Erik Borgman
In memoriam Prof. Edward Schillebeeckx (1914 – 2009)

Edward Schillebeeckx war das 6. Kind von vierzehn Kindern seines Vaters Constant und seiner Mutter Johanna Calis. Er erblickte am 12. November 1914 in Antwerpen das Licht der Welt während seine Familie evakuiert war wegen des kürzlich ausgebrochenen Ersten Weltkrieges. Er wuchs in Kortenberg auf, einer alten Stadt im flämischen Brabant, zwischen Löwen und Brüssel, wo sein Vater als amtlich zugelassener Buchhalter für die belgische Regierung arbeitete. Wie viele seiner Brüder wurde auch er an die Jesuitenschule in Turnhout geschickt. Dort erhielt er eine klassische Erziehung auf Französisch, in einem System, das er zu streng empfand. Dieses hielt ihn davon ab, einem älteren Bruder in die Gesellschaft Jesu zu folgen.

Edward wählte die Dominikaner und mit fast zwanzig Jahren wurde er in ihr Haus in Gent aufgenommen. Nach einem Jahr Noviziat verbrachte er drei Jahre in Gent, wo er Philosophie studierte. Während jener Jahre stand er unter dem starken Einfluss von Domien De Petter, dem geistlichen Direktor der Studenten sowie ihrem prominentesten Philosophielehrer, der eine persönliche Synthese der traditionellen Ideen des Thomas von Aquin und der zeitgenössischen phänomenologischen Philosophie verfasst hatte. Er ermutigte Schillebeeckx auf eigene Faust philosophische Forschung zu betreiben. Sein folgender Militärdienst war für ihn, den Ordensmann, überwiegend mit Studien ausgefüllt, die fast fließend in sein vierjähriges Studium der Theologie bei den Dominikanern in Löwen übergingen, vom Zweiten Weltkrieg fast unbehelligt. Nach dem anspornenden Studium der Philosophie in Gent war der formalisierte Zugang zur Theologie, den man in Löwen bot, eine Enttäuschung. Inspiriert wurde er durch zeitgenössische Theologen wie z. B. Karl Adam.

1943 wurde Schillebeeckx vorübergehend Lektor der Theologie im Studienhaus der Dominikaner in Löwen. Sobald die Verhältnisse es erlaubten, schickte man ihn zu Spezialstudien nach Paris. Er besuchte Vorlesungen sowohl im Studienhaus der Dominikaner Le Saulchoir (u. a. bei M.-Dominique Chenu und Yves Congar) sowie an der Sorbonne, der Ecole des Hautes Etudes und dem Collège de France. Hier machte er direkte Bekanntschaft mit dem Nachkriegsexistentialismus, dem (christlichen) Marxismus und der Bewegung der Arbeiterpriester in der französischen Kirche. Zurück in Löwen, wurde Schillebeeckx auf den Lehrstuhl für Dogmatik berufen. Dieser eröffnete ihm die Möglichkeit, einen neuen theologischen Zugang zu entwickeln, sowohl in historischer als auch systematischer Hinsicht, indem er auf dem aufbaute, was er bei De Petter, Chenu und Congar gelernt hatte. Neben seinen extensiven Aufzeichnungen für die Vorlesungen, schrieb er ein Büchlein über Maria und seine Dissertation über die Sakramente; außerdem zahlreiche Artikel auf wissenschaftlicher und populärer Ebene und wurde in Flandern und den Niederlanden sehr bekannt.

Von 1957 bis 1983 war Schillebeeckx´ Leben und seine theologische Entwicklung mit der Theologischen Fakultät in Nijmegen eng verbunden.

Während seiner Zeit in Löwen hatte sich Schillebeeckx einen Namen gemacht als Theologe, der die katholische Tradition nicht als starre unbestreitbare Doktrin verstand, wie zu seiner Zeit üblich, sondern als Ausdruck eines lebendigen Glaubens an einen lebendigen Gott, der verknüpft war mit der konkreten Geschichte der Menschen und ihrer Kultur. Aufgrund seines Hintergrundwissens und seiner umfassenden Studien stand Schillebeeckx in Verbindung mit den fundamentalen Umwälzungen der Nachkriegszeit, besonders in der französischen Theologie. Die Herausforderung damals war, eine neue Verknüpfung zwischen dem katholischen Glauben und der zeitgenössischen Gesellschaft und Kultur herzustellen. Die niederländische katholische Theologie war immer stark auf das kirchliche Leben und die entsprechende Pastoral in den Niederlanden ausgerichtet. Einflussreiche Persönlichkeiten in der niederländischen Kirche und der Universität Nijmegen hielten es für notwendig, sich den umfassenden und internationalen Entwicklungen in der katholischen Kirche anzuschließen. Sie hatten Erfolg, Schillebeeckx von Löwen nach Nijmegen zu bringen. In Löwen konnte er damals als Ordensmann keine Professur an der Universität inne haben. Tatsächlich gelang es Schillebeeckx, ein neues Element, d. h. eine internationale Debatte einzuführen als theologischen Beitrag zu zeitgenössischen Fragen und Problemen.

Besonders würdigte man seine bahnbrechende Sicht der Sakramente, die er in seinem ersten größeren Werk, seiner Dissertation mit dem Titel „De sacramentale heilseconomie“ (1952) entwickelte. In diesem Buch erklärte er, dass die Taufe, die Firmung, die Priesterweihe, die Ehe, die Krankensalbung, das Bußsakrament und besonders die Eucharistie keine mysteriöse, fast magische Rituale seien, sondern Feiern, Ausdruck und Präsentation des christlichen Glaubens in seiner ganzen Fülle. In den fünfziger Jahren sahen viele die Notwendigkeit für eine Erneuerung der katholischen Liturgie, wobei man die wissenschaftliche Arbeit Schillebeeckx´ als einen wichtigen theologischen Beitrag ansah, die diese Erneuerung untermauern könnte.

1958 begann Schillebeeckx auf diesem Hintergrund an der theologischen und anderen Fakultäten seine Lehrtätigkeit in Nijmegen.

Das Zweite Vatikanische Konzil, das so unerwartet am 25. Januar 1959 von Papst Johannes XXIII. ausgerufen wurde, sollte eine bedeutende Auswirkung auf Schillebeeckx Werdegang haben. Bald wurde er intensiv in die Vorbereitungen dieses Konzils eingebunden und sollte der bedeutendste Berater der niederländischen Bischöfe werden. 1960 entwarf er für sie einen Hirtenbrief über die Bedeutung des Konzils, mit dem er international einen ziemlichen Wirbel verursachte und der niederländischen Kirche den Ruf verschaffte, progressiv zu sein.

Die Vorlesungen, die Schillebeeckx zwischen 1963 und 1965 in Rom hielt, in der Zeit, in der das Konzil tatsächlich tagte, brachten ihm internationale Anerkennung. Wegen seiner engen Verbindung mit dem niederländischen Episkopat und seiner diversen Auftritte im niederländischen Fernsehen, sah man in ihm den theologischen Wortführer des niederländischen Katholizismus. Ihm war es zu verdanken, dass die Niederlande im allgemeinen und die theologische Fakultät in Nijmegen im besonderen international als ein Ort, wo man Theologie innovativ und offen auf hohem Niveau praktizierte, bekannt wurde.

Wie andere Theologen, die um eine theologisch-kirchliche Erneuerung rangen, sah auch Schillebeeckx das Konzil anfangs primär als Möglichkeit, aufgrund der Ergebnisse der neueren Theologie Beschlüsse zu fassen. Tatsächlich erwies sich das Konzil als viel mehr als das. Nach Schillebeeckx Aussagen stellte das Konzil ziemlich eindringliche Fragen über die Beziehung zwischen der katholischen Kirche und der heutigen Welt. Die Kirche zeigte sich nicht mehr als getrennt von oder gar im Gegensatz zur Welt. Von jenem Zeitpunkt an war sie mit der Freude und Hoffnung, der Trauer und den Ängsten der Welt eng verbunden. Den Rest seines Lebens entwickelte er eine Theologie, die zu einem solchen Katholizismus passen würde, sogar als der Optimismus der Jahre des Konzils längst verschwunden war.

Schillebeeckx arbeitete ein Leben lang für eine Theologie, die für eine größere Öffentlichkeit Bedeutung hätte. 1960, in der Anfangsphase des Konzils ergriff er die Initiative zur Gründung einer Zeitschrift „Tidschrift voor Theologie“, die Fragen der Zeit mit wissenschaftlicher theologischer Reflexion zu verbinden zum Ziel hatte. 1965 haben auf die Initiative des Verlegers Paul Brand Schillebeeckx und einige andere prominente Konzilstheologen wie Yves Congar, Hans Küng, Johann Baptist Metz und Karl Rahner die internationale theologische Zeitschrift Concilium ins Leben gerufen, um die Debatte weiter zu führen und sich auf die Probleme der Zeit zu konzentrieren, die ein Charakteristikum des Konzils waren. Beide Zeitschriften gibt es bis auf den heutigen Tag.

Die Beziehung zwischen Glauben und Kultur, Kirche und Welt sind immer das zentrale Thema in Schillebeeckx Theologie gewesen. In der Zeit nach dem Konzil suchte er mit „fieberhaftem Antrieb“ (met koortsachtige aandrang), wie er selbst schrieb, nach einer Theologie, die unauflöslich mit der Welt verbunden war. Die Welt jedoch konfrontierte die Kirche mit rasant zunehmender Säkularisierung und anderen radikal-sozialen und kulturellen Veränderungen.

In den siebziger Jahren schrieb Schillebeeckx zwei bahnbrechende Studien über Jesus und seine Bedeutung „Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden“ (1974) und „Christus und die Christen“ (1977). In diesen Büchern zeigt er, dass die wissenschaftlichen und religiösen Betrachtungen der Schriften des Neuen Testaments und der frühen Geschichte der Kirche einander nicht widersprechen. Außerdem zeigt er, dass der christliche Glaube von fundamentaler Bedeutung für die Menschen unserer Zeit sein könnte, um die Welt zu verändern. Schillebeeckx befasste sich sehr mit den unterschiedlichen Formen der kritischen Theorie. Er fühlte sich wesensverwandt mit der „politischen Theologie“ eines Johann Baptist Metz und ebenso mit der Befreiungstheologie von Anfang an. 1979 verlieh die Universität von Nijmegen einen Ehrendoktortitel dem peruanischen Theologen Gustavo Gutiérres, wobei Schillebeeckx die offizielle Rede hielt.

Schillebeeckx engagierte sich weiterhin für innerkirchliche Angelegenheiten. Er schrieb eindringliche und kontroverse theologische Werke über die Organisation der Kirche und besonders über die Interpretation des priesterlichen Amtes „Kirchliches Amt“ (1980) und „Plädoyer für Menschen in der Kirche“ (1985). Als Berater des Episkopats in den sechziger und siebziger Jahren wurde er auch in die Konflikte verwickelt, die die Entwicklungen innerhalb der Kirche und in besonderer Weise innerhalb des niederländischen Katholizismus sowohl auf nationaler als auch auf der Ebene der Universalkirche verursachten. Dreimal musste er sich vor den kirchlichen Autoritäten wegen seiner theologischen Ideen während der post-konziliaren Zeit verantworten. Keine seiner Ansichten wurden jedoch tatsächlich als häretisch erklärt, aber viele, die sich in seinen Ansichten wiedererkannten, waren schockiert von der Aura des Misstrauens, die auf seinem Werk lag. Schillebeeckx fühlte sich missverstanden, aber es führte nie zu Feindseligkeiten gegenüber der institutionellen Kirche.

Zahlreiche Ehrendoktortitel und andere Auszeichnungen wogen die innerkirchliche Kritik auf. 1982 verlieh Prinz Bernhard der Niederlande Schillebeeckx den renommierten Erasmuspreis.

Seit seiner Emeritierung 1983 bis kurz vor seinem Tod blieb Schillebeeckx theologisch aktiv. Nach der Publikation von „Menschen. Die Geschichte Gottes“ (1989), mit der er die geplante christologische Trilogie, 15 Jahre nach Erscheinen des ersten Teils abrundete, machte er Pläne, die Hauptstudie über die theologische Bedeutung der Liturgie und der Sakramente neu zu schreiben, bereits Thema seiner Doktorarbeit. Im Jahr 2000 überraschte er alle mit einem Artikel in Tijdsschrift voor Theologie, in dem er die jüngsten Entwicklungen in der Anthropologie und der „Ritual Studies“ ansprach. Der Text war gefärbt durch das glückliche Gefühl der Vorfreude einer Person, die an der Schwelle neuer und wichtiger Entdeckungen stand. Dass er dieses Gefühl in seinem hohen Alter lebendig erhalten konnte, ist für diesen Theologen charakteristisch, der Interviews veröffentlichte von der Dicke eines Buches etwa mit dem Titel „Gott ist täglich neu“. Krankheit und Tod verhinderten, dass Schillebeeckx sein scharf kritisiertes Buch über Rituale und die Sakramente zu Ende schreiben konnte.

Krankheit und Tod bleiben, wie Schillebeeckx selbst gesagt hat, „eine Kontrasterfahrung“, eine Erfahrung, die erklärt, dass die Wirklichkeit, die in den biblischen Texten versprochen wird und das erhoffte Reich Gottes der christlichen Tradition, vorweg genommen werden kann, aber noch nicht volle Realität geworden ist.

Schillebeeckx´ Theologie studiert man intensiv an vielen Orten der Welt im Hinblick auf die Erneuerung des Glaubens und der Kirche in Bezug zur heutigen Welt. Das wird auch nach seinem Tod unzweifelhaft so bleiben. An der Theologischen Fakultät von Radboud hat man einen Lehrstuhl für „Theologie und Kultur“ eingerichtet. Noch ist niemand Inhaber des Lehrstuhls, man ist auf der Suche nach einem neuen Inhaber. Die Edward Schillebeeckx Stifung sammelt, organisiert und erhält sein Werk und versucht, es interessierten Gruppen zugängig zu machen. Vor allem aber sind viele Personen, die die niederländische Theologie praktizieren, tatsächlich Teilhaber von Schillebeeckx Vermächtnis, inmitten von allem, was sich in der Kirche, in der akademischen Welt und in der Theologie wandelt, die Kombination von Offenheit und Sensibilität gegenüber Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft, auf der er seine theologische Reflexion gründete. Der Focus auf das ewige Mysterium als Quelle und Ziel der Realität, die die christliche Tradition „Gott“ nennt, die Schillebeeckx verteidigt, bleibt im Hintergrund ihrer Arbeit.

Aus: Edward Schillebeeckx Stiftung
Prof. Dr. Erik Borgman, theologischer Berater


© imprimatur April 2010
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