Karl-Heinz Ohlig
Von Bagdad nach Merw (VI) [1]
Geschichte, rückwärts gelesen

In den letzten Folgen wurde kurz dargelegt, dass es für die Anfänge des Islam keine belastbaren zeitgenössischen Zeugnisse gibt. Der Koran schweigt zu dieser Frage, die ältesten islamischen Schriften, die „Biographien“ Mohammeds, entstammen dem 9. und 10. Jahrhundert. Erst gegen Ende des 8. und im 9. Jahrhundert hat sich der Islam aus der koranischen Bewegung als neue Religion gebildet. Ausdruck und Begründung bieten die neuen Anfangsmythen, die der Islam – vergleichbar dem Vorgehen in anderen Religionen – in seiner Traditionsliteratur geschaffen hat. In den ersten neun Jahrhunderten n.Chr. ist im Vorderen Orient eine Fülle von heiliger Literatur geschaffen worden, mit der verschiedene religiöse Bewegungen ihr Konzept dokumentieren und als normativ festschreiben. In diesem Kontext hat auch die koranische Bewegung ein heiliges Buch, den Koran, hervorgebracht. Der Koran ist in den ältesten Handschriften defektiv geschrieben, so dass dieser rasm kaum lesbar ist. Zudem verweisen Verschreibungen darauf, dass er – wenn auch in arabischer Sprache – in einer mit syrischen Buchstaben geschriebenen Fassung vorlag.

4.3 Der Koran als vorislamische Schrift

Der Koran ist, wie ausgeführt, im 9. Jahrhundert zur kanonischen Schrift des Islam geworden, obwohl er selbst, vor seiner Plene-Schreibung, nicht muslimisch war. Interessant ist, dass neuerdings sogar Angelika Neuwirth, Berlin, erklärt, der Koran sei vor seiner Verwendung als „Gründungstext der islamischen Religion“ ursprünglich „ein noch-nicht-muslimischer Text“ gewesen, „der sich an spätantike Hörer wendet, die Antworten auf Fragen suchen, die sie mit Juden und Christen teilen.“[2] Eine (mehr als verbale) Bekehrung? A. Neuwirth umgeht die Frage, ob die spätantiken Hörer Fragen haben, die sie mit Juden und Christen „teilen“, weil sie eben Christen waren, syrische, also sehr stark vom Alten Testament her geprägte Christen.

Diese Einsicht scheint unabweisbar zu sein, wenn man den Koran liest, wie er ist, ohne eine Vorweginterpretation vom späteren Traditionellen Bericht und dem durch ihn bewirkten Prozess der Uminterpretation bei der Plene-Schreibung her. Für sich betrachtet, bietet er für diese neue Verwendung als Gründungsdokument des Islam keine Stütze; wenn man den Koran vom Anfangsmythos des Islam her liest, wird ihm eine Deutung übergestülpt, die in ihm keine Grundlage hat. Dies soll an einigen wenigen Gesichtspunkten verdeutlicht werden.

4.31 Zur Theologie des Koran

Dem Koran geht es offensichtlich theologisch darum, zentrale Aussagen einer „vornizenischen“ Sonderform des syrisch-persisch inkulturierten Christentums[3] einzuschärfen. Dazu gehören ein unitarischer Monotheismus (gegen eine Binitäts-, an wenigen Stellen gegen eine Trinitätslehre)[4] , eine heilsgeschichtliche Christologie (Jesus ist Messias, Prophet, Gesandter usf. gegen eine „physische“ Gottessohnschaft bzw. eine Zwei-Naturen-Lehre), der Schöpfungsglauben, die Eschatologie, die Bewährungsethik. Zur Begründung dieser Aussagen beruft er sich auf Thora und Evangelium, die richtig auszulegen er für sich beansprucht.

Diese Thesen werden oft – nicht immer – polemisch und in sektiererisch insistierendem Ton vorgetragen und richten sich wohl zunächst vor allem gegen die Entwicklung in der großsyrischen Kirche seit dem Konzil von Seleukia-Ktesiphon im Jahre 410 mit ihrer Anerkennung des Konzils von Nizäa (Lehre vom gleichwesentlichen Sohn Gottes und somit eine Binitätslehre), später auch weiterer „griechischer“ Konzilien.

Obwohl dieser Prozess durch das Weiterwirken des syrischen Denkens abgemildert und mit den Mitteln der „antiochenischen Theologie“ des 4. und 5. Jahrhunderts, vor allem mit Bezug auf die Schriften des Theodor von Mopsuestia (gest. 428) „bewältigt“ wurde, betraf die dadurch entstehende „Hellenisierung“ der syrischen Kirche zentrale Aussagen der koranischen Bewegung. Gelegentlich scheint allerdings auch die Theologie der griechischen Reichskirche oder der Monophysitismus der Ghassaniden angesprochen zu sein.

Für sich betrachtet – und nicht von den späteren Anfangsmythen her – erscheint der Koran als ein Dokument, das die Auffassungen einer christlichen Sondergruppe wiedergibt Diese ist natürlich auch von vielen weiteren Einflüssen geprägt, deren Spuren sich im Koran finden.

4.32 Die Rolle Jesu

Dies wird besonders deutlich in der Rolle des Messias Jesus, wie in der syrischen Theologie „Sohn der Maria“ genannt, im Koran. Auch in diesem für alles Christentum konstitutiven Aspekt, der Mittelpunktstellung Jesu Christi, bleibt der Koran durchweg in den christlichen Rahmenbedingungen. Zwar sieht der Koran ein Prophetentum von Adam und anderen her – durchaus in der Linie syrischer und syrisch-persischer Theologie –, Jesus aber ist der Prophet, Gesandte, Knecht Gottes, der zu Lobende, der Messias; er ist gestorben und auferstanden, er wird wiederkommen.

Im Koran hat der mit „du“ angeredete Namenlose oder auch Prophet wichtige Aufgaben, vor allem die Verkündigung eines schriftgemäßen Glaubens. Der Begriff muhammad wird nur viermal gebraucht. An drei Stellen ist muhammad mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Name eines arabischen Propheten, sondern ein Prädikat Jesu[5]. Nur einmal, in Sure 33,40, scheint der arabische Prophet Mohammed gemeint zu sein – so habe auch ich es bisher gesehen, weil unmittelbar vorher in den Vv. 37-39 von der Heirat mit der Frau seines Nennsohnes[6] berichtet wird. Wenn es sich so verhält, dann wäre in Sure 33,40 der Durchbruch zu einer neuen Religion zu sehen: „Mohammed ist nicht der Vater von (irgend)einem eurer Männer (...). Er ist vielmehr der Gesandte Gottes und das Siegel der Propheten. ...“

„Siegel der Propheten“ ist (spätestens) seit Tertullian (gest. nach 220) ein Titel Jesu[7] , im Manichäismus eine Bezeichnung für Mani[8]. Der Titel besagt, dass in Jesus bzw. Mani oder Mohammed die Prophetie ihren Höhepunkt und Abschluss gefunden hat.

In diesem Fall wäre Sure 33,40 insofern eine Ausnahme, als der ansonsten nicht vorkommende Mohammed bei seiner ersten Erwähnung und in einem einzigen kleinen Satz eine Jesus überbietende Rolle zugewiesen würde. Vieles spricht also auch dafür, diese Passage für eine spätere Interpolation zu halten, die ja die Entstehung einer neuen Religion voraussetzte. Möglich wäre aber auch, dass Vers 40, vielleicht auch die nachfolgenden Vv. 41-43, Einzellogien waren, die bei der Sammlung des Koran mehr zufällig an diese Stelle geraten sind. Dann müssten sie auf Jesus bezogen werden, der auch sonst im Koran der rasul allah ist, und sie fügten sich dann zu den sonstigen Aussagen zur Bedeutung Jesu.

4.33 Der Koran als Schrifterklärung

Der Koran versteht sich als Kommentar, Bekräftigung und Auslegung der Schrift, also, wie er gelegentlich auch sagt, von Thora und Evangelium, somit – wenn man diese Sprachregelung akzeptieren will – als deuterokanonisch. Sowohl seine Gesamtbezeichnung als Koran wie die „Rahmenbegriffe“ Sure und aya (Vers) oder die vielen Suren vorangestellten „geheimnisvollen Buchstaben“ verweisen auf seine Nähe zur syrisch-christlichen Tradition und ihren Umgang und liturgischen Gebrauch heiliger Schriften[9].

Explizit führt der Koran an einer Reihe von Stellen aus, dass er „nur“ die Schrift bestätigen und richtig auslegen will. Sure 5,68 fordert: „Sag: Ihr Leute der Schrift! Ihr entbehrt (...) der Grundlage, solange ihr nicht die Thora und das Evangelium, und was (...) von eurem Herrn (...) zu euch herabgesandt worden ist, haltet.“[10] Ähnliche Forderungen werden auch an anderen Stellen erhoben (vgl. z.B. S. 4,47; 4,136; 5,66; 9,111 usf.). Alle diese Aussagen finden sich den sogenannten medinischen Suren[11] ; wahrscheinlich spiegeln sich in einer späteren Phase der koranischen Tradition schon eher theologische Diskussionen, die solche Sätze hervorgerufen haben.

In dieser späteren koranischen Entwicklung wird auch zunehmend der Koran selbst als wichtiges Buch genannt, das die richtige Schrifterklärung bietet. Sure 3, 3.4 heißt es: „3 Er hat die Schrift mit der Wahrheit auf dich herabgesandt als Bestätigung dessen, was (...) vor dir da war. Er hat auch die Thora und das Evangelium herabgesandt, 4 (...) früher als Rechtleitung für die Menschen.“ Hier ist mit „Schrift“ wohl der Koran gemeint; er soll das, was in Thora und Evangelium steht, bestätigen (ähnlich S. 2,89; 4,136; 5,46.48).

Wenn der Koran, wie in Sure 3,3, „Schrift“ genannt wird, rückt er damit in die Nähe von Thora und Evangelium, wenn er diese auch „nur“ bestätigen soll. Auch Sure 15,1 parallelisiert „die Verse (...) der Schrift und eines deutlichen Koran“, ebenso Sure 9,111, wo Thora, Evangelium und Koran nebeneinander genannt werden. Dies bedeutet, dass die richtige Schrifterklärung im Koran, nachdem er vielleicht schon in größeren Teilen vorlag, selbst einen Zuwachs an Schriftcharakter und Kanonizität gewann (vergleichbar z.B. der wachsenden kanonischen Bedeutung des jüdischen Talmud).

Die große Bedeutung eines richtigen Schriftverständnisses erklärt z.B. Sure 3,19.20: „Als (...) Religion gilt bei Gott der Islam. Und diejenigen, die die Schrift erhalten haben, wurden – in gegenseitiger Auflehnung – erst uneins, nachdem das Wissen zu ihnen gekommen war ... 20 Und wenn sie (...) mit dir (...) streiten, dann sag: ... Wollt ihr jetzt den Islam annehmen?“ Passagen wie diese werden meist als Hinweis auf eine neue Religion, den Islam, verstanden. Din aber kann nicht, wie schon ausgeführt, mit „Religion“ übersetzt werden, und islam bedeutet „Übereinstimmung mit der Schrift“. Hier wird – wohl Christen – vorgeworfen, in Streit über den Inhalt der Schrift geraten zu sein (was ja auch der Realität entspricht), sobald „das Wissen“ zu ihnen kam, also die Offenbarung als Wissen. Offensichtlich haben sich manche dieser Interpretationen von der Schrift entfernt (wie der Koran z.B. in Bezug auf die Gottessohnschaft Jesu oder auf die Trinität aussagt). Als „rechte Glaubenshaltung“, „das Rechte, Wahre“ (din) wird die Übereinstimmung mit der Schrift (islam) eingefordert. Die koranische Bewegung war überzeugt, selbst schriftgemäß zu sein – gegenüber anderen Schriftbesitzern – und dies im Koran zu dokumentieren. Und zwar in deutlicher „arabischer“ Sprache (S. 16,103; vgl. 15,1), wie schon vorher die syrische Bibelübersetzung als „die einfache“ (Peschitta) bezeichnet wurde.

Diese Bezogenheit des Koran auf die Schrift wurde später, nach Etablierung des Islam und des Koran als „Gründungsdokument“, außer Acht gelassen; die These von seiner „Unnachahmlichkeit“ hat verhindert, seine von ihm selbst angegebene Funktion als richtige Schrifterklärung wahrzunehmen.

Schon lange ist bekannt, und es gibt hierzu detaillierte Untersuchungen, dass sich im Koran viel alt- und neutestamentliches sowie biblisch-apokryphes Material findet. Wichtig aber sind neuere Untersuchungen, die an Korantexte wirklich einmal mit exakteren exegetischen Methoden herangehen, was die Islamwissenschaft bisher versäumt hat, und die tiefe Verwobenheit mit dieser Tradition aufzeigen.

Nur ein kleiner Hinweis auf einige Beispiele: So analysiert Bertram Schmitz die Sure 2 „Die Kuh“[12]. Der Verfasser denkt gänzlich vom Traditionellen Bericht her und meint, dass „diese Sure ... auch einen Einblick in den Entstehungsprozess des Islams als eigenständige Religion“ gebe und „am Ende dieser Sure eine neue, absolute Religion vorliege“[13]. Aber er erklärt auch, dass dem Koran „die Vorstellungswelt der biblischen Religionen im Übergang vom 6. zum 7. Jahrhundert“ zugrunde liege, „d.h. die Begriffe sind gemäß dem talmudischen Judentum bzw. dem damaligen Christentum vorauszusetzen.“[14]

In der Einzelexegese zeigt er dann aber auf, dass so gut wie jeder Vers der Sure 2 biblische Bezüge und Assoziationen hat und sich ihrer bedient; schon auf den ersten Seiten verweist er auf die Bücher Genesis, Exodus, die Psalmen, Jesaja, Maleachi, Ijob, auf das Matthäus- und das Johannesevangelium, auf die Apostelgeschichte, den Römerbrief – diese alle werden schon in den ersten Versen der Sure 2 benutzt. Und bei den weiteren Versen der Sure 2 geht es so fort. Bertram Schmitz weist nach, dass diese Sure gänzlich biblische Rede heranzieht und sich mit ihr auseinander setzt. Er begründet seine einleitende These jedenfalls nicht in der Einzelexegese, die etwas ganz anderes nahe legt.

Exegetisch noch differenzierter sind die Arbeiten von Frank van der Velden, obwohl auch er von der Mohammed’schen Herkunft des Koran ausgeht. In einem Aufsatz untersucht er „Stufen der Textentwicklung von Sure 3,33-64“ unter dem Titel „Konvergenztexte syrischer und arabischer Christologie.“[15] Auch er weist auf die Fülle der biblischen Bezüge hin und folgert: „Insbesondere die fachlich-versierte Zusammenfügung der neu- und alttestamentlichen Bezüge zu einem Ganzen im Sinne der Verkündigung des Messiasanspruchs Jesu Christi ist außerhalb der Verfasserschaft durch christliche Theologen schwer vorstellbar.“[16] Für die von ihm untersuchten Texte weicht er also von seiner Voraussetzung einer Verfasserschaft Mohammeds ab. Oder er schreibt: „Die Verfasser verfügten über intime Kenntnisse einer messianischen Christologie, die sich am lukanischen Doppelwerk und zahlreichen alttestamentlichen Bezügen festmacht. Weiterhin war ihnen die syrische Väterexegese (Ephrem) methodisch (heilsgeschichtliche Typologien und midraschartiger Predigtstil, Textpragmatik einer Homilie) und textlich (kanonische Texte und Apokryphen) vertraut.“[17]
Zu ähnlichen Schlüssen kommt F. van der Velden in einem anderen Beitrag „Kotexte im Konvergenzstrang – die Bedeutung textkritischer Varianten und christlicher Bezugstexte für die Redaktion von Sure 61 und Sure 5,110-119“, der m.W. noch nicht veröffentlicht ist.

Diese Beispiele mögen genügen. Deutlich wird: Je präziser und detailreicher eine Koranexegese vorgeht, umso klarer tritt die tief reichende Prägung des Koran durch die Bibel und ihre Apokryphen sowie die ostsyrische Theologie hervor. Was der Koran zum Programm erhebt, nämlich Thora und Evangelium zu bestätigen und richtig auszulegen, führt er im Text im Einzelnen durch. Dies bedeutet natürlich auch umgekehrt: Ohne die Bibel und die ostsyrische Tradition ist der Koran nicht zu verstehen. Man sollte sich an das von ihm in Sure 5,68 formulierte Programm halten: „Ihr entbehrt (...) der Grundlage, solange ihr nicht die Thora und das Evangelium, und was (...) von eurem Herrn (...) zu euch herabgesandt worden ist, haltet“ (in diesem Zusammenhang besser: „beachtet“).

Der Koran besitzt also einen strengen Bezug auf Altes und Neues Testament sowie weiteres biblisches Material, das er offensichtlich auch, wie z.B. die „ersten Blätter der Offenbarung“ oder das Jakobus- oder Thomasevangelium, als „herabgesandt“ ansah; in der syrischen Christenheit waren offensichtlich die Kanongrenzen nicht so definitiv festgelegt wie in der byzantinischen und lateinischen Kirche, die beide sehr feste Amtsstrukturen kannten. Aber es wird deutlich, dass die koranische Schriftauslegung – für die eigene Gruppe – immer wichtiger wurde und schon, selbst innerhalb des Koran, in ihrem Rang in Parallele zu Thora und Evangelium angesiedelt wurde.

Es war schon immer eine Gefahr für das Christentum und auch für theologisch oder konfessionell stark geprägte Bewegungen in ihm, mit der rechten Interpretation, die man zu haben glaubte, die kanonische Geltung der Schrift zu überlagern: Die Glaubensbekenntnisse von Nizäa (325) oder des Ersten Konzils von Konstantinopel (381) konnten leicht zur primären Richtschnur, dann auch der Schriftinterpretation, werden, in ähnlicher Weise z.B. die protestantischen Bekenntnisschriften oder die Beschlüsse des Konzils von Trient. Solange diese faktische Überordnung aber nicht formalisiert wird, bleibt es – wenigstens prinzipiell – bei der christlich-gemeinsamen Basis. Im Koran selbst wird der Schritt zur Formalisierung der eigenen Superiorität nicht gegangen, insofern bleibt er in der Spielbreite christlicher Möglichkeiten. Aber er bietet mit der zunehmenden Nebeneinanderordnung von Thora, Evangelium und Koran die Möglichkeit, unter neuen Bedingungen, wie sie sich gegen Ende des 8. Jahrhunderts allmählich bildeten, die Linien weiter auszuziehen.

4.34 Eine neue Religion?

Dass im Koran von einer neuen Religion, dem Islam, die Rede sei, wird immer wieder behauptet und dafür eine Reihe von Zitaten angeführt. Dabei ist aber zu beachten, dass din eben nicht „Religion“ (im heutigen Sinn) meint, sondern „das Rechte, Wahre“, je nach Kontext in Bezug auf die Glaubensauffassung, die Gesinnung, den Weg, die religiöse Gemeinschaft und ihre Ordnung usf. bedeuten kann.

In Summe lässt sich unter Berücksichtigung aller Stellen, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können (z.B. S. 5,3; 9,33; 10, 106; 48,28; 61,9 usf.), resümieren, dass die Koranleute eben von der Richtigkeit und Vorzüglichkeit und Schriftgemäßheit (islam, vgl. z.B. S. 3, 19.85) ihrer Bewegung, ihres Glaubens und ihrer Gemeinschaft überzeugt waren. Wenn sie ihr Konzept anderen Varianten von Christentum, den Juden oder sonstigen religiösen Bewegungen als den wahren din entgegensetzten, ist damit durchgängig nicht mehr gesagt als konfessionalistische Katholiken, Lutheraner, Reformierte oder sonstige christliche Freikirchen und Sekten von sich im Unterschied zu den anderen behaupten.

Ein Problem scheint auch zu sein, dass Koranübersetzungen in europäische Sprachen von den Vorstellungen bestimmt sind, die die Übersetzer auf Grund ihrer eigenen Geschichte mitbringen (z.B. auch dîn als „Religion“); zudem arbeiten sie mit Rückgriff auf die Erklärungen at-Tabaris, die zu einer Zeit entstanden sind, als der Islam nun wirklich eine neue Religion im heutigen Sinn geworden war. Deswegen kommt oft das, was der Korantext ursprünglich aussagt, nicht zum Tragen.

Ein Beispiel soll Sure 109 sein, von R. Paret folgendermaßen übersetzt: „1 Sag: Ihr Ungläubigen! 2 Ich verehre nicht, was ihr verehrt (w. Ich diene nicht dem, dem ihr dient; dem entsprechend in den folgenden Versen), 3 und ihr verehrt nicht, was ich verehre. 4 Und ich verehre nicht, was ihr (bisher immer) verehrt habt, 5 und ihr verehrt nicht, was ich verehre. 6 ihr habt eure Religion, und ich die meine.“ Das klingt nach einem klaren Bekenntnis zu einer eigenen, vom Christentum getrennten Religion, und das in einer frühen „mekkanischen“ Sure!

Gerd-R. Puin hat in einem Vortrag an der Universität Notre Dame, USA, über das Alif in der Koranschreibung festgestellt – was hier nur verkürzt wiedergegeben werden kann[18]: In vielen semitischen Sprachen sind die beiden Partikel für die Verneinung (lâ) und die positive Bekräftigung (la-) in ihrer schriftlichen Wiedergabe nicht zu unterscheiden und müssen aus dem Kontext erschlossen werden. Im Arabischen wird diese Unterscheidung grundsätzlich gemacht, doch kennt der Koran auch eine orthoepische Schreibung, bei der die Bekräftigungspartikel vor einem folgenden Wort gelängt (also mit Alif geschrieben) wird, wenn dieses mit einem Hiatus (Öffnung der Glottis) beginnt. In Sure 109 ist dies stets der Fall, so dass mit gleichem Recht sowohl die Verneinung („Ich diene nicht …“) als auch die Bekräftigung („Ich diene doch …“) verstanden werden kann – ganz nach dem, was man als den Kontext der Passage ansieht.

Positiv gelesen lautet die Sure demnach: „Ich diene ja doch eben dem, dem ihr dient, und ihr dient doch dem, dem (auch) ich diene. Und ich diene dem, dem (auch) ihr (bisher immer) gedient habt ...“ So übertragen, besagt Sure 109 genau das Gegenteil von dem, was bisher aus ihr herausgelesen wurde: Betont wird die grundsätzliche Gemeinsamkeit des Kultes. Vers 6 fügt dann hinzu: „Ihr habt (aber) euren dîn, und ich den meinen.“ Dîn aber heißt in diesem Fall soviel wie „Weg“, „Glaubensrichtung“ o.ä. Der Sprecher betont also neben der grundsätzlichen Gemeinsamkeit oder sogar der Identität das Recht auf einen besonderen Weg der eigenen Gruppe – so etwa im Sinne einer heutigen christlichen Konfession, die ihre eigene Ausrichtung besitzt.

Zu Gunsten einer solchen Interpretation lassen sich, so Puin, noch andere Verse des Koran deuten, die von Muslimen bisher nur ganz vereinzelt (z.B. von Muhammad Asad) im Sinne einer interreligiösen Toleranz herangezogen wurden (im Folgenden immer in der Übersetzung von Rudi Paret). Sure 5,48: „… Für jeden von euch (die ihr verschiedenen Bekenntnissen angehört) haben wir ein (eigenes) Brauchtum (?) und einen (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er (teilte euch in verschiedene Gemeinschaften auf und) wollte euch (so) in dem was er euch (d.h. jeder Gruppe von euch) (von der Offenbarung) gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten Dingen! Zu Gott werdet ihr (dereinst) allesamt zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, worüber ihr (im Diesseits) uneins waret.“ Oder:

Sure 2,148: „Jeder hat eine Richtung, auf die er eingestellt ist (je nachdem, ob er Jude, Christ oder Muslim ist). Wetteifert nun nach den guten Dingen! Wo immer ihr sein werdet (wenn das Ende über euch kommt), Gott wird euch (am jüngsten Tag) allesamt beibringen. Er hat zu allem die Macht.“

Oder:
Sure 21,92-94: „(92) ,… Dies ist eure Gemeinschaft. Es ist eine einzige Gemeinschaft. Und ich bin euer Herr. Dienet mir!’ (Angesprochen sind vermutlich die Zeitgenossen Jesu) (93) Aber sie fielen in verschiedene Gruppen auseinander (w. sie zerteilten sich in ihrer Angelegenheit untereinander). (Doch) alle kehren (dereinst) zu uns zurück. (94) Und wenn einer handelt, wie es recht ist, und dabei gläubig ist, wird er mit seinem Eifer (dereinst bei Gott) nicht Undank ernten. Wir schreiben ihm (alles) gut.“ Oder:

Sure 23,52-61: „’… Und dies ist eure Gemeinschaft. Es ist eine einzige Gemeinschaft. Und ich bin euer Herr. Mich allein sollt ihr fürchten.’ (53) Und sie fielen in verschiedene Gruppen auseinander mit (verschiedenen) Büchern, wobei jede Gruppe sich (nunmehr in kurzsichtiger Weise) über das freut, was sie (als eigene Lehrmeinung) bei sich hat. (54) Lass sie (d.h. die Ungläubigen) (nur machen! Sie mögen) noch eine Zeitlang in ihrem Abgrund (der Verblendung und Selbstgefälligkeit verharren!) (55) … (61) die sind es, die (im Streben) nach den guten Dingen wetteifern und (den anderen) darin zuvorkommen. …“

Sehr polemisch ist dagegen Sure 19, 104-106, formuliert, die sich aber anscheinend gegen Polytheisten wendet und für unsere Fragestellung beiseite gelassen werden kann. Solange aber die Rolle Jesu und der Bezug zu Altem und Neuem Testament bleiben, bewegen sich alle Gruppen innerhalb der Spielbreite des Christlichen. Immerhin finden sich im Koran noch weitere recht versöhnliche Aussagen zu anderen Schriftbesitzern, also zu Juden, Christen, Sabiern (vgl. z.B. S. 2,62; 3,113.199; 5,69; 22,17) und auch speziell zu den (anderen) Christen (z.B. S. 57,27).

Anzumerken ist allerdings, dass sich im Koran eine Reihe von Aussagen recht unversöhnlicher und auch grausamer Art finden, die nicht einfach in den Rahmen des Christentums passen. Diese Passagen müssen erst noch genauer daraufhin untersucht werden, ob ihre traditionelle Lesung wirklich zutreffend ist. Ebenso müsste über die Möglichkeit nachgedacht werden, ob solche Passagen nicht später im Verlauf der Kopiervorgänge aus anderen Traditionen in den Koran eingeflossen sind. Jedenfalls scheinen sie die grundlegend christliche Struktur des Koran nicht aufheben zu können.

(wird fortgesetzt)


© imprimatur Oktober 2010
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[1]Gekürzter Abdruck des gleichnamigen Beitrags aus:
Markus Groß /Karl-Heinz Ohlig (Hg.), „Vom Koran zum Islam", Hans Schiler Verlag: Berlin 2009.
[2]Angelika Neuwirth in einem Vortrag an der Universität Bamberg (http:www.uni-bamberg.d/dogmatik/die_macht_ des_einen_S–monotheismus_und_gewalt).
[3]Zur Prägung dieses ostsyrischen Christentums vgl. Verf., Das syrische und arabische Christentum und der Koran, a.a.O.
[4]Vgl. Verf., Allah und der christliche Gott. Historisch-theologische und inhaltliche Eigentümlichkeiten, in: Reinhard Göllner (Hg.), Das Ringen um Gott. Gottesbilder im Spannungsfeld von subjektivem Glauben und religiöser Tradition (Theologie im Kontakt, hrsg. im Auftrag der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum von Reinhard Göllner, Bd. 15), Berlin 2008, 95-116
[5]Vgl. vom Verf., Vom muhammad Jesus zum Propheten der Araber, a.a.O. 355-361. Eine Studie zu den von der persischen Tradition geprägten Eigentümlichkeiten wird folgen.
[6]Verf., ebd. 358-360.
[7]Tertullian, Adversus Iudaeos 8,12.
[8]Allerdings ist diese Bezeichnung erst 500 Jahre nach Mani „bisher nur in arabischer Tradition bezeugt“ (so Carsten Colpe, Jesus und die Besiegelung der Prophetie, in: Berliner Theologische Zeitschrift 4, 1987, Heft 1, 14.
[9]Vgl. hierzu Chr. Luxenberg, Die syrische Liturgie und die „geheimnisvollen Buchstaben“ im Koran, a.a.O.
[10]Obwohl die Übersetzung von Rudi Paret gelegentlich sehr problematisch ist, wird sie hier weiterhin benutzt.
[11]Die Unterscheidung zwischen mekkanischen und medinischen Suren geht von der Annahme aus, sie stammten von Mohammed in seiner früheren (Mekka) oder späteren Verkündigungsphase (Medina). Obwohl diese Benennung unhistorisch ist, wird sie der Einfachheit halber beibehalten, weil die beiden Surenarten (wobei sich natürlich in medinischen Suren auch Versgruppen der mekkanischen Prägung finden) sich tatsächlich in vielen Gesichtspunkten unterscheiden.
[12]Bertram Schmitz, Der Koran: Sure 2 „Die Kuh“. Ein religionshistorischer Kommentar, Stuttgart 2009.
[13]B. Schmitz, Der Koran, ebd. 9.
[14]B. Schmitz, Der Koran, ebd. 21.
[15]Frank van der Velden, Konvergenztexte syrischer und arabischer Christologie: Stufen der Textentwicklung von Sure 3,33-64, in: Oriens Christianus (Hefte für die Kunde des christlichen Orients) 91, 2007, 164-203.
[16]F. van der Velden, Konvergenztexte, ebd. 192.
[17]F. van der Velden, Konvergenztexte, ebd. 194.
[18]Gerd-R. Puin, Vowel letters and ortho-epic writing in the Qur’ân, wird in Kürze in den Akten des Symposiums The Qur’an in Its Historical Context, ed. by Gabriel Said Reynolds, London, New York: Routledge veröffentlicht. Dort können die detaillierten philologischen und koranorthographischen Argumente nachgelesen werden.