Leserforum


Ich habe kein Vertrauen mehr in diese Kirche

Wachtberg, den 4.Mai 2009

Lieber Michael,

meine Frau hat mir Ihre Gedanken zum Zustand unserer Kirche zu lesen gegeben und ich fühle mich herausgefordert, darauf gleich zu antworten.

Das Fazit am Ende lautet: “Ich habe kein Vertrauen mehr in diese Kirche“.

Vielleicht liegt da aber Ihr und mein Problem. Ist es nicht womöglich ein noch unvollkommenes Verhältnis des noch unreifen Christen zu glauben, er müsse zu seiner Kirche ein uneingeschränktes Vertrauen haben?

Diese unsere Kirche ist doch ein eigenartiges Wesen. Göttliches und Menschliches, Heiliges und Sündiges mischen sich in ihr. Das ist keine vollständig neue theologische Erkenntnis. Urs von Balthasar weist in seiner Theologie auf die „Hure Babylon“ als Bild für die Kirche hin. Die heilige Kirche, die wir im Credo bekennen, ist immer auch Hure. Kardinal Lehmann hat darauf in seinen kürzlichen Betrachtungen hingewiesen. (F.A.Z. vom 1. April) Aber er sagt auch, dass das Konzil das nicht gewagt hat, so klar auszusprechen. Nur selten nämlich wagen es unserer geistlichen Führer, das offen zu sagen. Das geschieht vielleicht mit Rücksicht auf das einfache gläubige Volk, das an diesem komplexen und widersprüchlichen Bild einer heiligen Hure wahrscheinlich Ärgernis nehmen würde. Diese seelsorgerische Rücksichtnahme hat aber die fatale Folge, dass das auf die Heiligkeit beschränkte Bekenntnis ganz still und allmählich aus der Kirche einen Gegenstand der Verehrung und schließlich eine Institution macht, die ihr Gesicht und ihre Herrschaft wahren will. Darin war und ist gerade die lateinische Kirche mit ihrem „Oberhaupt“, dem Papst, immer vortrefflich. Besonders die Renaissance färbt immer noch auf sie ab und lässt daneben die Option für die Armen wie ein kümmerliches Pflänzchen erscheinen. Das begrüßenswerte Ende des Kirchenstaates lebt leider fort in der Vorstellung von vielen in unserem Kirchenvolke, man schulde dem Bischof von Rom und Petrusnachfolger besondere Loyalität und „Vertrauen“. In der Apostelgeschichte und im Galaterbrief kann man aber nachlesen, wie reife Christen, (Paulus) sich ihrem Mitbruder Petrus gegenüber verhalten haben. Das war nicht das, was man ein kindliches Vertrauen nennen kann. Es war von heiligem Ernst getragener Widerspruch, der aus der Liebe zum Herrn erwuchs. In unserer lateinischen Kirche ist das episkopale/monokratische Element überentwickelt, ein Erbe des römischen Reiches, aus deren Bürokratie die Struktur des Episkopos entlehnt ist. Dass bei so viel Männerwirtschaft vieles schief gehen muss, kann einen nicht verwundern. Für mich ist empörend, dass man im katholischen Milieu vielfach glaubt, angesichts der eigenen langen Geschichte und Tradition, es nicht nötig zu haben, die Welt um sich herum, also auch den modernen Verfassungsstaat mit seinen ansatzweise geglückten Versuchen, Menschenrechte zu achten, wahrzunehmen und dann die Dinge, die man im säkularen Raum entwickelt hat, nach gebotener Prüfung aufzunehmen. Das Monitum des Paulus: „Prüft alles, das Gute behaltet“, scheint vergessen. Es gibt eine Art kirchlichen Hochmut, der sich aus dem Geist eines falschen Traditionsbegriffs speist, der meint, die Kirche brauche nichts von außerhalb lernen, schon gar nicht vom säkularen Staat und der modernen Gesellschaft.

Das Reich Gottes, für dessen Verwirklichung die Kirche da ist, ist ein Sauerteig. Der ist aber nicht viel anderes als der Teig, dem freilich eine besondere zusätzliche Kraft innewohnt, den Teig zu verwandeln. Das gilt auch für die Strukturen und das Verhältnis Kirche zu Gesellschaft und Staat.

Die derzeitige Missbrauchsdiskussion ist gut geeignet, das Gemeinte daran zu demonstrieren. Die deckt nämlich ein Strukturproblem auf. Nur ganz allmählich dämmert es nämlich den Einsichtigen in der Kirche, dass es beim Missbrauch von Kindern durch Geistliche keine besonders gute Idee ist, als Vertrauensleute Geistliche oder Bischöfe zu berufen. Erst Klaus Mertes und die Jesuiten haben erkannt, dass diese Beauftragten neutral sein müssen, dass sie nicht dem Klerus angehören dürfen, dass sie besser kein Mann sein sollten und womöglich ein Christ nicht katholischer Provenienz wie Frau Dr. Raue.

In der Zeit, als Josef Ratzinger Erzbischof in München war, ist ein pädophiler Priester aus Essen von der Erzdiözese München übernommen und weiterbeschäftigt worden. Man hat also die personalpolitische Fürsorge für einen Mitbruder, der sich an Kindern vergangen hat, dem Schutz der Kinder vorgezogen. Es wird versichert, das der Geistliche, der im Ordinariat in München diese Entscheidung getroffen hat, ohne Wissen und Billigung seines Ordinarius gehandelt hat. Das will ich gerne mal als wahr unterstellen. Es entlastet auf den ersten Blick den zuständigen Bischof und erspart ihm einen Schuldvorwurf. In Wirklichkeit ändert es aber nicht das Geringste daran, dass den Bischof die volle Verantwortung für die Fehlentscheidung seines Ordinariats trifft. Nach meinem Verständnis von Verantwortung gibt es nur eine folgerichtige Entscheidung: Der Rücktritt des Verantwortlichen.

Die öffentliche Diskussion über diesen Fall wird nicht fortgeführt. Leider. Dann würden die einen betonen, dass den Erzbischof und Kardinal kein Schuldvorwurf treffen könne, weil er nicht von dem Fall gewusst habe. Die anderen, zu denen ich zähle, würden auf die unsaubere Struktur hinweisen, dass dies nur ein feiges Versteckspiel ist. Die politische Verantwortung ist und bleibt beim Bischof. Er hat die Verpflichtung, die Zuständigkeiten in seinem Sprengel so zu ordnen, dass wichtige Fragen nicht ohne ihn entschieden werden. Delegation von Entscheidungen können dazu dienen, den Vormann aus der Schusslinie zu halten, um im Falle von Fehlentscheidungen, durch „Bauernopfer“ aus der schwierigen Lage herauszukommen. Ein solches Kalkül aber ist missbräuchlich. Es kann den Hauptverantwortlichen letztendlich nicht entlasten. Er hätte die Zuständigkeiten anders ordnen können. An diesem Organisationsversagen hat er auch einen persönlichen Anteil, also Schuld.

Das vielfach monierte Schweigen Benedikts XVI. zu den Missbrauchsfällen in Deutschland könnte darin seine Ursache haben.

Schlimm ist vor allem das Verhalten und Sprechen von Sodano. Danke für die Erläuterung des „süßen Christus“. Dulcis, dolce kann nur unter großen Vorbehalten mit dem deutschen Worte süß wiedergegeben werden. Ich weiß, dass es in der Volksfrömmigkeit auch bei uns geschieht. Man muss es sich nicht zu eigen machen. Den Menschen romanischer Zunge konzediere ich da allerdings einen anderen Sprachgebrauch.

Sodano hat aber auch zu Benedikt XVI. gesagt, er solle sich nicht von dem „Geschwätz“ aus Deutschland beirren lassen. Ich finde das ungeheuerlich. Wenige Stunden vorher hörte ich in der Osternacht, dass die Frauen, die vom leeren Grabe kommend den Jüngern von ihrem Schrecken berichten, nicht auf Verständnis gestoßen sind und man die Kunde der Frauen als „Geschwätz“ abgetan habe.

Ja, Herr Kardinal, das, was Sie gesagt haben, das war Geschwätz, während die kritischen Stimmen in Deutschland zu den Missbrauchsfällen durch die Bank eine mehr oder weniger wohlwollende Aufforderung zur Änderung waren, die es wert sind, ernst genommen zu werden, so wie ja auch die Jünger die Nachrichten der Frauen schließlich aufgegriffen und ernst genommen haben. Schluss mit Vertuschung, Schluss mit Schweigen, Aufdecken ist keine Nestbeschmutzung. Bleibt die Hoffnung, dass der Einschätzung als Geschwätz der Glaube an die Auferstehung d.h. auch die der Reform unserer Kirche folgt!!

Der Kirche vertrauen? Nein!

Aber sie mit kritischem Verstand als reifer Christ lieben wie man als Erwachsener auch seine Eltern in Erkenntnis von deren Stärken und Schwächen liebt. Das ist sehr schwierig, aber es geht!

Wem aber die “heilige Hure“ zu schwierig und der Spagat der Liebe zu etwas so Unvollkommenen zu schwierig ist, der halte sich an den Herrn (und seine Mutter!). Dort können wir vertrauen!!

In treuer Verbundenheit!

Gerhard Müller-Chorus


Sexueller Missbrauch in der Kirche
Eine persönliche Meinung und Stellungnahme

In seiner selbstlosen Liebeshingabe am Kreuz blutete Jesus aus vielen Wunden. Auch seine Kirche blutet ganz aktuell aus vielen Wunden, weil sie dieser unverfälschten Liebe ihres Herrn nicht gerecht geworden ist. Ja, es sind Dunkelheit und Grabeszeit für die Kirche angebrochen angesichts der beschämenden und abscheulichen Verfehlungen und entsetzlichen sexuellen Missbräuche sowie brutalen Prügelstrafen an jungen Menschen durch Priester und Ordensleute, die nun seit Wochen Stück für Stück ans Tageslicht kommen und die auch mein Priesterbild so ziemlich desillusioniert haben. Doch vor Schadenfreude und Häme darüber sollten sich die professionellen Kirchenkritiker mit ihrer verlogenen Scheinheiligkeit und Heuchelei hüten, sexuellen Missbrauch gab und gibt es in der Gesellschaft, in Sportvereinen, pädagogischen Einrichtungen (z. B. Odenwaldschule) und in Familien weit häufiger; zudem ist ja auch die Evangelische Kirche betroffen. Aber für unsere Kirche ist das Ganze deshalb so schlimm und desaströs, weil sie immens hohe moralische Ansprüche und Forderungen erhebt, denen dann verschiedene ihrer Amts- und Verantwortungsträger nicht gerecht werden und ihr dadurch einen gewaltigen, ja katastrophalen Vertrauens- und Ansehensverlust bescheren, sie befindet sich sozusagen in der moralischen Insolvenz. Unsere Gesellschaft aber braucht eine Kirche, die reift und Neues aus dem Grab steigen lässt. Eine Kirche, die bewusst quer zum Zeitgeist steht, ohne in ihm die „Diktatur des Relativismus“ (Papst Benedikt XVI.) zu sehen. Eine, in der Priester und Bischöfe ein glaubwürdiges Leben führen, mit oder ohne Zölibat, und nicht angesichts der rasant ansteigenden Austrittszahlen und der abscheulichen Missetaten von einer Erklärungsnot in die andere schlittern, anstatt den eigentlichen Ursachen auf den Grund zu gehen und Lösungen anzudenken.

Sicher, ein Schweigen wie in alten Zeiten, um die Aura der Heiligkeit der Kirche zu konservieren, wird es nicht mehr geben. Denn jahrzehntelang praktizierten viele kirchliche Amtsträger „eine seltsame Unfähigkeit, glaubhaft und deutlich zu sagen, welches Maß an Sünde, Bigotterie, manchmal sogar bis hin zu moralischer Verwahrlosung, in ihren Reihen herrschen kann“ (Bundesrichter Udo di Fabio). Doch die Kirche in Deutschland wird nach meinem Eindruck jetzt alles tun, um die Missbrauchsfälle radikal aufzuklären, auch wenn dabei zuweilen über das Ziel hinausgeschossen wird. Denn der Münchener Erzbischof Reinhard Marx und sein Generalvikar Peter Beer hätten nie den Ettaler Abt und Prior, beide untadelige Männer, zum Rücktritt zwingen dürfen, da überschritten sie eindeutig ihre kirchenrechtlichen Kompetenzen, wie es ihnen der Abtprimas ins Stammbuch schrieb. Anders ist es da schon im Vatikan. So existiert z. B. ein Brief des damaligen Präfekten der Kleruskongregation, des ominösen Kardinals Darío Castrillón Hoyos, an einen französischen Bischof, in dem dieser ausdrücklich dafür gelobt und beglückwünscht wurde, dass er einen Priester, der wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs im Jahr 2000 zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, gedeckt und nicht den staatlichen Behörden angezeigt hatte. So will man also im Vatikan von Fehlern wenig wissen und kritisiert vielmehr seine Kritiker mit dem Vorwurf „unbedeutendes Geschwätz“, wie es der Kardinaldekan Angelo Sodano in einer inszenierten Solidaritätserklärung für den Papst vor dem feierlichen Gottesdienst am Ostersonntag in nicht zu entschuldigender Weise getan hat; damit wurden die Missbrauchsopfer erneut zutiefst verletzt. „In dieser Stunde der Kirche“ (Julius Kardinal Döpfner) sind nicht Selbstverteidigung und Selbstgerechtigkeit angebracht, sondern Scham und Erschütterung, Betroffenheit und Reue. Und deshalb habe ich meine Zweifel, dass über die Aufklärung der Missbrauchsfälle hinaus die Kirche sich bewegen wird. Irgendwie zeigt dies auch der Brief von Benedikt XVI. an die Katholiken in Irland, in dem er die Wurzel des Übels in der Verflachung der Sitten und in der Säkularisierung sieht. Innerhalb der Kirche hätte eine falsch verstandene Toleranz nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in die Irre geführt. Sicherlich gab es nach dem Konzil in der Kirche verschiedene Irrungen und Wirrungen, die man nicht akzeptieren kann, aber man kann angesichts auch der tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen jener Jahre nicht so einfachhin in den Raum stellen, dass manches, was das Konzil auslöste, wie z. B. mit dem kirchlichen Strafrecht milde umzugehen, eine „verfehlte Tendenz“ darstellt. So kann nur der Sohn eines Polizisten und ein früherer Glaubenswächter schreiben.

Wenn auf diese Weise argumentiert und sogar dazu noch das letzte Konzil instrumentalisiert wird, dann besteht wenig Hoffnung zu der Erkenntnis, dass die Missbrauchsfälle, diese Verbrechen an jungen Menschen, die deren Seelen psychisch oft für ihr ganzes Leben verwüstet und ruiniert haben, nicht einfach eine unerwartete Häufung von Einzelverfehlungen darstellen, sondern strukturelle Ursachen haben. Es sind systemische Gründe, die zu diesem Desaster geführt haben. Und unsere Kirche bleibt so lange in dieser Systemkrise, als sie sich der Frage nach den Fehlern im System verweigert. Gerade dies fürchte ich sehr! In einem Beitrag für die FAZ räumte Karl Kardinal Lehmann ein, „dass die Kirche nüchtern bedenken müsse, inwieweit die priesterliche Lebensform in höherem Maß pädophil veranlagte Männer anziehen könne“. Des weiteren besteht in der gegenwärtigen Kirche zudem „die Gefahr einer kleinen elitären - und man muss es schon sagen - neu hochmütigen Priesterkaste, die weltfremd wird, ins Ghetto abwandert und sich so selbst marginalisiert. Der Klerus hat längst etwas eigenartig Männerbündisches, was bisweilen homophile Stile anzieht und fördert“ (Stefan Kiechle SJ). Im letzten Jahrhundert gab es in der Kirche lange Jahrzehnte die Priesterdonnerstage bzw. Priestersamstage, an denen mit Messfeiern und Gebetsgottesdiensten der Himmel bestürmt wurde, Gott möge doch viele Berufungen zum Priester- und Ordensstand schenken. Doch Gott hat all diese Gebete nicht in dem Maß erhört, wie es sich die frommen Leute erwartet hatten, ja es sind sogar Verbrecher und Übeltäter an Kindern und Jugendlichen in die geistlichen Berufe gekommen. Da muss man dann schon fragen, ob Gott wohl damit der Kirche ein deutliches Zeichen geben möchte, „an die Bücher zu gehen“? Sicher ist damit nicht gemeint, dass die Gemeinden, wie in der Diözese Passau, vier Wochen lang rund um die Uhr um Priesterberufe beten sollen. Beten absolut ja, aber das Passauer Beispiel mit ichbezogenen „Priestergebeten“ ist in meinen Augen blinder, weltfremder und einfältiger Aktionismus, weit weg von der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils (Communio, Volk Gottes!). Für Kirche und ihr Zeugnis heute ist eine selbstgefällige, arrogante und weltfremde Klerikerkaste Gift und unglaubwürdig. Darum ist für solche Leute, die allem Anschein nach „mit ihrer Sexualität nicht gereift sind“ (Georg Kardinal Sterzinsky) und leider heutzutage viele Priesterseminare bevölkern, die aber auch später als Priester nur für sich und die sie „Anbetenden“ da sein wollen und von daher sich einer missionarisch ausgerichteten Pastoral verweigern, jedes Gebet zu schade. Der unkonventionelle Benediktiner-Abt Martin Werlen von Einsiedeln in der Schweiz hat vor wenigen Jahren in einem sehr bedenkenswerten Interview zum Weltgebetstag für kirchliche Berufe nüchtern gesagt: Alle Lösungsansätze für die Behebung der Krise bei den geistlichen Berufen heute, man müsse nämlich in der Seelsorge mehr machen, oder die Kirche hat schon schwierigere Zeiten überlebt, oder man sucht Sündenböcke, etwa die bösen Medien, oder man muss beten, beten, beten, all dies sind Schlaf- und Beruhigungsmittel und signalisieren Lähmung und Ohnmacht. Als echter Benediktiner sagt Abt Martin, wir müssen wieder auf Gott hören, was er uns in dieser Stunde der Kirche sagt. Das aber bedeutet dann z.B. offen sein für neue Wege, bereit sein, verkrustete Strukturen aufzubrechen und sensibler werden für Gottes Wege, die eben in vielem anders sind als unsere Wege.

All dies müsste zur Folge haben, dass die Verantwortungsträger in der Kirche die systemischen Ursachen angehen, sich schonungslos öffnen und nicht einer Ghetto- und Wagenburgmentalität frönen sowie endlich den Mut fassen, über ihre rigide Sexualmoral gründlich nachzudenken und aus deren Pathologie der Unterdrückung der menschlichen Geschlechtlichkeit den Exodus zu wagen. Zudem muss Kirche anzuerkennen lernen, dass es im menschlichen Leben Brüche geben kann und geben wird, dann wäre auch der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen ein anderer, nämlich ein barmherziger. Und dies bedeutet im Hinblick auf die selbstlose Liebeshingabe Jesu, dass sich in unserer Kirche endlich eine positive Grundhaltung gegenüber Sexualität durchsetzen müsste - im Grunde wirkt eine Jahrhunderte alte Mentalität der Angst vor Sexualität noch immer nach - und dass sich die offizielle Kirche von der Vorstellung verabschieden muss, dass Lust und Erotik gefährliche Tiere sind, die in den Käfig der genauen Vorschriften eingesperrt werden müssen. Kirchliche Sexualmoral sollte eine Kultur der Achtsamkeit vor dem Intimen der körperlichen Liebe pflegen, sich engagiert einsetzen gegen eine Sexualisierung ohne Menschlichkeit, gegen jede Prüderie, aber auch gegen jede Grenzüberschreitung. Dann wird sie auch von psychotherapeutischen Fachleuten wieder ernst genommen.

Doch geht es in diesem Zusammenhang nicht allein um sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche, sondern auch um tiefe körperliche und seelische Verletzungen durch brutale Prügelstrafen, grausame Ohrfeigen und mentale Quälereien. In gewisser Hinsicht bin auch ich ein Betroffener, wenngleich ich die ganzen Jahrzehnte geschwiegen habe und auch jetzt kein Trittbrettfahrer sein will; doch es sitzt heute noch tief. Zum Schuljahr 1949/50 steckten mich meine Eltern in das Gymnasium und Internat der Benediktinerabtei Metten in Niederbayern an der Donau, weil ich zuhause in Nürnberg wegen „interessanterer“ Aktivitäten (z. B. Fußball in der Stadtgrabenliga oder Fahren auf der Dampflok der Schuttbahn) im Gymnasium nichts mehr lernte. Für mich persönlich erwies sich diese Maßnahme als ein gewisser Glücksgriff, da ich schulisch wieder ins Lot kam, soziale Sensibilisierung erfuhr und musisch ungemein gefördert wurde. Allerdings hatten wir in den Monaten bis Weihnachten einen Pater als Internatspräfekten, der ungemein jähzornig und unbeherrscht auf die kleinste Kleinigkeit reagierte und grausam und barbarisch Ohrfeigen verteilte und mit dem Stock z. T. auf das nackte Gesäß schlug. Auch ich erhielt verschiedentlich diese Hiebe, was mich innerlich zutiefst verletzt hat, nicht zuletzt weil ich zum ersten Mal von zuhause weg war. Nach den Weihnachtsferien wollte ich auf keinen Fall mehr nach Metten fahren, weil ich nicht willens war, mich weiterhin versohlen zu lassen. Meine Eltern wandten alle Überredungskünste auf, bis ich schließlich doch wieder fuhr, allerdings mit einem sehr mulmigen Gefühl im Bauch. Als ich dann im Internat ankam, konnte ich zu meiner Überraschung feststellen, dass unsere Klasse einen neuen Präfekten bekam, einen überaus freundlichen und gütigen Pater, der kurz zuvor aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Im Nachhinein allerdings war ich dann sehr enttäuscht, als ich erfuhr, dass dieser Pater in späteren Jahren sich auch zu Wut- und Schlägerorgien hinreißen ließ. Ich persönlich blieb jedenfalls seitdem von körperlichen Züchtigungen verschont, obgleich in anderen Klassen verschiedene Patres weiterhin grob zuschlugen. Sexuelle Übergriffe waren zu unserer Zeit jedoch in Metten kein Thema, sodass wir immer mit Stolz verlautbaren haben lassen, in Metten unser Abitur gemacht zu haben. Als ich jedoch bei einem unserer letzten Klassentreffen in der Predigt beim gemeinsamen Gottesdienst dieses leidige Thema angesprochen habe, kam unmittelbar nachher unser Klassensprecher zu mir in die Sakristei und bedankte sich; denn die Angelegenheit hätte schon länger bei den Klasskameraden „gekrummelt“. Insofern kann ich die Meinung nicht akzeptieren, in den damaligen Jahrzehnten gehörten Watschen und „Überlagen“, auch in Familien, einfach zur Erziehung. Die Würde des jungen Menschen damals war aber die gleiche wie heute! Gerechterweise allerdings darf man nicht vergessen, dass mit Blick auf die damaligen Erziehungsprinzipien wie auch immer große Unterschiede insofern bestanden, als körperlichen Strafen durchaus auch liebevolle Zuwendung gegenüberstand und nicht wahlloser und unbeherrschter Einsatz von Körperstrafen ohne Alternativen vorherrschte.

Und nicht zuletzt deshalb müssen wir uns als Kirche entschieden wehren gegen alle bei uns, ob verantwortlich oder nicht, die alles bagatellisieren und so weitermachen wollen wie bisher. Damit würden diese Leute in unserer Zeit am Kreuzestod Jesu erneut schuldig werden und die Missbrauchsopfer weiterhin demütigen. Nein, wir wollen uns an das Wort des Bamberger Erzbischofs Ludwig Schick in seiner Palmsonntagspredigt halten: „Mehr Christus, weniger Kirche! Mehr Person, weniger Institution!“ Dann werden wir durch Ostern mit dem Gekreuzigten aus dem Grab auferstehen und glaubhaft Zeugnis geben von Seiner abgrundtiefen Liebe und von dem uns von Ihm geschenkten „Leben in Fülle“ (Joh 10, 10).

In der Osterzeit 2O1O

Dr. Karl Schlemmer, Bischöflich Geistlicher Rat


© imprimatur Oktober 2010
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