Die Nachsicht der Kirche von Frankreich

Anfang März wurde ein Priester aus Montpellier seiner Ämter enthoben und in eine Ordensgemeinschaft verbannt, nachdem er gestanden hatte, Bilder mit pädophilem Charakter zu besitzen.

Im Dezember 2009 war der Chorherr der Kathedrale von Sens (Nordfrankreich) vorgeladen und verhört worden wegen sexueller Übergriffe auf einen Jugendlichen unter 16 Jahren; die letzten Vorfälle, die ihm angelastet werden, sollen sich an Weihnachten zugetragen haben. Im Juli, also sechs Monate davor, war der Generalvikar der Kathedrale von Angoulême ebenfalls verhört worden wegen sexueller Übergriffe auf zwei minderjährige Mädchen unter 15 Jahren.

In Frankreich „fallen“ regelmäßig Priester oder Ordensleute „aus“ wegen sexueller Übergriffe. Derzeit sollen rund dreißig Mitglieder des Klerus hinter Schloss und Riegel sein, gegen circa zehn läuft, das besagen interne Quellen der Kirche, ein Verfahren. Die für die Opfer erschütternden Enthüllungen rufen bei den betroffenen Gemeinschaften, einschließlich der Bischöfe, „Verstörtheit“, „Überraschung“, „Ungläubigkeit“ hervor.

Angesichts der Skandale, die seit einigen Monaten den Klerus der europäischen Kirchen erschüttern, leugnet die Kirche von Frankreich „diese Einzelfälle“ nicht, sondern bemüht sich, sie vom statistischen Standpunkt aus herunterzuspielen. Sie sucht auch in ihrer Geschichte, ihrem Leben oder ihrem Überblick Gründe, die sie glauben lässt, auf sie würden nicht Hunderte von Klagen herabprasseln, wie geschehen in Irland, Deutschland, Österreich oder in den Niederlanden wegen oft alter Vorkommnisse.
Leidet die Kirche Frankreichs etwa an dem Krankheitsbild von Tschernobyl, als die Giftwolke aus der Ukraine an den Grenzen zu Frankreich stehen blieb? Oder gibt es eine französische Besonderheit, die sie vor solchen Skandalen schützen würde? „Man kann annehmen, dass nicht alle Affären aufgedeckt wurden“, meint Stephane Joulain, Priester bei den „Weißen Vätern“ und Familientherapeut, der sowohl Opfer als auch Täter sexueller Missbräuche in der Kirche behandelt. „Ich fürchte mich vor dem was noch kommt. Bis vor kurzem war es üblich, die schmutzige Wäsche in der Familie zu waschen. Die Frage stellt sich heute, wie man sie wusch“, meint seinerseits der Religionssoziologe Jean-Louis Schlegel. „Seit den 1990er Jahren wurden viele Affären ans Tageslicht gebracht, aber neue Fälle lauern vielleicht noch“, urteilt zurückhaltend der Bischof von Soissons und frühere Beauftragte des Nationalrates für die Priesterseminare, Bischof Herve Giraud. Der 38-jährige Gilles T., in den 1980er Jahren Opfer eines Priesters aus der Vendee, der 1999 zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt wurde wegen sexueller Gewalt gegen Minderjährige, verweist auf seine „innere Überzeugung“ und den „Pakt des Schweigens“, die er in der Institution (= Kirche) hautnah erleben konnte. „Es muss einen Durchbruch geben, es ist noch nicht alles gesagt worden. Der französische Episkopat beschränkt sich darauf, einzelne Fälle einzugestehen, aber nie die Verantwortlichkeit der Institution einzuräumen wie in Irland oder den USA.“

Das französische Umfeld, das durch die starke Entchristlichung geprägt ist, zeigt wirkliche Besonderheiten. Durch die Gesetze von 1904, die den religiösen Gemeinschaften jegliche Tätigkeit in der Erziehung untersagte und das Gesetz von 1905, das die Trennung von Kirche und Staat brachte, wurden der Einfluss der katholischen Einrichtungen und die Allmacht der Kirche beschnitten. „Die Erziehungseinrichtungen haben wahrscheinlich weniger Einfluss auf das tägliche Leben unserer Gesellschaft als das in anderen westlichen Gesellschaften wohl der Fall war. Sie waren noch offener“, betont Mgr. Antoine Herouard, der Generalsekretär der französischen Bischofskonferenz.

„Für die Weltlichkeit (laicite) französischer Ausprägung ist ein kritischer Blick auf das Religiöse und eine gesellschaftliche und staatliche Aufsicht über die Kirche typisch“ sagt der Religionssoziologe Olivier Bobineau. „Damit dass der Klerus seinen heiligen Charakter verlor, hat er auch seine Autorität und seine Macht, einschließlich seiner sexuellen, verloren.“ Diese französische Besonderheit ist allerdings zweischneidig, das jedenfalls meint der Fachmann für Religionen an der Ecole Pratique für Hochschulstudien (EPHE) Philippe Portier. „Wenn es bisher noch keine Wellen von massiven Beschuldigungen gab, dann deshalb weil es in Frankreich wegen der ausgeprägten Verweltlichung keine aktive Protestbewegung innerhalb der Kirche gibt.“

Ansonsten ging das Leben in den katholischen Internaten ebenso wie in den Vorschulen der Priesterseminare (petits séminaires), die bis in die 1970er Jahre die angehenden Priester aufnahmen, weiter. „Die Leute, die diese Anstalten besuchten, sagen heute mit einem Schulterzucken: Wir wussten genau, dass man aufpassen musste“, sagt Christine Pedotti, eine Vorständlerin der ‚Konferenz der getauften Christinnen und Christen’, eines Vereins, der der Institution kritisch gegenüber steht. Und erwiesene Fälle sexueller Gewalt gab es nicht nur in schulischen Einrichtungen sondern auch bei Priestern in den Pfarreien.

Eines jedenfalls ist sicher: seit der Erschütterung, die die Verurteilung von Rene Bisson, eines pädophilen Priesters aus Caen, zu 18 Jahren Gefängnis in der Kirche von Frankreich ausgelöst hat und der darauf folgenden Verurteilung seines Bischofs Pierre Pican zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung wegen Nicht-Anzeige in den Jahren 2001 und 2002 hat der französische Episkopat Lehren gezogen, was die Ausbildung (der Priester) und den Umgang mit Affären betrifft. Seit 2000 haben die Bischöfe ihre Vorgehensweise festgelegt: „Priester, die sich Handlungen pädophilen Charakters schuldig gemacht haben, müssen sich dafür vor der (weltlichen, J.M.) Justiz verantworten. Der Bischof will und kann nicht tatenlos bleiben, erst recht darf er verbrecherische Handlungen nicht decken.“ „Die Briefe mit Anzeigen landen nicht mehr im Papierkorb“, versichert Herr Schlegel.

2002 hat die französische Bischofskonferenz eine Broschüre veröffentlicht „Die Pädophilie bekämpfen“, welche immer noch gültig ist. Sie erklärt, was Pädophilie ist, sie informiert über Wege, wie man Gefahrenmomente erkennt, sie zeigt Mittel auf, wie man die Justiz einschaltet, hilft, wenn notwendig, das Gesetz des Schweigens zu brechen.

„Seit langem wird in den französischen Seminaren eine umfassende Bildung erteilt: eine allgemein menschliche, geistige, theologische und seelsorgerliche“, betont auch Mgr Giraud. Nach 2002 hat man das Wissen über Pädophilie, über Knabenliebe und über die Übergriffe auf Jugendliche vertieft. Die Seminaristen haben es schätzen gelernt, dass man Tacheles redet, dass man über die Opfer spricht, ohne gleich ein Klima der allgemeinen Verdächtigung zu erzeugen“, betont der Bischof.

In ihren Vorlesungen werden die zukünftigen Priester angeleitet, unter Führung eines geistlichen Begleiters sich mit den Fragen des Gefühlslebens und der Sexualität zu befassen. Psychologen, Psychiater werden in die Seminare eingeladen. „Einige Ausbilder sagen mir, dass, wenn sie diese Problemkreise ansprechen, Jugendliche ihren Rosenkranz herunterbeten, wie wenn der Leibhaftige selbst sich Zutritt verschafft hätte“, so die Äußerungen des Pater Joulain.

Über diese von den französischen Bischöfen angesprochenen Neuerungen hinaus gilt es auch die Abläufe innerhalb der katholischen Kirche in Frage zu stellen. In der Broschüre der Bischofskonferenz wird Wert darauf gelegt, dass „die Berufsverschwiegenheit“, genauer gesagt das Beichtgeheimnis „kein rechtsfreier Raum sein darf oder ein Vorwand, sich der rechtlichen oder moralischen Verantwortung zu entziehen“ sein darf. Dies war ein notwendiger Hinweis, denn die Theologie des Verzeihens hat manchmal zur Verschleierung von pädophilen Vergehen geführt, die lange vom Klerus als eine (lässliche, J.M.) Sünde oder „eine vorübergehende Verirrung“ betrachtet wurden. „Die katholische Theologie ist geprägt von Umkehr und Reue des Straffälligen. Priester konnten bezüglich des Täters der Misshandlungen zu den Opfern sagen: Gott hat ihm verziehen, Sie werden ihm schließlich auch verzeihen“, drückt es Pater Joulain aus. Diese Haltung, die die Opfer, die außerdem noch oft in der Kirche auf Unverständnis stießen, als grausam empfinden mussten, ändert sich ebenfalls seit einem Jahrzehnt.

Mgr. Giraud betont auch, dass man zugunsten der Kirche sagen muss, dass „nur vier Seminaristen von zehn (die eintreten, J.M.) Priester werden“. Die sechs bis sieben Jahre Ausbildung und „Urteilsfindung“ veranlassen einige, von selbst das Seminar zu verlassen, während andere weggeschickt werden, weil sie psychologisch und gefühlsmäßig nicht geeignet sind. Dennoch, auch dieses System ist weit davon entfernt, dicht zu sein: es kommt vor, dass ein in dieser Diözese zur Weihe nicht zugelassener Seminarist in der Nachbardiözese einen weniger strengen Bischof findet.

In den Augen der französischen Bischöfe ist es „nicht zutreffend“, dass es einen Zusammenhang zwischen Zölibat und Pädophilie, so wie ihn einige ihrer europäischen Kollegen sehen, gibt. „Weder verstärkt der geheiligte Zölibat die Triebe einer seelischen Struktur, die zu sexuellen Missbräuchen neigt, noch mindert er sie“, stellt die Broschüre fest. „Die Lebensweise der Zölibatären kann als Zufluchtsort für Personen herhalten, die eine verbogene seelische Struktur haben“, räumt Mgr. Herouard allerdings ein. Für den Psychologen Jacques Arenes, der zu diesem Problemkreis mit der Kirche zusammengearbeitet hat, „ist es manichäisch (körperfeindlich, J.M.) den Zölibat mit pädophilen Trieben in Zusammenhang zu bringen. Durch eine Art Selbstauswahl wählen allerdings die Menschen, die gefühlsmäßig unreif sind, Berufe, wo sie mit Kindern zusammenkommen, was auch teilweise für Priester zutrifft“. [...]

Le Monde, 25.03.2010; Aus dem Französischen von Josef-j.martin@t-online.de


© imprimatur Oktober 2010
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