Daniel Bogner
Überlegenes Christentum, aggressiver Islam? Die Menschenrechte als Stachel jeder Religion

Die Religion ist zurück auf der politischen Bühne: Spätestens mit dem Streit um die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Tageszeitung und seit der Regensburger Rede des Papstes mit dessen Äußerungen zum Thema „Islam und Gewalt“ ist dies offenkundig. Auf der Tagesordnung steht die Frage, wie die Religionen zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen können und ob manche Religionen dafür geeigneter erscheinen als andere. In vielen europäischen Staaten finden Debatten zu besseren Methoden der Integration von Ausländerinnen und Ausländern statt. Jede Gesellschaft hat dabei ihre eigenen Traditionen, immer wieder aber taucht die Frage auf, welchen Platz die Religion im öffentlichen Leben spielen soll – oder darf.

Über eine Tatsache sollten sich alle, die an der Diskussion beteiligt sind, klar sein: Eine solche Auseinandersetzung wird an jedem Ort der Welt anders angegangen. Denn die Frage, welche kulturellen und religiösen Prägungen eine Gesellschaft mitbringt, ist von großer Bedeutung für solche Verständigungen. Europa wurde über lange Zeit hinweg durch das Christentum geprägt. Darum ist es ganz selbstverständlich, dass die christliche Religion tief ins kollektive Gedächtnis der Europäer eingedrungen ist. Vielen Menschen, auch solchen, die sich nicht als religiös bezeichnen, sind christliche Traditionen und Begriffe vertraut. Sie sind groß geworden in dem Bewusstsein, dass das Christentum irgendwie nach Europa „gehört“ und hier auch eine Daseinsberechtigung hat – selbst wenn mittlerweile längst nicht mehr so viele Menschen aktive Christen sind wie früher. Leider folgt aus dieser manchmal unreflektiert, manchmal programmatisch vorgetragenen Annahme oft genug ein tragischer Umkehrschluss: dass nämlich andere Religionen hier keine natürliche Heimat finden können und allenfalls im Gaststatus ertragbar sind[1]. Vergessen wird dabei, dass es ein Menschenrecht ist, religiös zu sein und seine Religion zu praktizieren, unabhängig von den ethnischen oder kulturellen Wurzeln dieser Religion und ohne Rücksicht darauf, ob sie in der Gesellschaft Mehrheit oder Minderheit ist.

Wo neue Probleme auftauchen, beispielsweise mit Fällen von Ehrenmorden oder Zwangsverheiratungen in islamisch geprägten Auswanderermilieus in Deutschland, wandert der Schuldvorwurf schnell an die fremd erscheinende Religion. Plötzlich ist der Islam eine unterdrückerische Religion, und das Christentum steht als die Friedensreligion par excellence dar. Personen werden zu Verteidigern des christlichen Erbes Europas, die bislang als überzeugte Säkularisten galten. Dabei fordern gerade die oben genannten Fälle grober Menschenrechtsverletzungen, von denen muslimische oder ehemals muslimische Autorinnen wie Ayaan Hirsi Ali[2], Necla Kelek[3] oder Seyran Ates[4] berichten, nach genauer Prüfung: Um die gesellschaftliche und politische Aufgabe, die sich stellt, genau benennen zu können, muss präzise benannt werden, an welcher Stelle die Religion ins Spiel kommt – oder auch nicht; inwieweit Kultur und Religion miteinander verwechselt werden oder aber ein gefährliches Amalgam eingehen; wo vielleicht durch ein bewusstes Ernstnehmen religiöser Leitlinien sogar kritisch auf Gewalt- und Unrechtszusammenhänge eingewirkt werden kann.

Die Behauptung vom Kampf der Kulturen, in dem sich die „westliche Welt“ gegenwärtig befinde und dem Block einer „islamischen Welt“ gegenüber stehe, ist nicht nur eine politische oder soziologische Frage. Mit welcher Berechtigung so gesprochen werden kann, lässt sich erst beantworten, wenn auch eine theologische Perspektive berücksichtigt wird – schließlich meint man mit den kämpfenden Kulturen in erster Linie ja religiös definierte oder zumindest religiös geprägte „Kulturkreise“. Gegen die unbedarfte Gleichsetzung von Religion und Kultur ist aber entschieden zu protestieren: Damit geschieht den Ansprüchen einer Religion und deren Gläubigen Unrecht. Aber auch die genaue Analyse der Gründe für den Terrorismus wird so verhindert. Der Begriff der Kultur ist immer ein weiter greifender als derjenige der Religion. Er droht aber auch schnell ins Schwammige und Vage abzudriften: Die kulturelle Gestalt einer Zeit oder Gesellschaft umfasst zu einem wesentlichen Teil natürlich auch religiöse Ausdrucksformen. Zur Kultur Europas beispielsweise gehört selbstverständlich sein christliches Erbe, das es grundlegend geprägt hat. Dennoch sind Religion und Kultur nicht identisch: Während das Kriterium für die „Wahrhaftigkeit“ einer Religion stets der Bezug zwischen deren legitimierenden Quellen (heilige Schriften, deren authentische Auslegung, Tradition) und ihrer Praxis ist, kann man Gleiches für die Kultur nicht sagen. Die Wahrheitsfrage taucht in ihr nicht auf, „Kultur“ ist deswegen ein viel weiter gefasstes Konzept, das im Laufe der Geschichte mitunter großen Verschiebungen ausgesetzt sein kann.

Wie eignet sich eine bestimmte Religion die Kultur, mit der sie es zu tun hat, an? Was macht sie aus ihr? So wie die christliche Religion in der europäischen Kultur eine andere Gestalt angenommen hat als beispielsweise in der asiatischen, verhält es sich auch mit dem Islam: Der arabisch geprägte Islam kann mit dem Islam, wie er in Indonesien gelebt wird, nicht ohne weiteres verglichen werden. Für die „Friedfertigkeit“ einer Religion, so kann man daraus schließen, ist der mentale und kulturelle Kontext ausschlaggebend, in dem sie gelebt und von dem sie geprägt wird. Religionen gehen immer eine Verbindung mit lokalen Kulturen und Traditionen ein. Sie werden von den Menschen erst dann angenommen und praktiziert, wenn diese Verbindung, die auch Inkulturation genannt wird, gelingt. Das Christentum ist in vielen Regionen der Erde immer noch dabei, dies zu lernen. Es steht dabei in einer inneren Spannung zwischen seinem unaufgebbaren thematischen Kern, seiner biblischen Botschaft, und der Frage, wie diese Botschaft nun am besten in den Gewohnheiten, der Sprache und den Gedanken einer bestimmten Kultur ausgedrückt und gelebt werden kann.

Kultur und Religion können trotz – oder wegen – ihrer notwendigen Verbindung voneinander unterschieden werden. Um die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen und Gewalt identifizieren zu können, müssen sie unterschieden werden. Dann kann sichtbar werden, ob eine bestimmte religiöse Botschaft selbst schuld ist an solchem Unrecht, oder ob nicht vielleicht viel ältere kulturelle Muster Grund dafür sind. Zu kritisieren ist dann beispielsweise die patriarchale Kultur in ländlichen Regionen der Türkei oder vielen Regionen in der arabischen Welt, in denen Frauen nicht in der gleichen Weise am gesellschaftlichen Leben teilhaben können wie Männer. Unterdrückung und Unfreiheit werden vielfach kulturell vererbt und es wäre falsch, den Islam oder eine andere Religion dafür verantwortlich zu machen. Aber umgekehrt müssen sich die Religionen die Frage gefallen lassen, wie sie an der Bekämpfung dieser Unfreiheit mitwirken. Sind sie wach genug, kulturelle Muster der Unterdrückung zu kritisieren und die Menschen zu ermutigen, sich gegen freiheits-beschneidende Traditionen, die oft tief im Volk verwurzelt sind, zur Wehr zu setzen?

Es ist falsch, von „der islamischen Welt“ zu reden – wie es auch falsch ist, „den Westen“ pauschal als „christlich“ zu bezeichnen. Hier wie dort gibt es ganz unterschiedliche Ausprägungen der Religion, tolerante und weniger tolerante. In beiden Fällen gilt: Die Religion ist nicht davor gefeit, aus bestimmten Herrschafts- oder Machtinteressen heraus missbraucht zu werden, um diesen Interessen einen hehren, metaphysisch begründeten Anstrich zu verleihen[5]. Gerade aus den Religionen kann aber auch die Kraft kommen, um verengende Traditionen zu kritisieren und kulturelle Tabus zu brechen. Dies geschieht, wenn sich die katholischen Bischöfe Äthiopiens und Eritreas gegen die Praxis der Zwangsbeschneidung von Frauen aussprechen und im Namen der Freiheitsbotschaft des Evangeliums als unchristlich brandmarken. Ebenso kultur-kritisch äußern sich auch islamische Gelehrte, wenn sie die Praxis der Zwangsverheiratung als nicht vereinbar mit dem muslimischen Glauben verurteilen. Ein Extremfall, der kaum zum Bereich der Kultur oder Tradition gezählt werden kann, bildet die Praxis der Selbstmordattentäter, die sich als fromme Gotteskrieger ausgeben. Mittlerweile haben wichtige muslimische Geistliche in aller Klarheit festgestellt, dass solch mörderisches Handeln keinerlei Legitimation aus einem recht verstandenen Islam beziehen darf.

Es ist richtig, dass gegenwärtig wohl häufiger der Islam als eine andere Religion zur Begründung und Rechtfertigung von Gewalt und Brutalität herangezogen wird.
Aber was lässt sich daraus ableiten? Ist es legitim, vom friedfertigen Wesen des Christentums zu sprechen, und daraus eine Überlegenheit gegenüber anderen Religionen abzuleiten? Wohl kaum! Denn spät, beinahe zu spät kam die Wende der katholischen Kirche zu den Menschenrechten. Erst mit der Konzilserklärung „Dignitatis humanae“ aus dem Jahr 1965 akzeptierte sie deren universalen Anspruch und erklärte sie für vereinbar mit dem christlichen Glauben.

Der Blick auf die Geschichte zeigt, welch langen Weg das Christentum selbst beschreiten musste, um ein gereinigtes Verhältnis zu Gewalt und Unrecht zu bekommen: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, die anfängliche Vernachlässigung der sozialen Frage, die lange Allianz kirchlicher Führer mit der weltlichen Herrschaft, kirchliches Mitwirken bei kolonialistischer Unterdrückung, die mangelnde Wertschätzung und Beteiligung von Frauen im Wirken der Kirche, die oft von Ablehnung und Geringschätzung gezeichnete Haltung religiöser Instanzen gegenüber homosexuellen Menschen – die Liste, mit der sich Verfehlungen, Gewalt und Unrecht aus der christlichen Tradition aufzählen ließen, spricht eine traurige Sprache und ließe sich verlängern. Es ist deshalb vermessen und falsch, das Christentum a priori als Friedensreligion hinzustellen. Engagierte Gläubige und christliche Gruppen mussten den friedens- und menschenfreundlichen Kern ihrer Botschaft immer wieder neu entdecken und ausgraben. In langen und mühsamen Prozessen haben sich die großen christlichen Kirchen schließlich dazu durchgerungen, Gewalt und Zwangsausübung entschieden abzulehnen und dies auch programmatisch festzuhalten. Jede Geste der Überlegenheit anderen Religionen und Weltanschauungen gegenüber verbietet sich also.

In der aktuellen Diskussion wird zu wenig unterschieden zwischen Islam, Islamismus und islamistisch beeinflusstem Terrorismus. Zu oft wird das eine mit dem anderen vermengt. An den Stammtischen in Deutschland hat die Islamophobie längst die „klassische“ Ausländerfeindlichkeit abgelöst. Weil damit die Religion ins Spiel kommt, sind die christlichen Kirchen auf den Plan gerufen: Ihnen kommt in der gegenwärtigen Situation die Aufgabe der Differenzierung und Wachsamkeit zu. Als gesellschaftliche Großinstanzen für den Umgang mit dem Absoluten haben sie eine herausgehobene Rolle dafür, die Instrumentalisierung und den Missbrauch von Religion anzuzeigen. Sie können mehr als das Bundesinnenministerium, der Verfassungsschutz oder auch die politischen Stiftungen darauf aufmerksam machen, wenn in der Öffentlichkeit ein falsches Bild bezüglich „des“ Islam entsteht.

Mehr als andere können Gläubige selbst verdeutlichen, welches öffentliche Handeln Ausdruck authentischen Glaubens ist und an welcher Stelle dieser Glaube von anderen Instanzen vereinnahmt und instrumentalisiert wird. Durch zahlreiche Dialogversuche und Begegnungen kommen die Kirchen dieser Aufgabe bereits nach[6]. Man sollte aber noch einen Schritt weitergehen: Kommt den Kirchen in Deutschland nicht auch die Aufgabe zu, ausgehend von ihrer eigenen Lerngeschichte zum Verhältnis zwischen Religion und Staat eine Lerngemeinschaft mit den muslimischen Gläubigen anzubieten? Ohne jede Attitüde von Überheblichkeit oder grundsätzlichem Vorsprung ist festzuhalten, dass die Kirchen in Europa zeitlich früher als anderswo lernen mussten, den Staat und die säkulare Öffentlichkeit als unabhängige Größen außerhalb ihrer selbst zu akzeptieren. Der direkte und unmittelbare Zugriff auf die weltliche Macht ist dem Christentum in einer langen und leidvollen Trennungsgeschichte, die bereits im Mittelalter mit dem Investiturstreit begann, verloren gegangen. Seitdem hat es gelernt, mit diesem Verlust umzugehen – insgesamt ist ihm der Verzicht wohl bekommen: Christlicher Glaube verwirklicht sich dort, wo er gerade in seiner Eigenständigkeit eine kritische Instanz gegenüber weltlicher Herrschaft bildet.

Christinnen und Christen können aus dieser langen Lernerfahrung heraus mit Muslimen in einen Dialog treten: Für die ehrliche Verwirklichung des Glaubens an einen absoluten Gott, so der Kern eines solchen Dialogs, kann es auch jenseits einer direkten Verknüpfung von weltlicher und religiöser Macht Wege geben, die wirkungsvoll sind. Mehr noch: Es wäre Gotteslästerung und Kleingläubigkeit, die großen Versprechungen des Glaubens an den im Vergleich dazu doch klein gemünzten Maßnahmen von Politik und staatlicher Ordnung festzumachen. Ein Stück negative Theologie wäre also die Brücke für den Dialog zwischen Christen und Muslimen. „Lerngemeinschaft“ zwischen beiden wäre es zu erfahren, dass Religion immer nach mehr strebt als dem, was in der weltlichen Realität verwirklicht werden kann. Christen sollten das wissen, um sich nicht mit dem Status quo zu schnell abzufinden, Muslime dagegen, um zu sehen, dass es die „reine Religion“ unter weltlichen Bedingungen eben nicht gibt und jede ihrer geschichtlichen Formen immer einen Kompromiss zum Ideal darstellt. „Europa ist eben christlich, und der Islam passt einfach nicht zu uns!“ Diese Äußerung, die man immer wieder unterschwellig hören kann, ist ein Vorurteil. Richtig ist vielmehr: Europa wurde über Jahrhunderte besonders vom Christentum geprägt, europäische Identität ist ohne den christlichen Glauben gar nicht zu verstehen. Aber gerade diese christliche Prägung Europas hat – neben Traditionen wie Humanismus, Renaissance und Aufklärung – mit dafür gesorgt, dass Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlicher Pluralismus entstanden sind: Die Trennung von Kirche und Staat, die Begründung des Staates aus der Würde des Menschen heraus und die Nicht-Identifizierung des Staates mit den Religionen beruht auf grundlegenden, theologischen Überzeugungen der christlichen Kirchen. Religiöse Vielfalt ist deshalb kein Zugeständnis und muss nicht als Verlustgeschehen begriffen werden. Sie ist eine logische Konsequenz aus dem christlichen Erbe Europas.

Religionen sind keine statischen und homogenen Gebilde, nach einer durchgängigen, einheitlichen Struktur gebaut und deshalb auf den ersten Blick von außen verstehbar. Sie zeichnen sich zumeist gerade durch ihre innere Uneinheitlichkeit und Vielfalt aus. Allein der Blick auf das Christentum beweist das: Der nordamerikanische evangelikale Erweckungsprediger mit neokonservativem Politik-Verständnis zählt genauso dazu wie die befreiungstheologisch angehauchte feministische Theologin Tübinger Schule, der niederbayerische Dorfkatholik oder die indische Ordensfrau im Missionseinsatz. Was verbindet sie? Was trennt sie? Wie viel gemeinsame Grundlage ist nötig? Gäbe es – ganz abgesehen vom Sprachproblem – überhaupt Verständigung und Kommunikation zu ihrem Glauben, wenn diese Personen zusammen kämen? Schwer zu sagen. Aber deutlich wird: Die Vielfalt der unterschiedlichen Milieus, Erfahrungshintergründe und Praxisfelder in einer Religion ist so groß, dass schnell Irrtümer aufkommen, wollte man pauschale Urteile darüber abgeben, wie diese oder jene Religion „eben ist“. Entscheidend ist, neben dem überlappenden Konsens aus den verschiedenen Strömungen einer Religion, der vielleicht auszumachen ist, auch die internen Minderheiten in den Blick zu nehmen. Sie geben oftmals am besten Aufschluss über die inneren Fragen und Schwierigkeiten einer Religion, über die Herausforderungen und möglichen Perspektiven für neue Wege in die Zukunft.

Es ist heute längst offenkundig, dass viele der vorherrschenden muslimischen Positionen zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Freiheit mit den Prinzipien einer freiheitlichen Demokratie kaum vereinbar sind. Aber es gibt auch im Islam hoffnungsvolle Ansätze und Aufbrüche aus verkrusteten Denk- und Handlungsmustern. Sowohl muslimische Intellektuelle, als auch Aktivisten und Engagierte in islamischen Gesellschaften sind der Ansicht, dass der Islam sehr wohl mit modernen Freiheitsrechten und Demokratie vereinbar ist. Sie vertreten Positionen, die auf Wandel und Erneuerung setzen und alte Blockaden von innen her aufbrechen wollen. Dabei geht es nicht darum, die religiöse Dimension in den Hintergrund zu drängen oder zu ignorieren, sondern umgekehrt genau darum, aus einer neuen Interpretation des religiösen Erbes Möglichkeiten zum Verständnis und auch zur aktiven Gestaltung der heutigen Wirklichkeit zu gewinnen.

Reformbewegungen im Islam gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Ein wichtiges Kriterium zu deren Bewertung ist die Frage, ob es dabei um eine Islamisierung der Moderne, oder umgekehrt, um die notwendige Modernisierung des Islam geht. Nicht die Ehrenrettung eines bestimmten, mit der Moderne unverträglichen Verständnisses des Islam sollte auf der Tagesordnung stehen, sondern die Überwindung bestimmter Abwehrreflexe gegenüber Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenrechten gerade aus einem gelebten Verständnis muslimischen Glaubens heraus. In der letzten Zeit häufen sich die Bemühungen, solche positiven Aufbrüche auch in der europäischen Öffentlichkeit zu Gehör zu bringen. Besonders gelungen erscheint dies beim deutschen Islamwissenschaftler und Politologen Andreas Jacobs, der in einer übersichtlichen Studie die Themen, Akteure und Methoden des so genannten „Reformislam“ vorstellt[7]. Jacobs zeigt, wie islamische Reformtheologen, etwa der Iraner Mohammed Modschtahed Schabestari, der türkische Intellektuelle Ömer Özsöy oder der syrische Reformdenker Muhammed Shahrur um eine neue Art und Weise der Koranlektüre bemüht sind. Dabei spielen Fragen nach einer möglichen Kontextualisierung des Textes, dem Prozess des Verstehens und der sprachlichen Gestalt des offenbarten Wortes eine wichtige Rolle. Dies sind Themen, die auch in der christlichen Theologie und Exegese der Bibel eine wichtige Rolle spielen. Und auch in der christlich-theologischen Tradition waren solche hermeneutischen Überlegungen zunächst Außenseiterperspektiven, die sich erst allmählich Bahn brechen mussten. Aber sie haben den Weg aus dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm geschafft. Heute ist es breit geteilte Überzeugung und gängige Praxis in den Kirchen, dass die in ganz anderen Zeiten und Umgebungen entstandenen biblischen Schriften erst ausgelegt und aktualisiert werden müssen, um auch für die Gegenwart Aussagekraft zu entwickeln.

Ebenso wie zur Frage nach dem angemessenen Umgang mit den heiligen Schriften arbeiten muslimische Theologen und Reformdenker aber auch zu praktischen Fragen wie der Geltung der Scharia im Vergleich zum staatlichen Recht, zur Stellung der Frau, der Forderung nach Gleichberechtigung und zum Wert eines weltanschaulich neutralen Staates und praktizierter Religionsfreiheit. Andreas Jacobs betont zu Recht: Die Protagonisten der islamischen Reformbewegung sind noch eine Minderheit, manchmal erschreckend marginal. Es wäre verfehlt, sie zum „Allheilmittel für Integrationsprobleme“ oder zur „Wunderwaffe gegen den islamistischen Terrorismus“ zu stilisieren[8]. Aber sie zeigen deutlich, dass es innerhalb des Islam Ansätze zur Reform und Kräfte der Erneuerung gibt. Diese Ansätze müssen unterstützt und gefördert werden.

Freilich ist ein Blick allein auf die intellektuelle Auseinandersetzung um ein angemessenes und zeitgemäßes Verständnis des Islam verkürzt. Auch in der gesellschaftlichen Praxis mehrheitlich islamisch geprägter Länder gibt es viele gläubige Musliminnen und Muslime, die sich für politische Regelungen einsetzen, die an den Menschenrechten Maß nehmen: Die Richterin an einem höheren Gericht in Marokko, die sich für eine Modernisierung des Familienrechtes einsetzt und damit Frauen im Fall von Ehestreitigkeiten und Vormundschaftsfragen besser stellen möchte, Aktivistinnen aus der feministisch-muslimischen Bewegung Indonesiens, die mit dem Instrument der Menschenrechte patriarchale Strukturen ihrer Gesellschaft kritisieren und verändern wollen, das Netzwerk „Liberaler Islam“, das in Indonesien um eine inkulturierte asiatische Variante des Islam kämpft, der sich mit Demokratie und Pluralismus verträgt, die vielen Projekte interreligiöser Entwicklungszusammenarbeit in muslimischen Gesellschaften Afrikas, im Senegal und anderswo – diese Beispiele zeigen, wie vielfältig muslimische Gesellschaften sein können und dass jede pauschale Verurteilung einer Religion als ganzer unangebracht ist. Es kommt darauf an, die inneren Reformimpulse stark zu machen und daraus Gesprächspartner zu gewinnen.

Der in der Auseinandersetzung um die bessere Integration von Muslimen in Europa entstandene Gegensatz zwischen „Islam-Kritikern“ und „Islam-Befürwortern“ ist der Integration von Muslimen nicht dienlich. Andreas Jacobs plädiert deshalb dafür, mit diesen Beispielen des Reformislam zu lernen, unseren Blick zu differenzieren und einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen „wegschauend duldender Toleranz und unduldsamer kulturkämpferischer Härte“ im Umgang mit dem Islam zu finden.[9]

„Ist der Islam mit den Menschenrechten vereinbar?“ Die Fragestellung ist falsch. Wie zu sehen, lassen sich genauere Unterscheidungen einfach nicht vermeiden: Die Urtexte der Religionen sind keine Rechtstexte im modernen Sinn. Und ihre Praxis ist oftmals kulturell überprägt. Aber es gibt im Kern vieler Religionen Haftpunkte für die Menschenrechte; mit Hilfe intelligenter Theologie lassen sich Möglichkeiten finden, wie Menschen ihren Glauben und die Ansprüche von Freiheit und Menschenrechten miteinander verbinden können. Natürlich schließt das gar nicht aus, die Moderne aus Sicht der Religion nicht auch zu kritisieren. Im Gegenteil: Religionen erweisen ihre Stärke auch darin, dass sie sich hier und da als unangepasst und widerständig zeigen. Sie müssen nicht jedem neuen Trend folgen. Freiheit und Menschenrechte sind allerdings mehr als ein Trend oder eine Modeerscheinung. Sie sind eine Grundbedingung menschlicher Existenz in Würde und Respekt vor den Mitmenschen. Deshalb geht es auch nicht darum, den Islam verwestlichen zu wollen. Muslimische Reformdenker haben längst erkannt, dass hier viel mehr auf dem Spiel steht: Es geht darum, einen Rahmen zu finden, in dem Menschen, Kulturen und Gesellschaften weltweit friedlich miteinander leben können, in dem sich Einzelne und Gruppen in freier Entscheidung und in der Intensität, in der sie dies wollen, für oder gegen die Religion entscheiden können.

Solche Entscheidungsfreiheit macht jedes religiöse Engagement umso glaubwürdiger. Letztlich könnten die Religionen also davon profitieren, wenn sie ein konstruktives, positives Verhältnis zur menschlichen Freiheit und den Menschenrechten aufbauen. Damit ist eine Herausforderung benannt, die alle angeht, auch die Christen. Menschenrechte sind für jede Religion immer eine Herausforderung. Als Errungenschaft der Moderne sind sie viel jünger als die Religionen. Die historisch und lange Zeit gegen den Willen der Kirche erkämpften Menschenrechte können das praktische Erprobungsfeld dieses Dialoges sein: An ihnen kann die Kirche eine Geschichte ihrer eigenen Schwierigkeiten mit den modernen Freiheitsrechten erzählen. Sie kann aber auch davon zeugen, wie sie letztlich ihrer eigenen Botschaft treu geworden ist, indem sie die Menschenrechte als authentischen Ausdruck des Evangeliums anerkannt hat[10]. Historisch, aber nicht notwendigerweise von der Sache her zuerst in der westlichen Welt diskutiert und formuliert, gibt es mittlerweile auch im Islam Bewegungen und Stimmen, die die Menschenrechte als ein für die Moderne notwendiges Regelwerk anerkennen, das mit dem muslimischen Glauben vereinbar ist und sogar aus ihm heraus begründet werden kann.

Die Menschenrechte bieten sich deshalb als ein Weg an, auf dem Christen und Muslime sich begegnen können: Im Menschenrechtsethos wird deutlich, worin die Herausforderung an jede Religion liegt, die Menschen mit Freiheitsbewusstsein ansprechen will. Weil die Kirche sich in keiner Weise dafür rühmen kann, in der Anerkennung der Menschenrechte besonders weit vorne dabei gewesen zu sein, garantiert ein solcher Weg aber auch, dass sich Christen und Muslime hier auf gleicher Augenhöhe begegnen, nicht der eine sich dem anderen als überlegen fühlt.[11]

Daniel Bogner, Dr. theol. studierte Politikwissenschaft, Theologie und Philosophie in Münster und Fribourg, jetzt Bonn.


© imprimatur April 2010
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[1]Die vom Bundesinnenminister im Herbst 2006 einberufene Deutsche Islamkonferenz stellt ein hoffnungsvolles Signal des Aufbruchs aus solchen Positionen dar.
[2]Vgl. dies., Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen, Piper Verlag: München, 2005. Dies., Mein Leben, meine Freiheit. Autobiografie, Piper Verlag: München, 2006.
[3]Vgl. dies., Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Verlag Kiepenheuer und Witsch: Köln, 2005; ebenso: dies., Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes, Verlag Kiepenheuer und Witsch: Köln, 2006.
[4]Vgl. dies., Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin, Rowohlt Verlag: Berlin, 2003.
[5]Hierzu vgl. Johannes Müller, „Christentum und Islam – ‚Kampf der Kulturen‘? Religionsfreiheit zwischen Anspruch und Wirklichkeit“, in: Stimmen der Zeit 219 (2001), S. 795-806.
[6]Vgl. die Publikation der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Titel: Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland. Eine Handreichung des Rates der EKD, herausgegeben vom Kirchenamt der EKD (EKD Texte Nr. 86). Ebenso: Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Bedrohung Islam? Christen und Muslime in der Bundesrepublik Deutschland, Arbeitsberichte 72, 21996. Sowie: Dies., Miteinander leben. Christen und Muslime in der Bundesrepublik Deutschland, Arbeitsberichte 77, 31999. Vgl. die Arbeitshilfe der Deutschen Bischöfe Christen und Muslime in Deutschland, Arbeitshilfen Nr. 172 (2003), hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn.
[7]Andreas Jacobs, Reformislam. Akteure, Methoden und Themen progressiven Denkens im zeitgenössischen Islam, Arbeitspapier Nr. 155/2006, herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Das Papier kann über die Stiftung bezogen werden und liegt auch in englischer Sprache vor. Das umfangreiche Standardwerk zur Debatte hat die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer vorgelegt: Gottes Staat als Republik, Nomos Verlag: Baden-Baden, 1999.
[8]Vgl. Jacobs, S. 3.
[9]Vgl. Jacobs, S. 23.
[10]Vgl. zusammenfassend: Päpstliche Kommission Justitia et Pax, Die Kirche und die Menschenrechte (Entwicklung und Frieden: Dokumente, Berichte, Meinungen 5), Kaiser/Grünewald: München und Mainz, 1976.
[11]Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, 1998, besonders Kapitel V.: „‚Westliche‘ gegen ‚islamische‘ Menschenrechte? Zur Überwindung kulturalistischer Verengungen in der Menschenrechtsdebatte, S. 115-149.