Heinz Robert Schlette
Zur Kritik des „philosophischen Selbstmords“ bei Camus*

Am Institut Catholique in Paris widme ich diesen Vortrag dem Andenken an P. Yves de Montcheuil SJ, der 1944 von den Deutschen erschossen wurde. Von ihm lernte ich schon als Student, dass der christliche Glaube ohne Freiheit nicht viel wert ist.

Je öfter ich „Le Mythe de Sisyphe“ lese, desto rätselhafter, schwieriger, unverständlicher wird mir dieses kleine Buch des noch nicht 30-jährigen Camus. Dies gilt insbesondere für die wenigen Sätze des Schlusses, die ebenfalls mit den Worten „Le Mythe de Sisyphe“ überschrieben sind und sich ausdrücklich auf die antike Sisyphos-Figur beziehen. Camus selbst hat dieses Buch unter einen Vorbehalt gestellt, indem er im Vorspruch schrieb:

„Die folgenden Seiten handeln von einem Sinn für das Absurde, wie er in unserem Jahrhundert weit verbreitet ist – nicht von einer Philosophie des Absurden, die unsere Zeit, genauso genommen, nicht kennt.“ Ausdrücklich erklärt er, dass er das Absurde nicht als „Ergebnis“, sondern als „Ausgangspunkt“ versteht und fügt dann noch hinzu: „Man wird es hier mit der Beschreibung eines geistigen Übels im Reinzustand zu tun haben. Keine Metaphysik, kein Glaube werden zunächst damit verbunden. Das sind die Abgrenzungen dieses Buches und seine einzige Stellungnahme. Persönliche Erfahrungen veranlassen mich zu dieser ausdrücklichen Feststellung.“ (rde 90, 1959, mehrere Auflagen, S. 8)

Was also in diesem Buch ist Camus’ Meinung, was bezeugt nur das „geistige Übel im Reinzustand“, das er mit seinen Zeitgenossen teilte, was macht die Bedeutung dieser Schrift aus, die bis heute viele denkende Menschen überall in der Welt beschäftigt und auf jeden Fall eine Gegenwärtigkeit des Absurden bezeugt, dessen Dramatik seit 1942 – ich brauche hier gewiss nicht alle Schändlichkeiten aufzuzählen – zweifellos noch erheblich zugenommen hat? Was bedeutet es schließlich, dass Camus gegen Ende uns mit Sophokles annehmen lässt, „alles“ sei „gut“? Hat gar Camus gegen Ende seines Lebens sich noch weiter vom „Mythe de Sisyphe“ distanziert, bezieht sich seine Bemerkung im Tagebuch von 1959 über seine früheren Irrtümer auch auf „Sisyphe“?

In Anbetracht dieser und anderer Schwierigkeiten, dieses Buch zu interpretieren, beschränke ich mich auf die philosophische und die theologische Problematik, die Camus in dem Abschnitt „Der philosophische Selbstmord“ behandelt (S. 29-46). Dass Camus von der Kritik des philosophischen Selbstmords als eines Sprungs aus dem Absurden heraus später abgerückt ist, halte ich für unwahrscheinlich; meines Wissens gibt es keine Texte, die dieses belegen würden. Auch wenn wegen des erwähnten Vorbehalts nicht definitiv zu beantworten ist, ob und inwieweit Camus selbst die Kritik des „Sprunges“, wie sie in jenem Abschnitt zu lesen ist, teilte und stets beibehalten hat, so bilden seine Aussagen, denen ich mich hier zuwende, doch die entscheidende Grundlage seiner theoretischen Kritik (auch) des Christentums.

Ich möchte im folgenden zeigen, dass diese Kritik Camus’ berechtigt ist. Darüber hinaus möchte ich der Frage nachgehen, ob das, was Camus 1943 im Tagebuch seine „philosophie de préférence“ nannte, nämlich – das ist letztlich gemeint – seine Option für die Vorsokratiker, ebenfalls auf einem Sprung beruht bzw. warum das nicht der Fall ist.

Ich beschreibe zunächst kurz die Position, die Camus in dem Abschnitt über den „philosophischen Selbstmord“ vorträgt. Anfangen zu denken, so sagte er, heiße unterminiert zu werden (vgl. S. 10). Das bedeutet, dass die Warum-Frage, die Frage nach dem Sinn des Ganzen, die irgendwann sich erhebt und die scheinbare Normalität der alltäglichen Abläufe untergräbt, philosophisch nicht zu beantworten ist. Das macht ja Erfahrung und Reflexion des Absurden aus. Nicht die Welt sei absurd, meint Camus, sondern unsere Existenz in einer Welt, die auf unsere Fragen schweigt, aber sehr wohl ihre eigene Schönheit und Faszination hat, so dass Camus sagen konnte: „Mein Reich ist von dieser Welt.“

Wie aber sollen wir auf die Absurdität reagieren? Abgesehen von der Möglichkeit des realen Selbstmords, die für Camus eine Flucht vor der absurden Realität und den durchaus vorhandenen Lebenschancen darstellt, besteht seiner Meinung nach die Möglichkeit einer Flucht aus der absurden Situation in Gestalt eines Sprunges in eine transzendente Realität. Camus nennt als Beispiele für diesen Sprung in die religiös interpretierte Transzendenz Sören Kierkegaard und Leo Schestow (1866 – 1938), jedoch auch Karl Jaspers und selbst Edmund Husserl, obwohl bei diesen beiden der Sprung einen primär philosophischen Charakter hat.

Eine genaue Analyse müsste sich im einzelnen mit den umfangreichen Texten der genannten vier Denker befassen, was mir hier nicht möglich ist. Es sei jedoch erwähnt, dass Camus nur eine begrenzte Kenntnis der Werke dieser Autoren hatte. Aber Camus war ja kein Wissenschaftler oder gar Philologe, sondern ein leidenschaftlich fragender und denkender Mensch, mit besonderer Vorliebe für Metaphern. Es scheint mir daher erlaubt, von manchen Einzelheiten abzusehen und hier nur den Blick auf seine Kritik des Sprunges zu richten. Wenn Camus diesen Gestus des Überschritts von der uns bekannten Welt in eine wie immer gedeutete Transzendenz auch als „philosophischen Selbstmord“ bezeichnet, so spricht er damit die Überzeugung aus, dass Philosophie stets eine Grenze des Wissens einhalten muss und dass sie gerade deshalb rational (und keineswegs irrational) operiert. Das Einhalten dieser Grenze (hier ist Camus durchaus kantianisch, obwohl er das nicht sagt) lässt jede über diese Grenze hinausgehende Aussage als Sprung erscheinen und zwar als rational nicht zu verantwortenden Akt und insofern als „philosophischen Selbstmord“. Die Frage ist nun, ob diese Kritik das Christentum wirklich trifft.

Camus hat hier in der Tat recht. Jedes Christentum, nicht nur das von Kierkegaard und Schestow, ist ein Sprung in die so genannte Transzendenz. Anderenfalls gäbe es keinen Unterschied zwischen Vernunft und Glauben. Ein nahtloser Übergang von Vernunft ins Christentum ist von keiner theologischen oder kirchlichen Instanz je behauptet worden. Bei der theologischen Erörterung dieser Frage wird seit langem das Wort „assensus“ (Zustimmung) verwendet. Somit müssen wir darüber nachdenken, ob es einen Unterschied zwischen Sprung und assensus gibt.

Wenn der existentielle Akt, um den es hier geht, bedeutet, dass es wie gesagt keinen nahtlosen Übergang von der Vernunft ins Christentum (und natürlich auch in andere Religionen) gibt, dann kann es einen essentiellen Unterschied zwischen assensus und Sprung nicht geben, wohl aber kann man fragen, ob die Metapher „Sprung“ vielleicht zu hart oder zu radikal ist oder ob umgekehrt die Rede von der Zustimmung zu weich oder zu harmlos ist. So gesehen, würde es sich nur um ein semantisches Problem handeln.

Aber ganz so einfach verhält es sich nicht, denn man spricht, jedenfalls in der katholischen Theologie, gern von einem blinden Glauben oder dem sog. Fideismus (den man heute auch oft als Fundamentalismus bezeichnet) und von einem motivierten, ja sogar von einem begründeten Glauben, als welchen man dann den assensus interpretiert. Man könnte also vielleicht von einem großen und einem kleinen Sprung sprechen, von einem geradezu blinden und willkürlichen und einem bis zu einem gewissen Grade verantwortbaren und verantworteten Sprung. So bemüht sich ja bekanntlich die theologische Disziplin, die Fundamentaltheologie heißt, um eine so genannte „Glaubensbegründung“. Auf diese breite Problematik kann ich an dieser Stelle nicht eingehen, aber ich möchte hervorheben, dass der Unterschied zwischen Sprung und assensus letztlich nicht aufrechtzuerhalten ist, denn einerseits ist der Sprung niemals völlig blind und unverantwortlich und fehlt andererseits dem assensus niemals das Moment des Überschreitens einer Grenze, das heißt des Grabens zwischen Vernunft und Glauben, zwischen Philosophie und Christentum. Camus’ Kritik des Sprunges ist also berechtigt, auch wenn sich andere für berechtigt halten, diesen Sprung aus der Philosophie, aus dem Rational-Wissbaren heraus zu vollziehen, selbst wenn sie dieses wohl zumeist tun aufgrund von „Hoffnung wider alle Hoffnung“, wie schon Paulus formulierte (Röm 4,18), auf der Basis eines Vertrauens und auf der Suche nach Trost. Da man diese Motive – Hoffnung, Vertrauen, Trost – philosophisch nicht gelten lassen und deshalb sogar mit Camus von „philosophischem Selbstmord“ sprechen kann, bleibt die Möglichkeit bestehen, dass viele diesen Sprung beziehungsweise diesen assensus – nicht zuletzt in Übereinstimmung mit einer langen biblischen und christlich-theologischen Tradition - glauben vollziehen zu dürfen.

Ich möchte das Problem noch verschärfen, da gerade von katholischer Seite die Tendenz besteht, auch bei dem gegenwärtigen Papst, dieses Problem zu entschärfen. Deshalb weise ich sehr kurz noch auf drei Überlegungen hin.

(1) Einer der bedeutendsten deutschen Theologen und Philosophen, auch international bekannt und geschätzt, war Romano Guardini (1885–1968). Besonders bekannt wurde er durch seine Beiträge zur liturgischen Bewegung bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und durch seine kulturkritischen Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg wie zum Beispiel das Buch „Das Ende der Neuzeit. Versuch zur Orientierung“ aus dem Jahr 1950. Durch sein Wirken im Rahmen der katholischen Jugendbewegung Quickborn auf der Burg Rothenfels am Main erreichte er den reformfreundlichen Teil des Katholizismus. Guardini erhielt später hohe Auszeichnungen wie zum Beispiel den Friedenspreis des deutschen Buchhandels (1953) und den Erasmus-Preis (1962).

Am Krankenbett besuchte den alten Guardini sein langjähriger Freund Walter Dirks (1901-1991), der angesehene Publizist, Theologe und Soziologe, dessen Schriften inzwischen in 8 Bänden vorliegen. Walter Dirks berichtete in seinem Nachruf auf Guardini in der „Zeit“ vom 13. Oktober 1968 über diesen Besuch. Ich zitiere daraus die folgenden, bewegenden Sätze:

„Der es erlebt hat, wird es nicht vergessen, was ihm der alte Mann auf dem Krankenlager anvertraute. Er werde sich im letzten Gericht nicht nur fragen lassen, sondern auch selbst fragen; er hoffe in Zuversicht, dass ihm dann der Engel die wahre Antwort nicht versagen werde auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt, die ihm keine ,Theodizee’ und Theologie, auch die eigene nicht, habe beantworten können: Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?“

Dass ein ehrlicher und kluger Mann wie Guardini am Ende seines langen Lebens so sprach, bezeugt den Abgrund zwischen Vernunft und christlichem Glauben, eine Kluft, die nur durch einen Sprung oder einen kühnen assensus überwunden werden kann. Das meinte auch Thomas von Aquin, wenn er sagte: „Credere voluntatis est“ [Glauben ist eine Sache des Willens]. Sehr bedenkenswert sind nach wie vor auch die Überlegungen des deutschen Philosophen Peter Wust (1884-1940), der zu den sogenannten christlichen Existenzphilosophen gezählt wird, in seinem Werk von 1937 mit dem bezeichnenden Titel: „Ungewissheit und Wagnis“.

(2) Henri de Lubac veröffentlichte 1946 ein kleines Buch mit dem Titel „Paradoxes“. Am Ende der Vorbemerkung formulierte er, vermutlich in Anspielung auf Tertullian und andere altkirchliche Autoren, Folgendes:

„Nach den Kirchenvätern ist die Inkarnation das allerhöchste Paradox, parádoxos paradóxon.“ Wenn ein Theologe wie Henri de Lubac an dieses Paradox der Paradoxe erinnert, so kann das für unsere Fragestellung nur bedeuten, dass das Christentum auf einem Sprung beruht. Wer mit Tertullian den Unterschied zwischen Athen und Jerusalem verstanden hat – und Camus kannte nicht nur diese Aussage Tertullians, sondern das ganze Ausmaß der Verschiedenheit von Griechen und Juden, Griechen und Christen -, muss Camus recht geben. Ich belasse es hier bei diesen Hinweisen auf eine Thematik, zu der sehr vieles zu sagen wäre, möchte jedoch noch erwähnen, dass die Polemik Ratzingers gegen die sogenannte „Enthellenisierung“ des Christentums historisch und theologisch sehr bedenklich ist und sogar auf latente Weise einen gewissen Antijudaismus mit sich führt.

(3) Hans Küng, dessen Verdienste ich kenne und schätze, spricht von einem „vernünftigen Vertrauen“, das dem Christentum, aber auch den übrigen Religionen zugrunde liege. Selbst wenn man glaubt, dies historisch aufrecht erhalten zu können, kann ich dem in der heutigen Denksituation nicht folgen. Ich verweise nur auf das Zeugnis eines Mannes wie Jean Améry, der in seinem Auschwitz-Buch beschrieben hat, wie unter den Schlägen der SS ein solches Vertrauen zusammenbricht. Es gibt sehr viele Erfahrungen im Leben, in dieser vallis lacrimarum, die dem Grundvertrauen widersprechen. Hat das nicht bereits Kohelet sagen wollen? Interessanterweise übersetzt der deutsche Exeget Diethelm Michel in seiner Kohelet-Übersetzung das hebräische Wort ebel nicht mit Eitelkeit, vanitas, sondern durchgehend und sich ausdrücklich auf Camus beziehend mit dem Wort „absurd“. Die deutsche Dichterin Hilde Domin hat das Vertrauen „das schwerste ABC“ genannt. Ohne Sprung gibt es offenbar kein Vertrauen.

Abschließend möchte ich die Frage stellen, ob es nicht auch bei Camus selbst so etwas wie einen Sprung oder einen assensus gibt. Diese Frage stellt sich in der Tat, weil man in seinem ganzen Werk jene affirmative Erfahrung der Welt als Kosmos, jene „Ontophilie“, wie Etienne Barillier dies genannt hat, antrifft. Diese seine „philosophie de préférence“, die er ausdrücklich der „philosophie d’évidence“, das heißt einer Philosophie der Absurdität, vorzieht (vgl. Carnets II, 82 f), bedeutet jedoch nicht die Annahme einer Transzendenz, sei sie platonisch oder christlich oder auf andere Weise religiös, und unterscheidet sich insofern von der Art des Sprunges und des assensus, die er im „Sisyphos“ kritisiert. Seine Option für das Leben, die Welt als Natur, die Schönheit, ja das Geheimnis – ein Wort, das er oft verwendet -, beruht auf seiner Erfahrung der mediterranen Landschaft, auf seinem Verständnis der altgriechischen Kosmozentrik sowie in gewissem Masse auch auf dem Einfluss Nietzsches.

Man mag, wenn man will, Camus’ „préférence“ einen assensus nennen, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich nicht um einen Sprung in die Transzendenz handelt. Auch wegen seines frühen Todes wird man auf dieser Ebene besser auf philosophische Etikettierungen verzichten, ganz abgesehen davon, dass es so etwas wie ein System bei Camus nicht gibt.

Im Tagebuch von 1959 findet sich folgende Eintragung: „Derrière la croix, le démon. Laissez-les ensemble. Ton autel vide est ailleurs.“ (Carnets III, 276, vgl. 264; „Hinter dem Kreuz, der Teufel. Lass sie beisammen. Dein leerer Altar steht anderswo.“ (Tagebuch 1951-1959. Reinbek 1991, S. 348, vgl. 333) Wie auch immer diese rätselhafte Formulierung auszulegen ist, Camus folgte seiner eigenen „vocation“ außerhalb des Christentums.

Im Christentum selbst scheint man sich vielfach so sehr an den Glauben gewöhnen zu können, dass man sich des Sprung- oder Assensus-Charakters nicht mehr bewusst ist. Umgekehrt kann es sein, dass man, je deutlicher man sich im Christentum existentiell engagiert, desto klarer auch einsieht, dass das ganze große Gebäude des Christentums einen Sprung bzw. assensus voraussetzt. Dies zu erkennen, hat natürlich erhebliche gesellschaftliche, politische und kulturelle Konsequenzen. Vielleicht gehört auch das zu der vocation Camus’, dass er auf seine Weise die Christen mit dieser ihrer labilen Situation konfrontiert.


© imprimatur Oktober 2010
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*Der Text stellt die deutsche Fassung meines Beitrags zu dem internationalen Kolloquium „Camus – La philosophie et le Christianisme“ dar, das am 15. und 16. März 2010 in der Philosophischen Fakultät des Institut Catholique in Paris stattfand