Karl-Heinz Ohlig
Von Bagdad nach Merw (VIII) [1]
Geschichte, rückwärts gelesen

In den letzten Folgen wurde kurz dargelegt, dass es für die Anfänge des Islam keine belastbaren zeitgenössischen Zeugnisse gibt und dieser sich erst gegen Ende des 8. und im 9. Jahrhundert aus der koranischen Bewegung heraus als neue Religion gebildet hat. Der Koran war ursprünglich keine islamische Schrift, sondern dokumentiert ein frühes syrisches und arabisches Christentum. Die intensiven Bezüge zu biblischen und apokryphen Schriften, zu anderen religiösen Traditionen und die Nutzung spätantiker Literatur macht es zwingend anzunehmen, dass er nicht in nomadischem Umfeld, sondern in urbanen Ballungsräumen entstanden ist. Die wenigen noch greifbaren Indizien weisen auf die Großstadt Merw und das benachbarte Baktrien hin.

4.53 Merw als Heimat der koranischen Bewegung

Die noch greifbaren Hinweise sprechen dafür, dass in der großen Stadt Merw, Zentrum der Margiana und benachbart zu Baktrien – über lange Epochen alle in einer Verwaltungseinheit verbunden –, die Ursprünge der koranischen Sprüche zu suchen sind. In dieser Region kamen viele Einflüsse zusammen: Neben hellenistischen Vorstellungen waren die syrische Sprache und Kultur sehr stark vertreten; im Christentum war die Kirchen- und Liturgiesprache das Ostsyrische, bald aber kam es auch zu mittelpersischen Übersetzungen biblischer Bücher und liturgischer Texte. Daneben war weiterhin der Zoroastrismus verbreitet; noch recht spät soll der Zand, eine kommentierende Zusammenfassung der zoroastrischen Traditionen, hier zusammengestellt worden sein. Auch scheint der Manichäismus hier viele Anhänger gefunden zu haben. Sehr stark war auch der Einfluss des Buddhismus, der über die Seidenstraße gekommen war, in diesem Raum, von woher sich auch dessen Einflüsse auf den Koran und den frühen Islam, wie sie von Markus Groß festgestellt wurden, erklären lassen.[2]

Wenn auch eine Missionstätigkeit des Apostels Thomas in den Bereich der Legende gehört, war doch das Christentum hier sehr früh vertreten. Spätere Legenden in sogdischer Sprache – wahrscheinlich war Samarkand ein Zentrum der sogdischen Christen – berichten „über die Missionierung der Stadt Merw durch Bischof Bar Shabba“ irgendwann in früher sassanidischer Zeit.[3]

Die koranische Theologie und Christologie legen nahe, dass hier ein vornizenisches syrisches Christentum mit sehr starker Betonung des Alten Testaments und im Besitz des Diatessarons viele Anhänger hatte. Diese war wohl zunächst in Gruppen im Reich Arabiya in Mesopotamien so vertreten worden, die dann im Gefolge von Deportationen unter den Sassaniden (z.B. Mitte des 3. Jahrhunderts n.Chr. aus Hattra, der Hauptstadt von Arabiya) in diese Region verpflanzt worden waren.

Die Mehrheit der Christen dieses Raums aber gehörte z.Zt. der Entstehung des Koran wohl der großen ostsyrischen (fälschlich „nestorianisch“ genannten) Kirche an; seit 553 n.Chr. war Merw Bischofssitz und dem Katholikos in der sassanidischen Hauptstadt Seleukia-Ktesiphon verbunden. Man kann vielleicht annehmen, dass vor Errichtung eines Bischofssitzes das syrische Christentum in Merw noch weithin in einer vor-hierarchischen Verfassung war, wohl stark vom Mönchtum geprägt. Hat die Errichtung einer kirchlichen Hierarchie – und damit verbunden der Theologie der syrischen Großkirche – in der Mitte des 6. Jahrhunderts überhaupt erst dazu geführt, dass die „Altgläubigen“ diese Entwicklung ablehnten und sich separierten? Dies wäre gut möglich, lässt sich aber bisher nicht nachweisen.

Die Eigenart der koranischen Bewegung ergibt sich der Sache nach aus der Selbstabgrenzung gegenüber der großen ostsyrischen Kirche, deren neuere Entwicklungen, die sich seit dem Jahre 410, seit der Anerkennung des Symbols von Nizäa und bald noch weiterer Beschlüsse von Konzilien im Römischen Reich, ergeben hatten. Zwar führte die damit begonnene Hellenisierung nicht zur völligen Transformation des ostsyrischen Christentums; die syrischen Denkraster und Motivationen blieben bestehen, und die Spannungen zwischen hellenistischem und syrischem Denken wurden durch den Rückgriff auf Theologen der westsyrischen „antiochenischen Schule“ (Diodor von Tarsus, Theodor von Mopsuestia, Nestorius) bewältigt, die auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Kirche des Kaisers schon im 4. und 5. Jahrhundert Modelle entwickelt hatten, wie Syrer mit der hellenistischen Theologie umgehen konnten. Aber selbst diese gemäßigte Hellenisierung fand den erbitterten Widerstand der (späteren) Koranleute.

Diese Gruppen, die eine vornizenische Theologie beibehielten, waren gegenüber den übrigen ostsyrischen Christen, den nasarâ, in der Minderheit. Vielleicht erklärt sich von hierher der leidenschaftliche, polemische, auch sektiererische Ton der Auseinandersetzungen. Es sieht so aus, als seien diese Gruppen auch stärker noch als die Christen in der großen ostsyrischen Kirche persisch inkulturiert gewesen; in ihre Vorstellungen und ihr Vokabular sind zahlreiche Raster und Motive der persischen religiösen Traditionen eingegangen, so dass sich eine persische Interpretation christlicher Vorstellungen ergab.

Ebenso muss die enge Nachbarschaft zu einer Reihe von gnostischen Richtungen, wie sie vor allem in Großstädten Fuß fassen konnten, und insbesondere zum Manichäismus bedacht werden. Zwar haben sich die Koranprediger nicht ideologisch mit ihnen auseinander gesetzt oder auseinander setzen müssen, weil die große Zeit der Gnosis, in der sie eine reale Bedrohung des Christentums war, offensichtlich schon der Vergangenheit angehörte; dennoch aber waren doch manche ihrer Bilder und Vorstellungen noch weit verbreitet und wurden so auch in die koranischen Stoffe übernommen.

Ihre eigene Lage in der Fremde, im Exil, haben diese Christen, laut Koran, mit alttestamentlichen Bildern zu bewältigen versucht: die ägyptischen Pharaonen der Bibel erscheinen im Koran wie sassanidische Großkönige, zu denen man in zumindest innerem Konflikt stand[4]. Dies zeigt auch, dass die Anfänge der koranischen Sprüche in der noch intakten Sassanidenzeit zu suchen sind; der Koran hat eine lange Geschichte. Auch die starke Sehnsucht nach einer Hidschra, dem jüdischen Exodus vergleichbar und verbunden mit eschatologischen und apokalyptischen Motiven, verweist auf ihre Herkunft aus der Gruppe der Deportierten. Jedenfalls scheint der Zug ’Abd al-Maliks nach Westen, nach Palästina und Jerusalem von solchen Vorstellungen beflügelt gewesen zu sein.

Vor allem aber bietet der Raum Merw, Margiana und Baktrien die Voraussetzungen für die Verwendung spätantiker Literatur im Koran. In Baktrien, lange Jahrhunderte ein hellenistisches Reich, dürfte auch nach der Eingliederung ins Sassanidenreich im 5. Jahrhundert die griechische literarische Tradition weiter gepflegt worden sein. Jedenfalls lässt sich keine andere Kulturregion entdecken, die vergleichbare Bedingungen, wie sie zur Erklärung der Quellennutzung des Koran gefordert werden müssen, bieten könnte. Auffällig ist auch, dass der Zustrom neuerer spätantiker Literatur bald, mit der Integration der Region ins Sassanidenreich aufhörte oder erschwert war oder nur noch wenige erreichte; die „jüngste“ im Koran noch verwendete spätantike Literatur (Porphyrios und Laktanz) stammt aus dem frühen 4. Jahrhundert.

Warum die Koranleute sich gerade z.Zt. ’Abd al-Maliks auf den Weg nach Palästina aufmachten, ist nicht leicht zu bestimmen. Vielleicht war der Anlass eine neuerliche Bedrohung dieser Region durch die Hephtaliten, die „weißen Hunnen“, die ja immerhin vorher schon nach Westen vorgestoßen waren und Maavia Mesopotamien entrissen hatten. Später konnte ’Abd al-Malik sie wieder zurückdrängen.[5]

Wie Christoph Luxenberg aufgezeigt hat, liegt dem seit ’Abd al-Malik in arabischen Konsonantenzeichen (defektiv) aufgeschriebenen Koran eine syrisch geschriebene Vorlage zu Grunde. Aber auch die Sprache dieser Vorlage war arabisch bzw. eine arabisch-aramäische Mischsprache bzw. eine Arabisch mit stark syro-aramäischen Komponenten. Dies deutet darauf hin, dass schon die Gruppen, die weit im Osten den Koran oder große Teile von ihm hervorgebracht haben, sich dieser Sprache in einem syrischen kulturellen Umfeld bedient haben. Vermutlich gehörten schon die Vorfahren dieser „Araber“ zu den Deportierten; möglich ist aber auch, dass sie erst in Merw und Umgebung missioniert wurden. Sicher waren sie durch die Verwendung dieser (für sie) „deutlichen“, also arabischen Sprache gegenüber den Gemeinden der großen syrischen Kirche in einer Sonderrolle und sahen es als Notwendigkeit an, die Thora und das Evangelium mit ihren eigenenen sprachlichen und theologischen Mitteln sowie mittels Verwendung der im Umfeld bekannten literarischen und religionsgeschichtlichen Bezüge zu erklären.

Die Sprüche des Koran und ihre Sammlung hatten wohl eine vergleichbare Funktion wie der babylonische Talmud in der jüdischen Religion oder der – möglicherweise auch in Merw entstandene – Zand in der Zarathustra-Religion. Wahrscheinlich wurden diese Kommentare zunächst mündlich von Predigern vorgetragen, bald aber (in syrischer Schrift) aufgeschrieben und gesammelt. Viele Passagen aber – wie z.B. die oben kurz skizzierten von Bertram Schmitz und Frank Van der Felde untersuchten Stellen – sind zu detailliert und elaboriert komponiert, als dass sie als Produkt mündlicher Verkündigung aufgefasst werden könnten. Nicht nur die verschiedenen Redaktionen im Koran, sondern auch eine Reihe von Texten sind aus literarischer Tätigkeit hervorgegangen. Vielleicht hat man sich auf diese Weise den „Sitz-im-Leben“ für die Entstehung dieses Materials und seiner eigentümlichen Form zu denken.

Hintergrund dieser Textproduktion war offensichtlich eine vornizenisch-ostsyrisch-persische Interpretation des Christentums mit stark apokalyptischer Grundstimmung. Die koranischen Sprüche sollten in dieser – in ihrer Umgebung bedrohten – Situation sich des eigenen din, des eigenen richtigen Wegs, versichern und ihre Übereinstimmung mit der Schrift, islam, darlegen und einschärfen; alle „Neuerungen“ werden zurückgewiesen.

Ein „Sitz-im-Leben“ in Mekka und Medina hätte dagegen keinerlei Stütze in den „Realien“ des Koran und frühen Islam; er ist ein Konstrukt des späteren islamischen Anfangsmythos. Ein in Mekka und Medina entstandener Koran sähe gänzlich anders aus.

5. Resümee

Diese Hypothesen zur Vorgeschichte und frühen Geschichte des Islam ergeben sich aus der Kooperation und aus den Diskussionen von Forschern unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen in Inârah und in der von ihnen praktizierten Berücksichtigung der historisch-kritischen Methoden und einer umfassenderen Koranphilologie und -exegese. Viele Fragen sind noch offen oder müssen noch genauer untersucht werden, manches wird sich auch auf Grund fehlenden Quellenmaterials nicht restlos klären lassen.

Die bisher bekannten historisch belegbaren Hinweise scheinen diese Auffassungen über den Gang der Entwicklung nahe zu legen oder sogar unausweichlich zu machen. Die Entstehung des Koran kann auf diese Weise in einem Umfeld lokalisiert werden, das seine sprachlichen, literarischen und theologischen Eigentümlichkeiten historisch plausibel macht. Auch der Verlauf der weiteren Geschichte der koranischen Bewegung bis zu ihrem Umschlagen in eine neue Religion kann so erfasst werden, wie sie dem Zeugnis der einzig erhaltenen „Dokumente“, also von Münzen und Inschriften und der zeitgenössischen christlichen Literatur, entspricht.

Der sich ab etwa 800 n.Chr. vom Christentum ablösende und als eigene Religion bildende Islam, der allerdings noch nicht seine heute bekannte Gestalt hatte, basiert auf dieser Vorgeschichte und machte den „vorislamischen“ Koran zu seinem Gründungsdokument. Dessen defektive arabische Schreibung und die Nähe des Arabischen zum Syrischen machte mittels der Plene-Schreibung eine interpretatio arabica et islamica des beibehaltenen rasm möglich und eröffnete zugleich einen Weg zu der Argumentation, diese neue Schreibung sei nichts anderes als eine Verdeutlichung des vorliegenden älteren Textes (wenn überhaupt einmal auf diese Weise gefragt wurde).

Vorgeschichte und Geschichte des frühen Islam erweisen sich durch diese Untersuchungen als sehr komplexe und komplizierte Zusammenhänge. Durch ihre Nichtbeachtung im Traditionellen Bericht können zwar sehr viel einfachere und glattere Erklärungen vorgelegt werden; diese stoßen sich allerdings an so gut wie allen „Realien“ und machen ein wissenschaftlich verantwortetes Verstehen unmöglich.

Die Methoden der Historischen Vernunft sind universell gültig und können nicht auf Dauer Exklaven bestehen lassen, die sie von ihren Untersuchungen ausklammern. Ihre Anwendung auch auf die Geschichte der Weltreligion Islam muss sich nicht rechtfertigen, sie ist wissenschaftlich gefordert und mittlerweile auch überfällig. Wieweit sie auch ein Dienst an der Zukunft des Islam selbst werden kann, hängt davon ab, ob das, was in Europa „Aufklärung“ genannt wird, der Sache nach (natürlich nicht in gleichen Ausprägungen) auch innerhalb islamischer Bevölkerungen, vielleicht beginnend im sogn. Euro-Islam, rezipiert wird. Anders scheinen eine weltweite Kommunikation und ein gegenseitiges Verstehen, Basis auch von friedlichen Beziehungen in einer globalen Welt, sehr schwierig denkbar zu sein.

(Schluss)


© imprimatur Dezember 2010
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[1]Gekürzter Abdruck des gleichnamigen Beitrags aus:
Markus Groß /Karl-Heinz Ohlig (Hg.), „Vom Koran
zum Islam", Hans Schiler Verlag: Berlin 2009.
[2]Markus Groß, Buddhistische Einflüsse im frühen Islam?. a.a.O.
[3]Manfred Hutter, 2. Iranische Literatur, in: W. Baum / D. Winkler, Die Apostolische Kirche des Ostens, a.a.O. 147.
[4]Vgl. hierzu V. Popp, Von Ugarit nach Samarra, a.a.O. 39-41.
[5]Vgl. hierzu V. Popp, Biblische Stukturen der islamischen Geschichtsdarstellung, a.a.O. 87-92.