Norbert Reck
Die Stunde der Laien

Dämmert es langsam? Immerhin melden sich nun auch katholische Würdenträger, denen schwant, dass der bisherige kirchliche Umgang mit den Missbrauchsskandalen alles nur schlimmer macht. Während Kindesmisshandlungen auch in anderen Institutionen vorkommen, sind die katholischen Reaktionen längst ein eigener Skandal: die peinlich-penetranten Hinweise auf die Verbrechen der anderen; die Vorbehalte gegen ein umgehendes Einschalten der Staatsanwälte; die allzu billigen Entschuldigungen, die nichts ändern, sondern nur baldige Ruhe bringen sollen; das entsetzliche Gerede, hier finde eine Kampagne gegen die Kirche statt, wo doch nur die Gesellschaft sich endlich für die Geschichten der Opfer interessiert.

Die unerträglich unreife Art des Umgangs mit den Verbrechen in der Kirche ist ein Hinweis auf ein anderes, tieferliegendes Problem: auf die Krise des katholischen Klerus. Diese Krise des katholischen Klerus besteht in einem mittlerweile zutiefst gestörten Verhältnis zu Wahrheit und Ehrlichkeit, dagegen ist George Orwells Horrorvision „1984“ ein Kindergarten. Das Verhältnis zur Wahrheit ist gestört, wo Sexualverbrechen an Kindern vertuscht und die Delinquenten woanders eingesetzt werden, wo man sie noch nicht kennt. Das Verhältnis zur Wahrheit ist gestört, wo erst dann etwas unternommen wird, wenn die Öffentlichkeit von einer Sache Wind bekommt. Das Verhältnis zur Wahrheit ist gestört, wo der Pfarrer im persönlichen Gespräch anders redet als in der Kirche oder mit dem Bischof. Das Verhältnis zur Wahrheit ist gestört, wenn in der Gemeinde bekannt ist, dass der Pfarrer schwul ist oder Frau und Kinder hat, alle aber tunlichst schweigen, um dem geschätzten Pfarrer keine Schwierigkeiten zu bereiten. Das Verhältnis zur Wahrheit ist gestört, wenn die Kirche für uneheliche Kinder des Pfarrers Unterhalt bezahlt, aber die Mütter verpflichtet, über den Vater ihrer Kinder zu schweigen. Der katholische Blick, den man heute in vielen Gemeinden und kirchlichen Organisationen erleben kann, ist der schnelle Blick auf die Anwesenden: Kann man ehrlich reden oder nur halbehrlich oder besser gar nicht?

Es ist klar, dass dieses System aus Angst und Lügen nicht gerade förderlich ist für die Entwicklung der menschlichen Reife, die gebraucht wird, um zum Beispiel mit Missbrauchsopfern anständig umzugehen. Bislang ist noch nicht bekannt geworden, dass einer unserer Bischöfe die Opfer einfach spontan besucht hätte, um zu erfahren, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Der Klerus ist offensichtlich unfähig, mit der Missbrauchskrise umzugehen. Der Klerus ist selbst in der Krise, gefangen in Autoritarismus, Angst und Aufrechterhaltung der Fassade. Das heißt nicht, dass es nicht auch viele tüchtige Pfarrer gibt, die in ihren Gemeinden hervorragend arbeiten. Aber wenn sie beim Bischof sind, können auch sie nicht so offen reden, wie sie mit mir reden würden.

Aus dem klerikalen System heraus lässt diese Krise sich nicht bewältigen. Dies ist die Stunde der Laien. Und es ist eine Hoffnung, dass noch nie so viele Laien in der katholischen Kirche engagiert waren wie heute. Die Laien müssen weniger Angst haben vor den Leuten im Ordinariat. Sie können offen sprechen. Und sie müssen nun handeln – nicht gegen den Klerus, aber für ihre Kirche, wenn sie ihnen noch etwas bedeutet. Die Laien sind es, die jetzt Runde Tische und Wahrheitskommissionen einrichten sollten. Am besten in den katholischen Gemeindehäusern – die werden sowieso von den Laien finanziert. Und dorthin sollten alle eingeladen werden, um
über ihre Lage zu sprechen: die Opfer von Misshandlungen, aber auch die Geschiedenen, die nur heimlich zur Kommunion gehen dürfen, auch die Kinder, die niemandem sagen dürfen, dass ihr Vater ein Pfarrer ist, die Lebenspartnerinnen oder die Lebenspartner von Pfarrern, die lesbischen Pastoralreferentinnen, die schwulen Pfarrer – einfach alle. Es ist höchste Zeit. Und dann wird man entdecken, was Christus meinte, als er sagte: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“

Norbert Reck ist verantwortlicher Redakteur d. deutschen Ausgabe von CONCILIUM.


© imprimatur Juni 2010
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