Doch nicht der Engel, der auf den Fluren von Betlehem den Hirten eine große Freude verkündigt! Es ist allerdings schon so, dass vor lauter plärrenden Reklameengeln seine Stimme kaum noch zu hören ist. Doch die Hirten haben seine Botschaft behalten und erzählen sie weiter bis in unsere Zeit. Sie lösen bei allen, selbst bei Maria und Josef, großes Staunen aus. Denn diese Botschaft ist eine Zumutung: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. (Lk 2, 11)

Dieses in Armut und Kälte geborene Kind, das später als Aufrührer hingerichtet wird, soll der endzeitliche Retter der ganzen Menschheit sein? Lukas gestaltet die Geburt als weltgeschichtliches Ereignis. Nicht der als Friedensbringer verehrte römische Kaiser Augustus, der sich selber der Erhabene genannt hat, schafft Frieden und Gerechtigkeit, sondern in diesem Kind wird den Entrechteten und Verlorenen ein Recht Schaffender geboren, der zugleich der von Gott bestellte Weltenrichter ist. Die Hirten, die Tag und Nacht ihre Tiere umsorgen, stellt Lukas als die ersten Glaubenden an die Seite des Kindes. Von ihm erzählt sein Evangelium, dass es in seinem späteren Leben die Menschenliebe Gottes auf bezwingende Weise zur Anschauung gebracht hat. Jesus sah sich als Knecht, der zum Dienen geboren ist. (Ich aber bin unter euch wie der, der bedient. Lk, 22,27)

Wenn Lukas diesen Menschen, der uns die dienende Liebe vorgelebt hat, die sogar den Feind einschließt, vom Engel den Messias nennen lässt, dann versteht er diesen Titel vor dem Hintergrund der jüdischen Menschensohnerwartung. Das bedeutet, dass sich durch sein Tun und seine Verkündigung des Gottesreiches ein Kraftfeld auftut, in dem Gott die kommende Weltvollendung heraufführt. So steckt im Kern der Weihnachtsfreude auch die Zuversicht, dass unsere Welt durch Jesus endgültig zum Guten ausgerichtet ist.

Lukas erwartet die Vollendung der Welt im Erscheinen des Menschensohnes nicht mehr als ein baldiges Ereignis. Aber er stellt die Frage nach der Rettung im „Gericht“ und der Teilhabe an der ewigen Vollendung, für die er das Bild vom himmlischen Festmahl gebraucht. Lukas will zur beherzten Nachfolge Jesu aufrufen. Wer nicht begreift, was im Sinne Jesu gut ist, der wird am Ende vor verschlossenen Türen stehen. Und es fallen harte Worte über die religiös und sozial Etablierten, die aus ihrer Selbstherrlichkeit heraus sich dem Anspruch Jesu verschließen. Keiner von denen, die eingeladen waren, wird an meinem Mahl teilnehmen. (Lk 14, 24) Das Mahl der Vollendung der Welt wird gefeiert werden, und die, die vor dem Menschensohn bestehen können, werden erstaunt sein, wer alles mit ihnen am Tisch der ewigen Freude einen Platz erhalten hat. Sie kommen aus allen Nationen und es werden viele von denen sein, die von den Mächtigen und Reichen geknechtet und entwürdigt wurden.

Die Wahrheit der poetischen Bilder ist eine andere als die der bloßen Faktizität. Der Gesang der Engel auf Betlehems Feldern, die einen Frieden von endzeitlicher Gültigkeit verkünden, ist als eine von Gott bestätigende Antwort auf die Ankündigung einer großen Freude in der Geburt dieses Kindes zu verstehen. Hier drückt sich der Glaube aus, dass in Jesus allen Menschen aus allen Nationen der Weg zum rechten Handeln in Verantwortung für die Mitmenschen aufleuchtet. Und dass sich an seiner Liebesbotschaft die Geister aller Zeiten unterscheiden lassen in Hinblick auf Gut und Böse, das ist in der Vorstellung einer zweiten Wiederkunft Christi enthalten.

Mein Vater hat in der Hitlerzeit der Versuchung der NS-Propaganda widerstanden und eine berufliche Zurückstufung in Kauf genommen. Sein Hinweis am Heiligen
Abend, dass es den Glauben an ein zweites Kommen des Erlösers gibt, verstehe ich heute als Versuch, uns Kindern zu sagen, dass sich unser Christsein im Leben zu bewähren hat. Wir waren im Krieg ausgebombt und hatten allen Besitz verloren. Sein Rat an uns war immer: „Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, droben im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frisst.“ (Lk 12, 33) Die alten Weihnachtslieder spielte mein Vater in einfallsreichen Variationen auf dem Klavier und der Orgel. Als ob er schon damals, als es noch keine verkaufsoffene Adventssonntage gab, den fortschreitenden Weihnachtsrummel geahnt hätte, sorgte er für eine herbe Note in unserer Weihnachtsstimmung.


© imprimatur Januar 2011
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