Edward Schillebeeckx O.P. zum 90. Geburtstag:
„Allmählich erkennbare Grundstruktur meines theologischen Denkens“

Die Redaktion möchte mit diesem Abdruck den Leserinnen und Lesern den inzwischen verstorbenen Edward Schillebeeckx und seinen theologischen Denkansatz noch einmal vermitteln.

„Alle Menschen auf der Welt teilen miteinander jene radikale Kontrasterfahrung dessen, was gegen jede Menschenwürde verstößt, die Empörung gegen die Manifestation von Unrecht und Gewalt und die dahinter verborgene Hoffnung, dass Leben auf der Welt auch anders möglich ist.

Diese Grunderfahrungen verbinden alle Menschen, ob religiös oder humanistisch gesinnt. Gott offenbart sich nicht exklusiv in einer Religion oder Glaubensgemeinschaft. Vier große Metaphern aus der jüdischen und christlichen Tradition geben uns an, in welcher Richtung wir Gottes großen Traum für die Menschheit suchen müssen.“

Fundamentale Kontrasterfahrungen

Hintergrund meines Denkens wie auch von diesem ganzen Buch ist das, was ich in den letzten Jahrzehnten mit immer größerer Klarheit eine radikale Grunderfahrung zu nennen begann. Ich meine hiermit eine Grunderfahrung, die alle Menschen teilen und die, als solche, denn auch vor-religiös ist und deshalb zugänglich für alle Menschen. Es ist die Erfahrung eines Vetos, einer Empörung, die im Menschen hochkommt, wenn er so auf die Welt schaut sie sie faktisch aussieht, mit ihren wiederholten Geschichten von Leiden und Unrecht …

Niemand wird es leugnen: Es gibt auch viele positive Erfahrungen; es gibt viel Gutes und Schönes im Leben, vieles, was wir lebensrecht genießen können.

Es geht keineswegs um das Huldigen eines neuen Dualismus, um eine pessimistische Lebensphilosophie. Ich habe hier keine defätistische Untergangsstimmung im Sinn, oder gar, was noch schlimmer wäre, eine hinterlistige Strategie, welche die Kunst manipuliert, um die moderne Welt so dunkel, so farblos und so dekadent wie nur möglich darzustellen, um schließlich das durch Jesus Christus gebrachte Licht um so heller, um so befreiender und erlösender erscheinen zu lassen und es so desto triumphierender willkommen zu heißen, ein Trick, den christliche Moralprediger des Öfteren hantieren. Ein glaubwürdiger Heiland hat nicht das geringste Bedürfnis an solchen Strategien. Einerseits ist es evident, dass der Anwesenheit von so viel Gutem, Schönem und Sinnvollem konstant widersprochen und es zum Schweigen gebracht wird durch das Böse und Hässliche unter und in uns, durch schreiend sichtbares und latentes Leid, durch Missbrauch von Macht und durch Terror. Es stellt sich heraus, dass diese so frappanten Widersprüche unserer Welt wechselseitig das Böse durch das Gute und das Gute durch das Böse neutralisieren und wegargumentieren. Zyniker sehen es so! Nicht-Zyniker dagegen sehen darin nicht ein Zeichen von Dekadenz einer Gesellschaft, in der nichts mehr existieren würde, das Menschen motiviert zu leben oder das der Mühe wert wäre, um dafür sogar zu sterben. Trotz seines ganzen Elends bleibt der Mensch sich seiner Würde als Mensch bewusst und weigert sich, das Böse auf gleichem Fuße mit dem Guten zu beurteilen und zu bewerten.

Inzwischen bleibt anderseits hingegen unsere Welt eine rätselhafte Mischung von Gut und Böse, von Sinn und Unsinn, von Sünde und Tugendhaftigkeit. Und die Geschichte selber gibt uns keinen einzigen Grund oder kein einziges Motiv, aufgrund dessen wir im Stand wären zu beurteilen, ob das Böse oder das Gute als Endsieger aus dem Kampf erscheinen wird, noch kann sie uns enthüllen, ob man je in einem positiven Sinn, mit einem letzten guten Wort über die Geschichte sprechen kann. Aus der Perspektive der menschlichen Geschichte heraus kann diese Menschengeschichte durchaus misslingen und so jedes letztendlichen, definitiven Sinnes entbehren.

Menschlicher Glaube und unbeirrbare Hoffnung: in der Menschheit schon gegenwärtig als „autonom-menschliche“ Tugenden vor aller Religion

Dessen ungeachtet und darum sagte ich absichtlich „entbehren“: Es gibt dieses unwiderstehliche Veto der Menschen gegen die Inhumanität in unserer Geschichte, es gibt diese hartnäckige und ungebrochene Empörung, solange Unterdrückung und Repression Menschen, Frauen und Männer und sogar Kinder quälen und tödlich verwunden, unterdrücken und foltern. Und dann muss man gut unterscheiden und bekennen, dass auch eine zweite, andere Dimension sich in diesen negativen Kontrasterfahrungen offenbart und in der Empörung von allen, die Unmenschlichkeit erleiden oder geschehen sehen. Diese menschliche Weigerung gegenüber dem Nicht-Humanen, dieser Widerstand gegen alles, was das Mensch-Sein des Menschen verwundet und von daher die menschliche Weigerung, sich mit den Tatsachen abzufinden, öffnet eine positive Perspektive. Diesen zweiten Aspekt in unserer Grunderfahrung möchte ich wie folgt analysieren: Sogar dann, wenn ich mir nicht vorstellen kann, was das Antlitz einer menschlichen Welt sein würde, gibt es die Erfahrung „Jetzt reichts!“ oder „das nie mehr; die Welt und wir selbst müssen uns verändern“.

Aber darin offenbart sich etwas Überraschendes! Dieser menschliche Widerstand gegen das Unmenschliche in unserer Geschichte enthüllt ja eine Offenheit in eine neue Situation, die wohl Recht hat auf unser bedingungsloses Ja. …

Der fundamentale Widerstand des Menschen gegen das Böse enthüllt deshalb ein noch nicht ausgefülltes aber „offenes Ja“, das ebenso unbeirrbar ist wie das menschliche Veto gegen jegliche Unmenschlichkeit: eigentlich hartnäckiger sogar als dieses menschliche „Nein“, weil das „offene Ja“ diesen Widerstand geradezu fundiert, ermöglicht und legitimiert. In diesem Sinne ist die Hoffnung, die in der Menschheit lebt, radikaler als alle negativen Kontrasterfahrungen, die selber Erwartungen des Besseren voraussetzen und die Anwesenheit von Hoffnung in der Menschheit indirekt enthüllen. …

Im englisch-indischen Film Gandhi unter der Regie von Sir Richard Attenborough aus dem Jahre 1982 steht der unbeirrbare Glaube des am 30. Januar 1948 ermordeten Mahatma Gandhis (1869 – 1948) im Zentrum, dass Liebe und Solidarität in der Geschichte letztendlich immer stärker sein werden als Gewalt und Unterdrückung. Und sogar ein anfänglich militanter Atheist wie Jean-Paul Sartre sagte auf seinem Sterbebett, wider alles Böse und Unmenschliche in unserer Geschichte:

„Und trotzdem verharre ich im Glauben an die Menschlichkeit des Menschen.“

Solange Unrecht und Leiden Empörung hervorrufen, lebt in der Menschheit eine unerschütterliche Hoffnung. Das wird im Christentum durch Glauben an das Leben, an die Botschaft, an die Praxis von Jesus von Nazareth und durch das Evangelium von seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung gründlich vertieft bis zur großen frohen Botschaft von Gottes Heilsversprechen für die ganze Menschheit. Es ist darum nicht nur ein Schrei der Hoffnung wider alle Verzweiflung, sondern auch eine Hoffnung, die schon vor der letzten Vollendung gefeiert werden darf, und auch jetzt schon – in der Zeit des irdischen „Noch-Nicht“ – nach einer Feier verlangt.

Rolle der Religionen

Die Geschichte der Religionen bestätigt diese Sicht auf die menschliche Wirklichkeit in der Welt. …

Das immer wieder kritisierte, aber alle Kritik jedes Mal überlebende, menschliche Verlangen nach Heil, Befreiung und Glück enthält darum in unterschiedlichen Gestalten unvermeidlich die Nuance von „Erlösung von“ oder „Befreiung aus“, und gleichzeitig von „Eintreten in“ eine ganz neue Welt. Negative Erfahrungen der Menschheit zeichnen so die positiven Heilsvorstellungen und –erwartungen eines Volkes und das positive Spiegelbild ihrer konkreten Unheilserfahrungen. In seinen Heilsvorstellungen kann man gewissermaßen die Leidensgeschichte eines Volkes nachlesen, auch wenn wir aus andern Quellen die genaue Spur des Leidens nicht mehr nachtrassieren können.

Es gibt noch mehr, dessen man sich in der Geschichte gewahr werden muss. Bei Un-heil, Unrecht und Leiden stellt sich heraus, nach sowohl spontaner wie auch reflektiver Einsicht, dass diese (Erfahrungen) – weder theoretisch noch praktisch – menschlich zu qualifizieren sind: Sie sind theoretisch nicht zu erklären oder innerhalb eines bestimmten Interpretationsrahmens je verständlich zu machen, und ebenso wenig sind sie durch unsere Praxis ohne weiteres zu besiegen oder auszuschalten. Infolgedessen erhielten die vielen in der menschlichen Geschichte entstandenen Heilserwartungen faktisch eine religiöse Dimension. Die Menschheit ging über sich selbst hinaus, um Heil und Befreiung, „auf göttliches Geheiß“ hin zu erwarten. Diejenigen, die an ein alles umfassendes Mysterium glauben - unter vielerlei Namen sprechen sie dann von „Gott“ - , geben ihrer fundamentalen Kontrasterfahrung mit ihrem Aspekt von menschlicher Hoffnung und Erwartung „trotzdem“ und deshalb mit dem menschlichen „cri de coeur“ nach Heil und Befreiung, der darin mitklingt, einen religiösen Inhalt. Das ist nicht zwingend, aber es ist eine sinnvolle menschliche, auch legitime Möglichkeit und in Wirklichkeit auch ein universales Faktum in unserer Menschheitsgeschichte. So werden denn Religionen geboren in unserer Geschichte, in der Menschen nach letztem Sinn suchen inmitten von viel Unsinn. Es zeigt sich, dass Menschen ihre menschlich letztendliche und Stand haltende Lebensbestimmung – tatsächlich eine Angelegenheit der Menschheit selber – nichtsdestotrotz zugleich erleben als eine „Angelegenheit Gottes“: Diese Zwei sind nicht zu trennen und sie stellen uns nicht vor ein Dilemma, bei dem gewählt werden muss. Transzendenz impliziert Immanenz. Es geht um dasselbe, aus zwei verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachtet. Das erste, in der negativen Kontrasterfahrung mitgegebene, noch vage und „offene Ja“ erhält durch die erkannte religiöse Dimension ein lebendiges Relief und enthüllt sogar, „manchmal, für einen Moment“, das Antlitz eines milden und barmherzigen Mysteriums, das nach all unserm Widerstand wider unsere Situation uns auch zur Ergebung an jenes tiefer liegende Mysterium einlädt. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als das, was unsere menschliche Theorie und Praxis in eigene Verwaltung nehmen können!

Jesus spezifischer „Dienst Gottes“

Auch das Erscheinen Jesu ist historisch situiert, so wie alle Religionen das sind. Historisch gesehen war für Juden und Nicht-Juden die Zeit, in der Jesus von Nazareth lebte, eine Zeitperiode, welche von Heilserwartungen aufgebläht war, die in einem Fächer von Heilsvorstellungen ihre Form haben – zusammengestellt aus einer jahrhundertelangen Geschichte von flüchtig erfahrenem Heil und vor allem von vielen unerfüllten Erwartungen und von hartnäckigem Unrecht und Leid. Diese Situation hatte in breiten Kreisen in Klein-Asien sogar eine eigene literarische Gattung und Mentalität ins Leben gerufen: „die Apokalyptik“. Daraus entstand ein fast un-vorstellbares Verlangen, der beklemmenden Unheilssituation, in der Menschen leben, ein für allemal ein Ende zu machen: „Jetzt reichts!“ „Wir haben die Nase voll; es ist Zeit, dass die Welt radikal verändert wird und dass auch das menschliche Herz zu fundamentaler Umkehr kommt.“ Gott selber würde sich darum bemühen, allerdings immer durch Vermittlung von Menschen und ihrer Geschichte. Dies galt von alters her in der Tradition, in der Jesus stand:

„JHWH sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, die Jammerklagen wegen seiner Unterdrücker gehört: ja, ich kenne sein Leiden. Ich steige herab, um mein Volk zu befreien ... um es wegzuführen aus diesem Land zu einem Land, das gut und weit ist, einem Land von Milch und Honig.“ (Exodus 3,7-8).

Letzte Bestimmung der Menschheit

Wiederholt kam ich in meinem Denken zurück zur Frage, was nun das spezifisch Christliche des erwarteten Heils und der erwarteten Befreiung ist. Denn Heil und Erlösung können nicht auf das „Seelenheil“ beschränkt werden, obwohl dies keineswegs wegfällt. …

Was letztendlich das komplette, definitive oder „eschatologische Heil“ von und für den Menschen sein wird, übersteigt unsere rationalen und verifizierbaren Begriffe: Das Undefinierbare des gesuchten und immer (nur) fragmentarisch gefundenen und überdies immer wieder bedrohten „Humanum“ der eschatologischen menschlichen Fülle und Freiheit kann nur in symbolischer Sprache in Worte gefasst werden: in einem Sprechen in Metaphern. Wiederholt habe ich darauf hingewiesen, aber ich will es hier wiederholen:

Vier große Metaphern aus der jüdischen und christlichen Tradition

suggerieren uns, in welcher Richtung Christen suchen müssen, um einigermaßen dahinter zu kommen, was Gottes großer Traum für die Zukunft der Menschheit beinhaltet, so dass die Menschen, Frauen und Männer, letztendlich in Frieden und Glück mit all ihren Mitgeschöpfen schon auf Erden zu leben anfangen würden:

  1. Das definitive Heil oder die radikale Befreiung der Menschheit zu einer brüderlichen oder schwesterlichen Gesellschaft und Lebensgemeinschaft, in der keine Meister-Knecht-Verhältnisse mehr herrschen, Schmerz und Tränen abgewischt sind und in der „Gott alles in allem“ (1 Kor 15,28) sein wird, wird Reich Gottes heißen.
  2. Das vollkommene Heil und Glück der individuellen Person. (In der Bibel sarx, Körper oder Fleisch genannt) innerhalb dieser vollendeten Lebensgemeinschaft nennt die christliche Glaubenstradition „Auferstehung des Leibes“, das ist göttliche Bestätigung der menschlichen Person bis in ihre menschliche Körperlichkeit hinein, Körperlichkeit, welche die sichtbare Orchestrierung ist, die eigene Melodie einer Person, von der auch andere genießen (auch wenn die verherrlichte Körperlichkeit nichts zu tun hat mit der zurückgebliebenen Leiche, hat sie alles zu tun mit der Menschlichkeit und so auch mit der persönlichen Körperlichkeit des Menschen).
  3. Die eschatologische Endvollendung der ungeschundenen für Menschen lebens-notwendigen ökologischen Lebensumwelt wird suggeriert durch die biblische Metapher des neuen Himmels und der neuen Erde. Nicht eine andere Welt (das würde Verachtung und Verwerfung der ursprünglich guten Schöpfung bedeuten), sondern unsere irdische, aus Zerrüttung erlöste Welt – auch wenn ich nicht weiß, wie ich mir das vorstellen muss.
  4. Letztendlich wird die fundamentale, sogar konstitutive Rolle oder Bedeutung Jesu (eines tatsächlichen Menschen irgendwo aus Nazareth), durch Christen bekannt als Christus, im Schon-jetzt-Zustandekommen von Fragmenten des Reiches Gottes und andererseits, auch in der eschatologischen Endvollendung des Reiches, für alle offenbar werden. Dies können wir nur im biblischen Bild des Maranatha (Komm, Herr Jesus) als tiefstem Engagement und Verlangen des Christentums ausdrücken. Dieses eschatologisch, eigentlich in menschlicher Sprache nicht analysierbare Bild der Parusie Jesu Christi wird zwar genährt durch die Erfahrung von und der Erinnerung an das, was Christen jetzt schon, wenn auch mit einer gewissen Hemmung, aber doch gewagt, die Einmaligkeit von Jesus Christus nennen, ohne hierbei einige exklusivistische oder inklusivistische Ansprüche zu äußern im Bezug auf andere Religionen. Was im Christentum Jesu „Parusie“ oder „Wiederkunft“ heißt bei der Erstvollendung des Reiches Gottes, ist eigentlich für alle Menschen himmlische Transparenz der eigentlichen Bedeutung Jesu von Nazareth geworden. Diese letztendliche Einmaligkeit liegt darin, dass Jesus, als Weltenrichter oder Menschensohn, auf Gottes Geheiß das letzte Urteil über unsere Menschheitsgeschichte spricht und dass er, der durch unsere Geschichte am Kreuz Verworfene, für ewig all jenen Recht schaffen wird, welche durch unsere und in unserer Menschengeschichte abgeschoben, gefoltert und ermordet wurden: ihnen ist die Erhöhung zugesagt.

…beginnt schon auf Erden

Aber wollen wir behutsam sein: Es gibt ja keinen Himmel ohne Erde! Jedes Mal wieder machen wir die Erfahrung, dass die Probleme die Welt spalten. Dass sie auch die christlichen Glaubensgemeinschaften spalten. Das bedeutet wohl, dass die vier metaphorischen Visionen der Zukunft, welche Gott für die Menschen bereitet, jetzt schon das Handeln der Gläubigen in der Welt beeinflussen und ausrichten müssen. Diese Metaphern übersetzen die meta-ethische (oder „theologische“ oder mystische) Lebensquelle des ethischen Engagements von Christen in dieser Welt, einen ethischen Einsatz, der selber unmittelbar fundiert ist in der Menschenwürde des Menschen, einem Fundament, an dem auch der Christ genug hat. Diese unantastbare Menschenwürde kann man jedenfalls nicht zusammennehmen mit ihrer Geschaffenheit; für den Christen ist also das autonom-humane Fundament aller Ethik identisch mit dem „weiter auf Gott verweisen“ dieser unantastbaren Menschenwürde, welche durch den Gläubigen dann „Willen Gottes“ genannt werden kann.

Durch die dieser Metaphorik eigene Dynamik richten diese Zukunftsbilder das Handeln von Christen in eine ganz bestimmte Richtung aus: in die Richtung eines menschlichen Handelns für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Integrität der ganzen Schöpfung, was auch eine gesellschaftliche Verbesserung für alle, aber vor allem für die Ausgestoßenen, die stimmlosen und marginalisierten Menschen, für die durch das Leben Geschlagenen, impliziert; in die Richtung eines pastoralen Bemühens um Kommunikation unter Menschen, im Sinne auch einer nie aufhörenden Kritik von Kultur und Gesellschaft, in welcher diese Strukturen Menschen verletzen und überall, wo Unrecht sich unter uns breit macht; in die Richtung auch einer Sorge für den menschlichen Körper und für die psychische, geistliche Gesundheit von Mann und Frau in unserer Gesellschaft; in die Richtung auch unserer verbrannten Erde als Lebensumwelt für alles, was wächst und blüht, zum Leben kommt und atmet. Sorge auch für die Reinheit und Kraft von dem, was man die „göttlichen Tugenden“ nennt: Glaube, Hoffnung und Liebe. Sorge überdies für eine sinnvolle, betende Liturgie und für wahrhaft menschliche, sinnvolle sakramentale Feiern der Glaubensgemeinschaft. Sorge für Spiritualität und Gebetskultur. Und letzten Endes Sorge für die individuelle Seelsorge, im Besonderen im Bezug auf einsame Menschen und „für alle, die keine Hoffnung mehr haben“ (1 Thess 4,13)

Die Frage nach christlicher Identität ist nicht zu trennen von der Frage nach menschlicher Integrität. Überdies kann diese Identitätsfrage nie eine rein theoretische Lösung erhalten. Sie impliziert wesentlich die Frage nach einer spezifisch christlichen Praxis sowohl mystischer oder theologischer wie auch ethisch-praktischer Art, sich ausweitend auf das Terrain der Ökologie und jenes des sozialen und politischen Lebens. Von Gott sprechen erhält seine eigentliche Bedeutung und sein „produktives“ Gewicht erst im Rahmen der Praxis des Reiches Gottes.

Theologie und Spiritualität

Bei aller Wissenschaftlichkeit verlangt Theologie, um tragfähig zu sein, nach einer Spiritualität. Mit „Spiritualität“ meine ich die fundamentale Haltung und Inspiration, mit der ein Mensch sein Leben führt und sich aufrecht hält in unserer menschlichen Geschichte, für die und in der er sich einsetzt. Alles hat darin seinen Bezug auf das „Streben nach Gott“, ein Suchen, welches das Herz der Theologie und auch dieses Buches ist, auch wenn die Fragen und Antworten die kirchliche Politik und das kirchliche Management betreffen. Jedenfalls kann in der römisch-katholischen Kirche dieses Management durch nicht-opportune kanonische Gesetze die großen Zukunftsvisionen, die ich in einzelnen Zügen gezeichnet habe, in ihrer metaphorischen Kraft lähmen. Und dann denke ich an die Mahnung aus dem Buch der Sprüche:

„Wo die Vision fehlt, verwildert das Volk“ (Spr. 24,18). Jemand hat einmal gesagt: „Gott hat in der Geschichte angefangen, als ein Mensch „Gott“ gesagt hat“. Aber ich füge dem hinzu: Gottes Handeln in der Geschichte war diesem menschlichen Sprechen zuvor und lockte dieses Sprechen hervor. In der biblischen Geschichte höre ich Gott gewissermaßen sagen: Geh auf den Weg, Mensch, Frau und Mann, das Werk meiner Hände, das Werk meiner Liebe. Du bist nicht allein, denn ich JHWH bin derjenige, „der für dich sein wird“. Geh auf den Weg und in deinen eigenen Fußspuren auf dem Lebensweg der Geschichte wirst du der Gesichtszüge meiner Liebe gewahr werden.

Sagte das nicht schon der Verfasser des Briefes an die Hebräer (13,5-6a)?

Gott selbst hat gesagt:
Ich lasse euch nicht allein
Ich werde euch nie im Stich lassen.
Darum können wir im Vertrauen sagen:
Der Herr ist mein Helfer, ich brauche
nichts zu fürchten.“

Wir entnehmen diesen Text dem schweizerischen Ökumenischen Forum „Offene Kirche“, Heft 4 (November) 2004, und danken für die freundliche Abdruckerlaubnis. Peter Spinatsch hat den Schillebeeckx-Text aus dem Niederländischen übersetzt, er stammt aus Schillebeeckx Buch „Theologisch Testament – notarieel nog niet verleden“ – Theologisches Testament, notariell noch nicht beglaubigt. (1965). Wir haben den Text leicht gekürzt.


© imprimatur Juni 2010
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und schon hat uns Ihre Post erreicht.

Zuerst Ihre Adresse (wir nehmen keine anonyme Post an!!):
Name:

Straße:

PLZ/Ort:

E-Mail-Adresse:

So und jetzt können Sie endlich Ihre Meinung loswerden: